Urteil des OLG Stuttgart vom 16.10.2015

anklageschrift, gerichtsstand, haftbefehl, strafverfahren

OLG Stuttgart Beschluß vom 16.10.2015, 4 Ws 338/15
Leitsätze
Der Gerichtsstand des Ergreifungsortes bezieht sich auf alle Taten, die vor dem
Ergreifen begangen wurden und bereits Gegenstand des durch Anklageerhebung bei
Gericht anhängigen Strafverfahrens sind, in dessen Verlauf sich der Angeschuldigte
stellt, auch wenn sie nicht Gegenstand des in diesem Verfahren ergangenen
Haftbefehls sind.
Der so begründete Gerichtsstand bleibt so lange gültig, bis das Strafverfahren, in
dessen Zuge der Angeschuldigte ergriffen wurde, erledigt ist. Auf die Beendigung der
gerichtlichen Anhängigkeit durch Anklagerücknahme vor Eröffnungsentscheidung
kommt es nicht an. Mit erneuter Anklageerhebung nach Rücknahme der Anklage
steht der Staatsanwaltschaft der nach wie vor begründete Gerichtsstand des
Ergreifungsortes zur Verfügung.
Tenor
Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Tübingen wird der Beschluss des
Landgerichts - 1. Große Strafkammer - Tübingen vom 31. August 2015
aufgehoben
und die Sache an das Landgericht - 1. Große Strafkammer - Tübingen
zurückverwiesen
.
Gründe
I.
1 Mit Anklageschrift vom 26. Februar 2009 erhob die Staatsanwaltschaft Tübingen
gegen die Angeschuldigten B und A sowie die weiteren vier Angeschuldigten C, D,
E und F Anklage zum Landgericht - 2. Große Strafkammer - Tübingen wegen des
Vorwurfs des gewerbsmäßigen Bandenbetruges, versuchten gewerbsmäßigen
Bandenbetruges und gemeinschaftlichen Betruges in wechselnder Beteiligung.
Den Angeschuldigten B und A wurden 18 Fälle des gewerbsmäßigen Betruges
(Ziff. 1-16, 18, 19) und zwei Fälle des versuchten gewerbsmäßigen Betruges (Ziff.
17 und 20) vorgeworfen.
2 Im Folgenden ließ das Landgericht die erhobene Anklage jeweils nur teilweise zu
und eröffnete nur insoweit das Hauptverfahren. Im Umfang der jeweiligen
Zulassung und Eröffnung erfolgten Verurteilungen aller Angeklagten wegen der
Taten Ziff. 18 und 19 durch Urteile vom 30. April 2009 (C und D), 20. Juli 2009 (B
und E), 10. August 2009 (F) und 21. Mai 2010 (A) sowie des Angeklagten F wegen
der Taten Ziff. 3, 10, 11, 14, 15 durch Urteil vom 12. Januar 2012 und des
Angeklagten B wegen der Tat Ziff. 1 und des Angeklagten E wegen der Taten Ziff.
2, 9, 15 durch Urteil vom 9. Februar 2012. Bzgl. der Tat 17 erfolgte eine
verfahrenseinstellende Entscheidung gem. § 154 Abs. 2 StPO. Im Übrigen erfolgte
noch keine Entscheidung über die Zulassung der Anklage und Eröffnung des
Hauptverfahrens.
3 Nachdem der Angeschuldigte B die gegen ihn im Urteil vom 20. Juli 2009
ausgesprochene Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten zur
Hälfte verbüßt hatte und nach am 31. Januar 2010 erfolgter Reststrafaussetzung
zur Bewährung auf freien Fuße kam, erließ das Landgericht am 4. Oktober 2010
gegen B wegen des dringenden Verdachts im Hinblick auf die Tat Ziff. 1 einen
Haftbefehl, was den Angeschuldigten dazu veranlasste, sich am 27. Oktober 2010
dem Landgericht Tübingen in den dortigen Räumlichkeiten selbst zu stellen,
woraufhin der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt wurde.
4 Am 7. Dezember 2012 regte der Vorsitzende der 2. Großen Strafkammer
gegenüber der Staatsanwaltschaft wegen der noch nicht eröffneten Anklageteile
die Rücknahme der Anklage an. Am 19. Dezember 2013 erhob die
Staatsanwaltschaft Tübingen Anklage gegen B und A wegen der Taten Ziff. 2 - 16
(B) bzw. 1 - 16 (A) unter gleichzeitiger Rücknahme der Anklage vom 26. Februar
2009 bzgl. derjenigen Anklagevorwürfe, bzgl. derer über die Eröffnung des
Hauptverfahrens noch nicht entschieden worden war.
5 Mit Beschluss vom 31. August 2015 hat das Landgericht - 1. Große Strafkammer -
Tübingen sich für örtlich unzuständig erklärt.
6 Hiergegen hat die Staatsanwaltschaft Tübingen am 9. September 2015
Beschwerde eingelegt.
II.
7 Die Beschwerde ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. Das Landgericht - 1.
Große Strafkammer - Tübingen ist im dort aufgrund der Anklage vom 19.
Dezember 2013 anhängig gewordenen Verfahren wegen Straftaten des B als
Gericht des Ergreifungsortes (§ 9 StPO) und wegen Straftaten des A als Gericht
des Zusammenhangs (§ 13 Abs. 1 StPO) örtlich zuständig.
1.
8 Zu Recht hat die 1. Große Strafkammer im angefochtenen Beschluss zunächst
darauf abgestellt, dass sich für die mit bislang nicht zugelassener Anklage vom 19.
Dezember 2013 angeklagten Straftaten der Angeschuldigten B und A keine
Zuständigkeit des Landgerichts Tübingen aufgrund eines Wohnsitzes der
Angeschuldigten im Landgerichtsbezirk ergibt. Auch liegt bzgl. dieser Straftaten
keine tatörtliche Zuständigkeit beim Landgericht Tübingen. Wegen der Straftaten
Ziff. 18 und 19 der Anklageschrift vom 26. Februar 2009 ist das Verfahren bereits
rechtskräftig abgeschlossen. Die ursprünglich gemäß § 13 Abs. 1 StPO über diese
Straftaten vermittelte örtliche Zuständigkeit des Landgericht Tübingen für die mit
diesen Straftaten im Zusammenhang (§ 3 StPO) stehenden weiteren Straftaten ist
damit vor Eröffnung des Hauptverfahren entfallen (Schmitt in Meyer-
Goßner/Schmitt, StPO, 58. Auflage, § 13 Rn. 1; OLG Zweibrücken, MDR 1979,
517; BGH NStZ 2004, 100).
2.
9 Das Landgericht Tübingen ist jedoch als Gericht des Ergreifungsortes des
Angeschuldigten B örtlich zuständig (§ 9 StPO).
a)
10 Der Angeschuldigte B hat sich am 27. Oktober 2010 dem Landgericht Tübingen
selbst gestellt. Die Selbstgestellung erfolgte, nachdem die mit der Anklageschrift
vom 26. Februar 2009 angeklagten Taten Ziff. 18 und 19 gegen ihn bereits mit
Urteil des Landgerichts Tübingen vom 20. Juli 2009 rechtskräftig abgeurteilt waren,
bzgl. der übrigen angeklagten Taten das Hauptverfahren noch nicht eröffnet war
und wegen der Tat Ziff. 1 der Anklageschrift vom 26. Februar 2009 das
Landgericht Tübingen am 4. Oktober 2010 einen Haftbefehl erlassen hatte.
11 Es ist anerkannt, dass auch eine Selbstgestellung ein „Ergreifen“ i.S.d. § 9 StPO
darstellt (Scheuten in Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Auflage, § 9 Rn. 2). Die
Ergreifung setzt nicht den Erlass eines Haftbefehls voraus und beschränkt sich
daher nicht auf eine in einem Haftbefehl genannte Tat (BGH, NJW 1999, 1412).
Sie bezieht sich auch auf Taten, die nicht Gegenstand eines Haftbefehls waren,
aber vor dem Ergreifen begangen wurden (BGH, NStZ-RR 2007, 114). Dies gilt
auch für eine in einem Haftbefehl noch nicht enthaltene Tat einer nachfolgenden
Anklage (BGH, aaO) und muss daher umso mehr gelten, wenn die
vorangegangenen Taten bereits Gegenstand des durch Anklageerhebung bei
Gericht anhängigen Strafverfahrens sind, in dessen Verlauf sich der
Angeschuldigte stellt. So liegt es hier. Die Ergreifung des Angeschuldigten B
erfolgte im zum Zeitpunkt seiner Selbstgestellung anhängigen Verfahren und
bezog sich daher auf alle ihm in diesem Verfahren zur Last gelegten Taten.
12 Insoweit fehl geht die Annahme der 1. Großen Strafkammer, die Ergreifung sei nur
im Hinblick auf die im Haftbefehl vom 4. Oktober 2010 aufgeführte Tat
(entsprechend Ziff. 1 der Anklageschrift vom 26. Februar 2009) erfolgt, weshalb die
Zuständigkeit des Ergreifungsortes nach rechtkräftiger Aburteilung des
Angeschuldigten B wegen dieser Tat durch Urteil vom 9. Februar 2012 erledigt sei
und deshalb weder originär noch über den Zusammengang gemäß § 13 Abs. 1
StPO eine örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Tübingen begründen könne.
13 Nur für Taten, die nach dem Ergreifen begangen - nicht: angeklagt - wurden,
begründet § 9 StPO keine örtliche Zuständigkeit mehr. Für solche Taten kann sich
im Falle einer Nachtragsanklage dann (nur) noch über den Zusammenhang
gemäß § 13 Abs. 1 StPO eine Zuständigkeit ergeben, wenn die Zuständigkeit des
Ergreifungsortes noch nicht erledigt ist (insoweit zutreffend: Erb in Leipziger
Kommentar zur StPO, 26. Auflage, § 9 Rn. 9).
b)
14 Die bzgl. des Angeschuldigten B begründete Zuständigkeit des Ergreifungsortes
des Landgerichts Tübingen gilt bis heute. Sie bleibt solange bestehen, wie das
Verfahren, wegen der Straftat(en), wegen der der Angeschuldigte ergriffen wurde,
noch nicht erledigt ist (Scheuten in Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Auflage, § 9
Rn. 2; Stöckel in KMR, 50. EL (Juni 2008), § 9 Rn. 6).
15 Eine Erledigung durch rechtskräftige, das Strafverfahren beendende
Entscheidungen liegt bzgl. des Angeschuldigten B in Gestalt der Urteile des
Landgerichts Tübingen vom 20. Juli 2009 und 9. Februar 2012 nur wegen der
Taten Ziff. 1, 18 und 19 der Anklageschrift vom 26. Februar 2009 vor. Wegen der
Taten Ziff. 2 bis 16 liegt - auch durch die Anklageerhebung vom 19. Dezember
2013 mit teilweiser Rücknahme der Anklage vom 26. Februar 2009 - noch keine
Erledigung vor.
16 Zwar ist das Landgericht zu Recht davon ausgegangen, dass es sich bei der
Anklageschrift vom 19. Dezember 2013 nicht nur um eine „korrigierende Fassung“
der Anklage vom 26. Februar 2009 handelt. Die gegenteilige Ansicht der
Staatsanwaltschaft wird ihrer tatsächlichen Prozesshandlung nicht gerecht. So hat
sie in ihrer Anklageschrift vom 19. Dezember 2013 ausdrücklich „die Anklage vom
26. Februar 2009 bzgl. derjenigen Anklagevorwürfe zurückgenommen, bzgl. derer
über die Eröffnung des Hauptverfahrens noch nicht entschieden wurde“. Eine von
ihr möglicherweise nur beabsichtigte Nachbesserung, wie sie im Vermerk des
staatsanwaltschaftlichen Sachbearbeiters vom 13. November 2013 gegenüber
dem Abteilungsleiter der Staatsanwaltschaft anklingt, ist damit tatsächlich nicht
erfolgt und wäre auch auf eine Anregung des Vorsitzenden des Landgerichts
schon deshalb nicht (mehr) zulässig, weil die Anklage vom 26. Februar 2009
bereits gemäß § 201 StPO mitgeteilt war (OLG Frankfurt, NStZ-RR 2003, 146; OLG
Nürnberg, NStZ-RR 2011, 251). Dementsprechend hatte der Vorsitzende mit
seiner Mitteilung an die Staatsanwaltschaft am 7. Dezember 2012 auch nicht
angeregt, die Anklage nachzubessern, sondern sie zurückzunehmen.
17 Mit der wirksamen Anklagerücknahme war das Verfahren der 2. Großen
Strafkammer des Landgerichts Tübingen zwar dort „erledigt“ in dem Sinne, dass
die Anklage dort nicht mehr anhängig war. Auf die Beendigung der gerichtlichen
Anhängigkeit kommt es aber nicht an. Vielmehr ist entscheidend, ob das
Strafverfahren insgesamt erledigt ist. Denn der Staatsanwaltschaft muss es
möglich sein, bis zum Abschluss des Strafverfahrens - etwa nach
Anklagerücknahme vor Eröffnung des Hauptverfahrens - von der ihr zustehenden
Wahlmöglichkeit der Gerichtsstände Gebrauch machen zu können.
18 Eine abschließende „erledigende“ Entscheidung des mit der Rücknahme der
Anklage wieder auf die Staatsanwaltschaft zurückfallenden Strafverfahrens liegt in
diesem Moment nicht vor. Der Staatsanwaltschaft oblag es, das Strafverfahren
nach Anklagerücknahme weiter zu betreiben. Hierzu stand ihr bei - vorliegend in
logischer Sekunde zugleich erfolgter - Neuerhebung der Anklage der
Gerichtsstand des Ergreifungsortes für die angeklagten Taten (Ziff. 2 bis 16) nach
wie vor originär zur Verfügung.
19 Insofern greifen auch die Bedenken des Landgerichts nicht durch, eine zu
weitgehende Auslegung von § 9 StPO würde dazu führen, dass pauschal für alle
vor dem Ergreifen begangener (und möglicherweise noch unbekannter) Taten ein
Gerichtsstand nach § 9 StPO begründet würde, nur weil der Beschuldigte
irgendwann einmal im Bezirk des Gerichts ergriffen worden ist. Wenn das
Strafverfahren gegen B wegen der Taten Ziff. 2 bis 16 durch eine abschließende
Entscheidung beendet ist, hat die im vorliegenden Strafverfahren eröffnete
Zuständigkeit des Ergreifungsortes - auch für (derzeit möglicherweise noch
unbekannte) Taten, die vor der Ergreifung begangen wurden - keinen Bestand
mehr.
c)
20 Die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Tübingen für die Straftaten des A
vermitteln sich gemäß § 13 Abs. 1 StPO über den Zusammenhang zu den
Straftaten des B.
2.
21 Die erneute Erhebung einer Anklage an das Landgericht Tübingen erscheint nicht
offenkundig ermessensmissbräuchlich.
22 Die Gerichtsstände der StPO stehen gleichberechtigt nebeneinander und bieten
der Staatsanwaltschaft die Wahl, an welches Gericht sie die Anklage erhebt.
Hierbei kommt der Staatsanwaltschaft eine Einschätzungsprärogative zu, die es ihr
erlaubt, sich für den von ihr als zweckmäßig erachteten Gerichtsstand zu
entscheiden. Das ausgewählte Gericht, bei dem ein Gerichtsstand begründet ist,
hat diese Entscheidung grundsätzlich hinzunehmen. Insbesondere obliegt es dem
Gericht nicht, die Zweckmäßigkeit zu prüfen. Nur ein offenkundiger
Ermessensmissbrauch, der die Wahl der Staatsanwaltschaft so weit von
sachlichen Erwägungen entfernt erscheinen lässt, dass das Gebot des
gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt ist, hat das Gericht nicht
mehr hinzunehmen (OLG Hamm, NStZ-RR 1999, 16; Schmitt in Meyer-
Goßner/Schmitt, StPO, 58. Auflage, § 13 Rn. 2).
23 Eine solchermaßen missbräuchliche Auswahl der Staatsanwaltschaft ist vorliegend
nicht gegeben. Zwar lag die Begründung der Zuständigkeit des Ergreifungsortes
bzgl. des Angeschuldigten B bei Anklageerhebung vom 19. Dezember 2013
bereits ca. drei Jahre und zwei Monate zurück. Beide Angeschuldigten befinden
sich nicht mehr am Ergreifungsort. Auch sind gegebenenfalls nach Eröffnung des
Hauptverfahrens eine - überschaubare - Anzahl von acht Zeugen in die
Hauptverhandlung aus Düsseldorf, Bergheim, Münster, Euskirchen und Rheinbach
zu laden. Andererseits stehen gegebenenfalls zwei ermittelnde Polizeibeamte aus
dem nicht fernen Reutlingen als Zeugen zur Verfügung. In Bezug auf den wohl in
Polen im - möglicherweise derzeit wegen Krankheit unterbrochenen - Strafvollzug
aufhältigen Angeschuldigten A ist gegebenenfalls ein Auslieferungsverfahren zu
betreiben, wozu es unerheblich erscheint, ob dieses von Tübingen oder den
übrigen möglichen Gerichtsständen der Tatorte aus erfolgt.
24 Vor allem aber verfolgt die Staatsanwaltschaft mit ihrer Entscheidung zur
Anklageerhebung an das Landgericht Tübingen ersichtlich die Absicht, die dort
bereits vorhandene Kenntnis des Verfahrens und der Einzelheiten der
Anklagevorwürfe für das Verfahren möglichst prozessökonomisch und
beschleunigt zu nutzen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass eine
Anklageerhebung vor einem anderen, tatörtlich zuständigen Gericht auch eine
Abgabe an die dortige Staatsanwaltschaft bedingt, was durch die damit
einhergehende Neueinarbeitung auch eine erneute Verfahrensverzögerung
erwarten ließe.