Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 01.03.2011

OVG Berlin-Brandenburg: persönliche anhörung, dienstleistungsfreiheit, einreise, hauptsache, passiven, wahrscheinlichkeit, begriff, gerichtsverhandlung, visum, grundrecht

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Gericht:
Oberverwaltungsgericht
Berlin-Brandenburg 11.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
OVG 11 S 19.11
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
Art 41 Abs 1 EWGAbkTURZProt
Vorwegnahme der Hauptsache; ungeklärte schwierige
Rechtsfrage; Feststellung der Berechtigung zur visumsfreien
Einreise; Standstill-Klausel; passive Dienstleistungsfreiheit;
Gerichtsverhandlung keine "Dienstleistung"; Visum zur
Teilnahme an mündlicher Verhandlung; keine Anordnung des
persönlichen Erscheinens; (keine) schweren und un-zumutbaren
Nachteile
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin
vom 1. März 2011 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Beschwerde trägt der Antragsteller.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger und Kläger eines vor dem
Verwaltungsgericht Berlin anhängigen, den Familiennachzug zu seiner in Deutschland
lebenden Ehefrau betreffenden Klageverfahrens, in dem für den 11. März 2011 Termin
zur mündlichen Verhandlung anberaumt ist.
Seine im Hinblick auf eine angestrebte persönliche Teilnahme an diesem Termin
gestellten Eilanträge,
festzustellen, dass er berechtigt ist, für einen Aufenthaltszeitraum von bis zu drei
Monaten visumsfrei zum Dienstleistungsempfang in die Bundesrepublik Deutschland
einzureisen,
hilfsweise,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm
ein Visum zum Zweck der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung am 11. März 2011
vor dem Verwaltungsgerichts Berlin im Verfahren VG 9 K 324.10 V zu erteilen,
hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 1. März 2011 abgelehnt. Die
Voraussetzungen für die mit dem Hauptantrag der Sache nach begehrte Vorwegnahme
der Hauptsache lägen nicht vor. Bereits der Anordnungsanspruch sei nicht mit der
gebotenen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht worden, da die Frage, ob auch
solchen Antragstellern, die sich auf die Wahrnehmung der passiven
Dienstleistungsfreiheit berufen, ein Recht auf visumsfreie Einreise in das Bundesgebiet
zustehe, angesichts der Schwierigkeit der damit zusammenhängenden Rechtsfragen nur
in einem Hauptsacheverfahren geklärt werden könne. Zudem drohten dem Antragsteller
auch ohne Teilnahme an dem angesetzten Verhandlungstermin keine schweren und
unzumutbaren Nachteile. Wegen des fehlenden Anordnungsgrundes könne auch der
Hilfsantrag keinen Erfolg haben.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers, mit der er seine
erstinstanzlichen Begehren weiter verfolgt.
II.
Die zulässige Beschwerde hat auf der Grundlage des nach § 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6
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Die zulässige Beschwerde hat auf der Grundlage des nach § 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6
der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) allein maßgeblichen Beschwerdevortrages in
der Sache keinen Erfolg.
Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass der Anspruch auf Feststellung der
Visafreiheit der Einreise nicht mit der für eine Vorwegnahme der Hauptsache
erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht sei, ist auch auf der
Grundlage des Beschwerdevorbringens nicht zu beanstanden. Denn die Frage, ob einem
Antragsteller, der sich auf die Wahrnehmung seiner passiven Dienstleistungsfreiheit
beruft, im Anschluss an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 41
Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziationsabkommen EWG/Türkei (Urteil vom 19.
Februar 2009 - Rs. C-228/06 [Soysal] -) ein Recht auf visumsfreie Einreise in das
Bundesgebiet zusteht, ist zwar von einzelnen erstinstanzlichen Entscheidungen im Sinne
des Antragstellers entschieden worden, bisher aber weder in der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs noch in der des Bundesverwaltungsgerichts oder der des
Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (vgl. nur die vom Verwaltungsgericht
bereits angeführten Beschlüsse des 12. Senats v. 14. Juli 2009 - 12 S 37.09 - und v. 26.
August 2009 - 12 S 69.09 -) geklärt. Entgegen der Auffassung des Antragstellers ergibt
sich weder aus der - einen Fall der aktiven Dienstleistungsfreiheit betreffenden -
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19. Februar 2009 (C-228/06, zit. nach
juris) noch aus den den Begriff der Dienstleistungsfreiheit im Sinne der Art. 49 ff. EGV -
und damit im Sinne des europäischen Binnenrechts - interpretierenden Entscheidungen
des Gerichtshofs, dass der Begriff der Dienstleistungsfreiheit im Sinne des Art. 41 Abs. 1
des Zusatzprotokolls, d.h. eines völkerrechtlichen Vertrages, auch die passive
Dienstleistungsfreiheit umfasst. Angesichts der Schwierigkeit der damit
zusammenhängenden Rechtsfragen, die sich auch an den durchaus kontroversen
Auffassungen im Schrifttum zeigt (vgl. nur die diesbezüglichen Nachweise im Beschluss
des 12. Senats vom 6. Oktober 2009 - 12 M 25.09 -), ist das Verwaltungsgericht zu
Recht davon ausgegangen, dass diese nur in einem Hauptsacheverfahren, nicht aber im
Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes geklärt werden können. Aus der - vom
Antragsteller für seine gegenteilige Auffassung in Bezug genommenen - Entscheidung
des 12. Senats vom 6. Oktober 2009 (OVG 12 M 25.09) ergibt sich insoweit nichts
anderes.
Im Übrigen stellt die Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung entgegen der Auffassung
des Antragstellers keine Inanspruchnahme einer Dienstleistung dar (vgl. Art. 62 i.V.m.
Art 51 Satz 1 AEUV = Art. 45 Satz 1, Art. 55 EGV = Art. 55 Satz 1, Art. 66 EWGV). Der
Inanspruchnahme welcher sonstiger Dienstleistungen seine Einreise gelten soll, trägt er
selbst nicht vor.
Der weitere Einwand des Antragstellers, dass ihm durch eine Nichtteilnahme an der
mündlichen Verhandlung entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts
unzumutbare und schwere Nachteile drohten, vermag weder seinem im Hauptantrag
verfolgten Begehren noch dem Hilfsantrag zum Erfolg zu verhelfen. Zwar ist ihm
zuzugeben, dass dann, wenn die tatrichterliche Würdigung des individuellen Vorbringens
eines Rechtsmittelführers wesentlich von seiner Glaubwürdigkeit abhängt, hierüber in der
Regel nur nach einer persönlichen Anhörung entschieden werden kann (BVerwG, Urteil v.
9. Dezember 2010 - 10 C 13.09 -, zit. nach juris, Rn 19). Das Vorliegen der dafür
maßgeblichen Voraussetzungen ist indes von der zur Entscheidung über die Klage
berufenen Kammer des Verwaltungsgerichts auf der Grundlage des Klagevorbringens zu
prüfen und ggf. mittels Anordnung des persönlichen Erscheinens zum Termin
umzusetzen. Dies ist hier nicht geschehen. Hält das zuständige Gericht eine persönliche
Anhörung des auch in diesem Verfahren anwaltlich vertretenen Antragstellers nicht für
entscheidungserheblich und sieht es deshalb von einer Anordnung des persönlichen
Erscheinens ab, so können ihm durch die persönliche Nichtteilnahme an dem
anberaumten Termin auch keine unzumutbaren und schweren Nachteile entstehen. Für
den Fall, dass die Notwendigkeit einer persönlichen Anhörung des Antragstellers unter
dem Eindruck des Ergebnisses der Anhörung seiner Ehefrau neu zu beurteilen sein
sollte, hat das Verwaltungsgericht im hier angegriffenen Beschluss bereits zutreffend
darauf hingewiesen, dass dem dann in einem weiteren Termin Rechnung getragen
werden kann und dass die Rechte des Antragstellers im Übrigen dadurch hinreichend
gewahrt würden, dass seine Prozessbevollmächtigte bei sich im Verlauf der mündlichen
Verhandlung etwa ergebendem weiteren, nur nach Rücksprache mit ihm
auszuräumendem Klärungsbedarf auf eine Vertagung hinwirken kann. Eine dadurch ggf.
eintretende, absehbar kurze Verzögerung des Klageverfahrens würde jedenfalls keinen
unzumutbaren und schweren Nachteil begründen, der im hiesigen Verfahren eine
Vorwegnahme der Hauptsache gebieten könnte.
Die mit der Beschwerde weiter pauschal behauptete Verkennung der „essentiellen
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Die mit der Beschwerde weiter pauschal behauptete Verkennung der „essentiellen
Bedeutung des subjektiven öffentlichen Rechts, an einer mündlichen Verhandlung
teilzunehmen, auch im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG“ durch das Verwaltungsgericht ist
schon nicht hinreichend dargelegt, denn das Prinzip der Mündlichkeit der Verhandlung ist
kein Verfassungsgrundsatz. Weder das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art.
19 Abs. 4 GG noch der Grundsatz des rechtlichen Gehörs in Art. 103 Abs. 1 GG
verlangen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung (vgl. nur Ortloff/Riese, in:
Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, 20. Erglfg. 2010, § 101 Rn 3 m.w.N.).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht
auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66
Abs. 3 Satz 3 GKG).
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