Urteil des OLG Stuttgart vom 16.12.2014

wohnung, einspruch, zustellung, strafbefehl

OLG Stuttgart Beschluß vom 16.12.2014, 5 Ss 732/14
Wirksamkeit einer Ersatzzustellung: Frauenhaus als Wohnung
Leitsätze
Während eines mehrmonatigen ununterbrochenen Aufenthalts im Frauenhaus wohnt
eine Angeklagte dort und nicht mehr in ihrer vorherigen Wohnung.
Tenor
1. Auf die Revision der Angeklagten werden
a) das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 24. Juli 2014
b) das Urteil des Amtsgerichts Backnang vom 12. September 2013
a u f g e h o b e n.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Berufungs- und des Revisionsverfahren, an eine andere Strafrichterabteilung beim
Amtsgericht Backnang
z u r ü c k v e r w i e s e n.
Gründe
I.
1 Durch Strafbefehl des Amtsgerichts Backnang vom 31. Januar 2013 wurde gegen
die Angeklagte wegen Sachbeschädigung eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu
je 30 EUR festgesetzt. Auf den rechtzeitigen Einspruch der Angeklagten bestimmte
das Amtsgericht zuletzt am 5. Juni 2013 Termin zur Hauptverhandlung auf den 12.
September 2013. Zu diesem Termin erschien die Angeklagte nicht, weshalb das
Amtsgericht ihren Einspruch ohne Verhandlung zur Sache verwarf (§§ 412 i.V.m.
329 Abs. 1 StPO). Die von der Angeklagten rechtzeitig eingelegte Berufung gegen
das Urteil verwarf das Landgericht Stuttgart durch das angefochtene Urteil vom 24.
Juli 2014 als unbegründet. Mit ihrer rechtzeitig gegen das Urteil des Landgerichts
Stuttgart eingelegten und begründeten Revision rügt die Angeklagte, wie sich aus
der Auslegung der Revisionsbegründung ergibt, dass das Landgericht ihr
Ausbleiben in der Hauptverhandlung erster Instanz zu Unrecht als nicht genügend
entschuldigt angesehen habe. Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart beantragt,
die Revision der Angeklagten als unbegründet zu verwerfen.
II.
2 Die Revision der Angeklagten hat mit der erhobenen Verfahrensrüge, das
Amtsgericht habe ihren Einspruch gegen den ergangenen Strafbefehl wegen ihres
Ausbleibens in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Backnang nicht
verwerfen dürfen, Erfolg. Die Urteile des Landgerichts Stuttgart vom 24. Juli 2014
und des Amtsgerichts Backnang vom 12. September 2013 sind deshalb
aufzuheben. Der Senat verweist die Sache an das Amtsgericht Backnang zurück,
das in der Sache erneut Termin zur Hauptverhandlung zu bestimmen haben wird.
3 1. Bei der im Revisionsverfahren erhobenen Rüge, das Amtsgericht habe mit
seinem Urteil gegen §§ 412 i.V.m. 329 Abs. 1 StPO verstoßen, handelt es sich nach
der zutreffenden herrschenden Auffassung (OLG Nürnberg, NStZ-RR 2010, 286f.;
OLG Köln, VRs 98, 138; Maur in Karlsruher Kommentar, StPO, 7. Auflage § 412,
Rn. 22f.) um eine Verfahrensrüge, die damit den Vortragsanforderungen des § 344
Abs. 2 Satz 2 StPO genügen muss. Hierfür reicht es aber, wenn das Tatrichterurteil
Entschuldigungsgründe erörtert, aus, dass der Beschwerdeführer deren fehlerhafte
Bewertung behauptet (OLG Nürnberg a.a.O.). Diesen Anforderungen wird die von
der Verteidigung vorgelegte Revisionsbegründung noch gerecht, so dass die
Verfahrensrüge zulässig erhoben ist.
4 2. Anders als im Fall des Nichterscheinens eines Angeklagten zu einer
Berufungshauptverhandlung im Sinne von § 329 StPO können im Fall einer
Einspruchsverwerfung durch das Amtsgericht im Berufungsverfahren neue
Tatsachen und neue Entschuldigungsgründe, die das Amtsgericht in seinem
Verwerfungsurteil nicht behandelt hat, vorgebracht werden (Maur in Karlsruher
Kommentar, a.a.O., § 412, Rn. 18). Denn nach § 327 StPO unterliegt das Urteil
erster Instanz, soweit es angefochten ist, in vollem Umfang der Prüfung durch das
Berufungsgericht. Deshalb unterliegen die vom Landgericht hierzu getroffenen
Feststellungen der Prüfung durch das Revisionsgericht.
5 3. Nach §§ 412 Satz 1 i.V.m. 329 Abs. 1 StPO hat das Gericht den Einspruch des
Angeklagten gegen einen Strafbefehl ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen,
wenn bei Beginn einer Hauptverhandlung der Angeklagte weder erschienen noch
durch einen Verteidiger vertreten und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt
ist. Dies setzt aber voraus, dass der Angeklagte gemäß §§ 411 Abs. 1 Satz 2 i.V.m.
216, 217 Abs. 1 StPO ordnungsgemäß zum Hauptverhandlungstermin geladen war
(Maur in Karlsruher Kommentar, a.a.O. § 412, Rn. 5). Denn ohne Ladung braucht
ein Angeklagter nicht vor Gericht zu erscheinen. § 217 Abs. 1 StPO ordnet an, dass
die Ladung dem Angeklagten zuzustellen ist. Im vorliegenden Fall fehlt es an einer
ordnungsgemäßen Zustellung der Ladung. Zu diesem Punkt hat das Landgericht
im angefochtenen Urteil vom 24. Juli 2014 im Wesentlichen folgende
Feststellungen getroffen:
6 „Die Angeklagte wohnte bis zum 4. April 2013 in der … in … . An diesem Tag zog
sie nicht nur kurzfristig wegen ihr dort von ihrem Lebensgefährten verabreichter
Schläge ins Frauenhaus in … . Die Ladung zum Hauptverhandlungstermin am 12.
September 2013 wurde ihr durch Einlegen der Ladung in der Briefkasten der
Wohnung in der … in … übermittelt, weil sie ihren Umzug ins Frauenhaus dem
Amtsgericht nicht mitgeteilt und auch keinen Nachsendeantrag bei der Post gestellt
hatte und weiter der Postbote in der Wohnung niemanden angetroffen hatte. Im
Dezember zog sie vom Frauenhaus aus nicht wieder in die … zurück sondern in
eine neue Wohnung.“
7 Nach §§ 37 Abs. 1 StPO i.V.m. 180 Satz 1, 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO kann zwar die
Ladung in einen zur Wohnung des Zustellempfängers gehörenden Briefkasten
eingelegt werden, wenn diese Person in der Wohnung nicht angetroffen wird und
auch keine Mitbewohner im Sinne von § 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO anwesend sind, die
Wirksamkeit der Zustellung setzt aber voraus, dass die Angeklagte zum
Zustellzeitpunkt noch tatsächlich unter der Zustelladresse wohnhaft war (vgl. OLG
Frankfurt, NStZ-RR 2003, 174f. m.w.N.). Das war hier nicht mehr der Fall. Als
Wohnung einer Person sind nämlich die Räume anzusehen, die von ihr zum
dauernden Aufenthalt bestimmt sind und gemeinhin als Schlafstätte benutzt
werden, wenn sich dort der Lebensmittelpunkt der Person befindet (Maul in
Karlsruher Kommentar, a.a.O., § 37, Rn. 12). Die Angeklagte hatte jedoch ihren
Lebensmittelpunkt am 4. April 2013 wegen der ihr in der Wohnung verabreichten
Schläge ihres Lebensgefährten ins Frauenhaus verlagert. Damit wohnte sie zum
Zeitpunkt der Zustellung der Ladung am 7. Juni 2013 dort und nicht mehr unter der
Zustellanschrift. Für ihren Willen, die frühere Wohnung endgültig aufzugeben,
spricht auch der weitere Verlauf. Vom Frauenhaus aus zog sie nämlich im
Dezember 2013 nicht wieder in die frühere Wohnung zurück, sondern in eine neue
Wohnung. Es ist mehrfach in der Rechtsprechung entschieden (OLG Frankfurt
a.a.O.; OLG Karlsruhe NJW 1997, 3183; OLG Hamm NStZ 1982, 521), dass
derjenige, der sich mehrere Monate lang ununterbrochen zu Therapiezwecken in
einer Behandlungseinrichtung und nicht in seiner Wohnung aufhält, in dieser Zeit in
der Einrichtung und nicht mehr in seiner Wohnung wohnt. Nach der Auffassung des
Senats gilt für einen mehrere Monate langen ununterbrochenen Aufenthalt in einem
Frauenhaus nichts anderes. Wegen der der Zustellempfängerin in der bisherigen
Wohnung drohenden Gefahren für Leib und Leben stellt der Auszug ins
Frauenhaus vielmehr typischerweise sogar - anders als im Fall eines
Therapieaufenthalts - einen endgültigen Bruch mit der alten Wohnung dar. Damit
war die Zustellung der Ladung zum Hauptverhandlungstermin am 12. September
2013 gemäß §§ 180 i.V.m. 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO unwirksam. Die Voraussetzungen
für die Verwerfung des Einspruchs der Angeklagten gemäß §§ 412 i.V.m. 329 Abs.
1 StPO durch das Amtsgericht waren aus diesem Grund nicht gegeben. Die Urteile
des Landgerichts Stuttgart vom 24. Juli 2014 und des Amtsgerichts Backnang vom
12. September 2013 sind deshalb aufzuheben (vgl. BayObLG NStZ-RR 1999,
243f.). Die Sache bedarf der Neuterminierung durch das Amtsgericht Backnang, an
das der Senat die Sache zurückverweist.
8 Das Amtsgericht hat gemäß § 464 Abs. 2 StPO in seiner die Instanz
abschließenden Entscheidung auch über die Kosten des Berufungsverfahrens und
des Revisionsverfahrens zu entscheiden (vgl. Gieg in Karlsruher Kommentar,
a.a.O.,§ 464, Rn. 3).