Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 03.09.2010

OVG Berlin-Brandenburg: aufschiebende wirkung, aufenthaltserlaubnis, ausstellung, herausgabe, aussetzung, duldung, abschiebung, pass, hauptsache, verwahrung

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Gericht:
Oberverwaltungsgericht
Berlin-Brandenburg 2.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
OVG 2 S 76.10
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 80 Abs 5 VwGO, § 123 VwGO,
§ 48 AufenthG, § 50 Abs 6
AufenthG, § 51 Abs 1 Nr 6
AufenthG
Einstweiliger Rechtsschutz gegen Versagung der Verlängerung
der Aufenthaltserlaubnis
Tenor
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 3. September 2010 wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid des
Antragsgegners vom 5. Juli 2010 wird angeordnet.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge tragen die Antragstellerin zu 2/3 und der
Antragsgegner zu 1/3.
Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird für die erste Rechtsstufe auf 7.500 EUR und
für die zweite Rechtsstufe auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Das Beschwerdevorbringen, das nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO den Umfang der
Überprüfung durch das Oberverwaltungsgericht bestimmt, rechtfertigt eine teilweise
Änderung des erstinstanzlichen Beschlusses.
1. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragstellerin, die aufschiebende Wirkung
der Klage VG 10 K 258.10 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 5. Juli 2010
anzuordnen, zu Unrecht mangels Rechtsschutzbedürfnisses abgelehnt. Nach
summarischer Prüfung dürfte die Antragstellerin über eine sicherungsfähige
Rechtsposition verfügen, weil sie erst durch den o.a. Bescheid, mit dem die rechtzeitig
beantragte Verlängerung der ihr letztmalig am 4. Dezember 2006 bis zum 3. Dezember
2009 ehebedingt erteilten Aufenthaltserlaubnis abgelehnt worden ist, vollziehbar
ausreisepflichtig sein dürfte. Es spricht Überwiegendes dafür, dass die
Aufenthaltserlaubnis der Antragstellerin nicht gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG
erloschen ist. Gemessen an den im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu stellenden
Anforderungen hat die Antragstellerin im Beschwerdeverfahren hinreichend dargelegt
und glaubhaft gemacht, dass die einzelnen aus verschiedenen Anlässen
unternommenen, mehrwöchigen Auslandsreisen der Antragstellerin jeweils keine
Ausreise aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde im Sinne von § 51
Abs. 1 Nr. 6 AufenthG darstellen dürften. Dies gilt mit Blick auf die maßgeblichen
Gesamtumstände des vorliegenden Falles (vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 30. April 2009
- 1 C 6/08 -, BVerwGE 134, 27) - wie sie sich aus dem Beschwerdevorbringen ergeben -
auch für die Reisen der Antragstellerin in ihr Heimatland. Es wird Aufgabe des
Hauptsacheverfahrens sein, die Einzelheiten näher aufzuklären. Eine pauschale Addition
von Aufenthaltszeiten außerhalb des Bundesgebietes in einem vom Antragsgegner
bestimmten Zeitraum entspricht nicht der gebotenen Subsumtion unter die
Tatbestandsvoraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG unter Berücksichtigung der
hierfür von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien. Die Erfolgsaussichten der Klage
stellen sich bei summarischer Prüfung dennoch als offen dar, weil der Antragsgegner
darüber hinaus nicht geprüft hat, ob die Voraussetzungen für die begehrte Verlängerung
der Aufenthaltserlaubnis vorliegen. Mangels bisher nicht ermittelter, belastbarer
Tatsachen ist eine solche Prüfung auf der Grundlage des Akteninhalts nicht möglich, eine
dahin gehende Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts sprengt den
Rahmen des hiesigen vorläufigen Rechtsschutzverfahrens.
Angesichts der offenen Erfolgsaussichten der Klage orientiert sich die Entscheidung
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Angesichts der offenen Erfolgsaussichten der Klage orientiert sich die Entscheidung
maßgeblich an der nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden Abwägung der auf beiden
Seiten betroffenen Interessen. Dabei sind die Folgen, die eintreten, wenn die Gewährung
des vorläufigen Rechtsschutzes versagt würde, das Verfahren in der Hauptsache
hingegen Erfolg hätte, den Auswirkungen gegenüberzustellen, die entstünden, wenn die
aufschiebende Wirkung wiederhergestellt bzw. angeordnet würde, der Rechtsbehelf in der
Hauptsache aber keinen Erfolg hätte. Diese Folgenabwägung geht zu Gunsten der
Antragstellerin aus. Ihr Interesse an einem vorübergehenden Verbleib im Bundesgebiet
wiegt schwerer als das öffentliche Interesse an einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung,
da mit dem angefochtenen Bescheid in ihr seit mehreren Jahren bestehendes
Aufenthaltsrecht eingegriffen wird und dieser auf einer nicht hinreichend belastbaren
Tatsachengrundlage beruht. Hinzu kommt, dass mit einer Aufenthaltsbeendigung eine
Trennung der Antragstellerin von ihren im Bundesgebiet lebenden erwachsenen
Töchtern und ihrem Enkelsohn auf ungewisse Zeit einhergeht.
2. Ohne Erfolg bleibt die Beschwerde hingegen, soweit die Antragstellerin mit ihr begehrt,
den Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, ihren ukrainischen
Pass herauszugeben. Zutreffend sieht das Verwaltungsgericht § 50 Abs. 6 AufenthG als
einschlägige Rechtsgrundlage für die Verwahrung des Passes an, da § 48 Abs. 1
AufenthG die ausweisrechtlichen Pflichten eines Ausländers regelt. Nach der
gesetzlichen Regelung des § 50 Abs. 6 AufenthG ist ein sogenanntes intendiertes
Ermessen vorgesehen („soll"), d.h. die Ausländerbehörde muss den Pass in der Regel in
Verwahrung nehmen und kann bzw. muss nur in Ausnahmefällen dem Ausländer den
Pass überlassen (vgl. OVG Mecklenb.-Vorpommern, Beschluss vom 16. Juni 2010 - 2 M
101/10 -, juris; Bay. VGH, Beschluss vom 29. September 2010 - 10 C 10.2413 -, juris).
Einzige Voraussetzung der Inverwahrnahme ist das Bestehen der Ausreisepflicht; auf
deren Vollziehbarkeit kommt es entgegen der Ansicht der Antragstellerin nicht an (vgl.
OVG Mecklenb.-Vorpommern, a.a.O.). Dass in ihrem Fall die Annahme eines
Ausnahmefalles rechtfertigende Umstände gegeben seien, legt sie nicht dar. Ebenso
wenig ist die von der Antragstellerin geltend gemachte Verfassungswidrigkeit der §§ 50
Abs. 6, 84 Abs. 2 AufenthG und ihre damit verbundene Forderung nach einer Vorlage
gemäß Art. 100 Abs. 1 GG in einer den Anforderungen an eine Beschwerdebegründung
genügenden Weise dargetan.
Soweit die Antragstellerin mit ihrem Beschwerdeantrag zu 5. (Ausstellung eines
Passersatzes) ihren erstinstanzlich gestellten Antrag zu 4. aufrechterhält, genügt sie
bereits nicht den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO, da sie sich
nicht zu den vom Verwaltungsgericht für die Ablehnung angeführten Erwägungen
verhält. Über den Beschwerdeantrag zu 6. (Ausstellung einer Duldungsbescheinigung)
war nicht zu entscheiden, da er einen unselbständigen Annex zu dem unter 3. gestellten
Hilfsantrag (vorübergehende Aussetzung der Abschiebung) darstellt, der wegen der
Stattgabe des Hauptantrags ebenso keiner Entscheidung bedurfte wie der Hilfsantrag zu
2. (Feststellung, dass die Aufenthaltserlaubnis nicht erloschen ist).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die aus dem Tenor
ersichtliche verhältnismäßige Teilung der Kosten war geboten, da die Antragstellerin
lediglich mit ihrem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage
obsiegt, mit ihren Anträgen auf Herausgabe ihres ukrainischen Passes und Erteilung
einer Duldung, denen jeweils aus den im Rahmen der Streitwertbemessung
darzustellenden Gründen selbständige Bedeutung zukommt, jedoch unterliegt.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 39 Abs. 1, 45 Abs. 1 Satz 2, 47 Abs. 1, 53 Abs. 3
Nr. 1 und 2, 52 Abs. 2, 63 Abs. 3 Satz 1 GKG.
Das Verwaltungsgericht hat den Verfahrenswert für die von der Antragstellerin
erstinstanzlich teils unbedingt, teils hilfsweise gestellten 5 Anträge zu Unrecht auf 2.500
Euro festgesetzt. Bei der Festsetzung des Streitwerts in ausländerrechtlichen
Streitigkeiten orientiert sich der Senat an den Empfehlungen des Streitwertkatalogs für
die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Fassung 7/2004, NVwZ 2004, 1327). Die auf die
Erteilung eines Aufenthaltstitels und die Erteilung eines Passes/Passersatzes gerichteten
Anträge sind jeweils mit dem Auffangwert in Höhe von 5.000 Euro (§ 52 Abs. 2 GKG, vgl.
Ziffer 8.1 und 8.4 des Streitwertkatalogs) zu bemessen. Das Gleiche gilt nach ständiger
Rechtsprechung des Senats für ein auf die Erteilung einer Duldung gerichtetes
Verfahren.
Zwar hat die Antragstellerin ihren auf Duldung gerichteten Antrag (Antrag zu 2.) lediglich
hilfsweise gestellt, ein hilfsweise geltend gemachter Anspruch ist jedoch mit dem
Hauptanspruch zusammenzurechnen, wenn - wie erstinstanzlich geschehen - eine
Entscheidung über ihn ergeht und die Ansprüche nicht denselben Gegenstand betreffen
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Entscheidung über ihn ergeht und die Ansprüche nicht denselben Gegenstand betreffen
(§ 45 Abs. 1 Sätze 2 und 3 GKG). Letzteres ist hier der Fall, da die Feststellung von
Abschiebungshindernissen einem anderen Prüfprogramm unterliegt als der geltend
gemachte Anspruch auf Verlängerung einer zuvor erteilten Aufenthaltserlaubnis (Antrag
zu 1.) und beide Ansprüche nicht auf dasselbe Interesse gerichtet sind (vgl. OVG Berlin,
Beschluss vom 10. November 2004 - OVG 3 L 41.02 -, m.w.N.).
Darüber hinaus hat die Antragstellerin im Wege der objektiven Antragshäufung eine
Mehrheit von Streitgegenständen geltend gemacht, indem sie neben ihrem Antrag auf
Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage (Antrag zu 1.) die Herausgabe ihres
Passes (Antrag zu 3.) beantragt hat. Beide Streitgegenstände sind gemäß § 39 Abs. 1
GKG zusammenzurechnen, weil es sich bei § 50 Abs. 6 AufenthG um eine außerhalb des
vierten Kapitels des Aufenthaltsgesetzes stehende ordnungsrechtliche Spezialvorschrift
zu § 48 AufenthG handelt mit der Folge, dass die Inverwahrnahme des Nationalpasses
im Verhältnis zur Verlängerung eines Aufenthaltstitels einen eigenen Streitgegenstand
darstellt (vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 29. März 2007 - 24 C 07.164 -, juris). Der für den
Fall der Ablehnung des Herausgabeantrags (Antrag zu 3.) hilfsweise gestellte Antrag auf
Ausstellung eines Passersatzes (Antrag zu 4.) ist nicht gesondert in Ansatz zu bringen.
Zwar hat das Verwaltungsgericht über ihn entschieden, der auf § 48 Abs. 2 AufenthG
i.V.m. § 55 AufenthV gestützte Antrag (richtig: auf Ausweisersatz) hat jedoch vorliegend
gegenüber dem Begehren auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sowie Herausgabe
des eigenen Nationalpasses kein eigenständiges Gewicht und weist inhaltlich/sachlich
keine eigenständige Problematik auf (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 8. Juli 2008 -
13 S 994/08 -, juris).
Die beantragte Erteilung einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG (Antrag
zu 5.) wirkt sich nicht streitwerterhöhend aus, da sie als Annex zum Antrag auf
Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage zu betrachten ist. Der sich nach den
vorstehenden Ausführungen insgesamt auf 15.000 Euro belaufende Streitwert ist nach
ständiger Rechtsprechung für das vorliegende vorläufige Rechtsschutzverfahren zu
halbieren und gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG von Amts wegen auf 7.500 Euro zu ändern.
Für das Beschwerdeverfahren bemisst sich der Verfahrenswert auf 5.000 Euro. Dies
ergibt sich in Anwendung der für das erstinstanzliche Verfahren dargestellten
Grundsätze aus folgenden Erwägungen: Die Anträge auf Anordnung der aufschiebenden
Wirkung der Klage (Beschwerdeantrag zu 1.) und auf Herausgabe des ukrainischen
Reisepasses (Beschwerdeantrag zu 4.) sind mit jeweils 2.500 Euro anzusetzen. Die
hilfsweise gestellten Anträge auf Feststellung, dass die 2006 erteilte
Aufenthaltserlaubnis nicht erloschen ist (Beschwerdeantrag zu 2.), sowie auf
vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Beschwerdeantrag zu 3.) bedurften
keiner Entscheidung. Der ebenfalls hilfsweise beantragten Ausstellung eines
Passersatzes (Beschwerdeantrag zu 5.) kommt – wie bereits ausgeführt wurde – im
Verhältnis zum Beschwerdeantrag zu 4. keine eigenständige Bedeutung zu. Das auf die
Ausstellung einer Duldungsbescheinigung gerichtete Begehren (Beschwerdeantrag zu
6.) ist als Annex zum Hilfsantrag auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung
(Beschwerdeantrag zu 3.) zu betrachten.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66
Abs. 3 Satz 3 GKG).
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