Urteil des OLG Stuttgart vom 14.12.2015

pflichtverteidiger, verfügung, rücknahme, verfahrensablauf

OLG Stuttgart Beschluß vom 14.12.2015, 2 Ws 203/15
Leitsätze
1. Werden einem Angeklagten aufgrund des Verfahrensumfangs zwei
Pflichtverteidiger beigeordnet, sind beide - mit Ausnahme vereinzelter, näher zu
begründender Verhinderungen - zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung
verpflichtet.
2. Nimmt ein Pflichtverteidiger trotz mehrfachen Hinweisen des Gerichts auf eine
drohende Entpflichtung an einem erheblichen Teil der Hauptverhandlung nicht teil,
kann seine Bestellung zurückgenommen werden, da zu befürchten ist, dass der
Zweck der Pflichtverteidigung, dem Angeklagten einen geeigneten Beistand zu
sichern und einen ordnungsgemäßen Verhandlungsablauf zu gewährleisten, ernsthaft
gefährdet ist.
Tenor
1) Die Beschwerde des Angeklagten gegen die Verfügung des Vorsitzenden der 6.
Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Stuttgart vom 23. November 2015, durch die
die Bestellung von Rechtsanwalt Dr. E. als Pflichtverteidiger des Angeklagten H. P. mit
sofortiger Wirkung zurückgenommen wurde, wird als unbegründet
v e r w o r f e n .
2) Die Beschwerde des Verteidigers Rechtsanwalt Dr. E. gegen die genannte
Entscheidung wird als unzulässig
v e r w o r f e n .
3) Die Beschwerdeführer tragen die Kosten ihrer Rechtsmittel.
Gründe
I.
1 Der Angeklagte H. P. befindet sich in dieser Sache seit dem 15. August 2012
ununterbrochen in Untersuchungshaft. Zeitgleich mit der Inhaftierung wurde ihm
Rechtsanwalt Dr. E. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
2 In der am 8. April 2013 zum Landgericht - Wirtschaftsstrafkammer - Stuttgart
erhobenen Anklage legt die Staatsanwaltschaft H. P. und dem Mitangeklagten L.
B. 1231 Vergehen des gemeinschaftlichen Betruges im besonders schweren Fall
zum Nachteil von insgesamt 568 Geschädigten zur Last. Der verursachte
Gesamtschaden soll circa 20 Millionen Euro betragen. Die 185-seitige
Anklageschrift benennt insgesamt 645 Zeugen und Sachverständige. Aufgrund
des Verfahrensumfangs mit 327 Stehordnern Ermittlungsakten und 118 Kartons
Beweismitteln sowie elektronischen Dateien im Umfang von circa sechs Terabyte
erfolgte am 11. Juni 2013 die Bestellung von Rechtsanwältin J. N. als weitere
Pflichtverteidigerin des Angeklagten P. Auch dem Mitangeklagten wurde ein
zweiter Pflichtverteidiger beigeordnet. Die zunächst am 26. Juli 2013 begonnene
Hauptverhandlung musste aufgrund Schwangerschaft einer Richterin der
Strafkammer am 4. Februar 2014 ausgesetzt werden. In der nunmehr seit dem 25.
März 2014 andauernden neuen Hauptverhandlung haben bis zum 19. November
2015 insgesamt 113 Sitzungstage stattgefunden. Weitere
Hauptverhandlungstermine sind bereits bis zum 30. Juni 2016 bestimmt.
3 Mit Verfügung vom 13. Februar 2015 bestellte der Vorsitzende der Strafkammer
auf Antrag der Staatsanwaltschaft dem Angeklagten H. P. Rechtsanwalt T. V. als
zusätzlichen Pflichtverteidiger. Dem Mitangeklagten wurde ebenfalls ein dritter
Pflichtverteidiger beigeordnet. Dies wurde mit der unzureichenden Teilnahme der
ursprünglichen Verteidiger an der Hauptverhandlung begründet.
4 Die Beschwerden der beiden Angeklagten gegen die Entscheidungen des
Vorsitzenden wurden mit Senatsbeschluss vom 26. März 2015 als unbegründet
verworfen. Am 27. April 2015 teilte Rechtsanwalt V. mit, seine Einarbeitung in den
Verfahrensstoff sei abgeschlossen. Bereits am 23. April 2015 hatte dies auch der
neue Pflichtverteidiger des Mitangeklagten erklärt. Daraufhin nahm der Vorsitzende
der Wirtschaftsstrafkammer die Bestellung von Rechtsanwalt Dr. U. E. als
Pflichtverteidiger des Angeklagten H. P. sowie von Rechtsanwalt O. W. als
Pflichtverteidiger des Mitangeklagten L. B. durch Verfügung vom 27. April 2015 mit
sofortiger Wirkung zurück. Auf die Beschwerden der beiden Angeklagten wurde
diese Entscheidung mit Senatsbeschluss vom 21. Mai 2015 aufgehoben, da keine
ausreichende Abmahnung des Fehlverhaltens der Pflichtverteidiger erfolgt war.
Durch Verfügung des Vorsitzenden der Wirtschaftsstrafkammer vom 23. November
2015 wurde die Bestellung von Rechtsanwalt Dr. U. E. als Pflichtverteidiger erneut
mit sofortiger Wirkung zurückgenommen. Hiergegen wenden sich sowohl der
Angeklagte H. P. als auch Rechtsanwalt Dr. U. E. mit der Beschwerde.
II.
5 Das zulässige Rechtsmittel des Angeklagten H. P. ist unbegründet, da die
Rücknahme der Bestellung des Pflichtverteidigers rechtsfehlerfrei erfolgt ist.
6 1) In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Rücknahme der Bestellung eines
Pflichtverteidigers - neben der in § 143 StPO genannten Fallgestaltung - aus
wichtigem Grund auch dann zulässig ist, wenn eine grobe Pflichtverletzung des
Verteidigers vorliegt, die befürchten lässt, dass der Zweck der Pflichtverteidigung,
dem Angeklagten einen geeigneten Beistand zu sichern und einen
ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, ernsthaft gefährdet ist.
Dabei ist die Entpflichtung eines Verteidigers, der das Vertrauen des Angeklagten
genießt, auf eng umgrenzte Ausnahmefälle beschränkt. Sie berührt durch die
zugrundeliegende wertende Betrachtung der Tätigkeit eines selbstständigen
Organs der Rechtspflege einen zentralen Bereich des Rechtsinstituts der
Verteidigung und nimmt dem Angeklagten denjenigen Verteidiger, der sein nach §
142 Abs. 1 Satz 3 StPO grundsätzlich beachtliches Vertrauen genießt. Dies führt in
Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der als Ausfluss des
grundgesetzlichen Rechtsstaatsprinzips auch im Verfahrensrecht gilt, dazu, dass
nicht jedes unzweckmäßige, prozessordnungswidrige oder den Verfahrensablauf
störende Verhalten des Verteidigers, das den Fortgang des Strafverfahrens
zeitweise hemmt, dessen Abberufung rechtfertigen kann. Vielmehr muss es sich
um ein Fehlverhalten von besonderem Gewicht handeln. Zudem kommt eine
Entpflichtung nur dann in Betracht, wenn kein anderes milderes Mittel geeignet und
ausreichend ist, um für die Zukunft ein geordnetes Verfahren zu gewährleisten (vgl.
u.a. BVerfG BayVBl 2009, 185; BGH NJW 1990, 1373; KG Berlin StV 2008, 68;
OLG Hamburg NStZ 1998, 586; OLG Köln, Beschluss vom 15. Juli 2005 - 2 Ws
280-282/05 -, zitiert nach juris; Laufhütte/Willnow in Karlsruher Kommentar StPO, 7.
Aufl., § 143 Rn. 4 mwN).
7 2) Eine gewichtige Pflichtverletzung des Pflichtverteidigers Rechtsanwalt Dr. E.
liegt vor.
8 a. Die Bestellung von zunächst zwei Pflichtverteidigern für jeden Angeklagten war
aufgrund des Verfahrensumfangs erforderlich (vgl. Senatsbeschluss vom 26. März
2015 - 2 Ws 32 und 33/15 -). In diesem Fall sind beide Pflichtverteidiger zur
Anwesenheit in der Hauptverhandlung verpflichtet, sofern nicht im Einzelfall eine
Ausnahme vorliegt, die grundsätzlich mit dem Vorsitzenden abzusprechen ist.
Gemäß § 227 StPO können zwar mehrere Verteidiger in einer Hauptverhandlung
mitwirken und ihre Verrichtungen untereinander teilen. Insoweit ist der absolute
Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO nicht grundsätzlich bereits dann gegeben,
wenn einer von mehreren (Pflicht-)Verteidigern eines Angeklagten nicht ständig in
der Hauptverhandlung anwesend ist (BGH bei Dallinger MDR 1966, 200; BGH bei
Holtz MDR 1981, 457). Ungeachtet dessen gehört aber die Teilnahme an der
Hauptverhandlung zum Kernbereich der Verteidigertätigkeit, da Grundlage der
Urteilsfindung der Inbegriff der Hauptverhandlung ist (Senatsbeschlüsse vom 21.
Mai 2015 - 2 Ws 87/15 - und vom 26. März 2015 - 2 Ws 32 und 33/15 -; OLG
Hamburg, NStZ-RR 1997, 203; OLG Frankfurt NJW 1972, 1964). Zudem kann ein
vom Staat zu bezahlender Pflichtverteidiger nur als Verteidiger beigeordnet
werden, wenn er gewährleisten kann, dem Verfahren mit seiner Arbeitskraft
weitestgehend zur Verfügung zu stehen (OLG Hamm NStZ 2001, 235; OLG Jena
OLGSt StPO § 142 Nr. 7). So ist auch anerkannt, dass in Umfangsverfahren wie
dem vorliegenden die Bestellung eines Pflichtverteidigers, der nicht zusichern
kann, - abgesehen von ganz vereinzelten Verhinderungen - an sämtlichen
Hauptverhandlungsterminen teilzunehmen, auch dann nicht in Betracht kommt,
wenn der Angeklagte noch über einen weiteren Verteidiger verfügt (vgl. u.a. OLG
Düsseldorf, Beschlüsse vom 20. Januar 2004 - III-VI 13/03 - und vom 7. Februar
2006 - III-VI 10/05 -; BVerfG NStZ 2006, 460; OLG Hamm NStZ 2001, 235).
9 b. Der Verpflichtung zur Teilnahme an der Hauptverhandlung ist der
Pflichtverteidiger im vorliegenden Fall nur ungenügend nachgekommen. Dies
ergibt sich aus einer bei den Akten befindlichen Übersicht der Anwesenheitszeiten
in der Hauptverhandlung. Danach betrug die Gesamtverhandlungsdauer in der
Zeit vom 25. März 2014 bis zum 19. November 2015 (jeweils ab dem terminierten
Verhandlungsbeginn und ohne Abzug von Sitzungspausen) insgesamt 546
Stunden und 55 Minuten. Berücksichtigt man, dass die Bestellung von
Rechtsanwalt Dr. E. als Pflichtverteidiger bereits durch Verfügung des
Vorsitzenden der Wirtschaftsstrafkammer vom 27. April 2015 bis zur Aufhebung
dieser Entscheidung durch Senatsbeschluss vom 21. Mai 2015 mit sofortiger
Wirkung zurückgenommen worden war, beläuft sich die für ihn relevante
Gesamtverhandlungsdauer auf 493 Stunden und 41 Minuten. Dem stehen
Anwesenheitszeiten des Pflichtverteidigers Dr. E. von insgesamt lediglich 247
Stunden und 17 Minuten (50,09%) gegenüber. Auch die
Hauptverhandlungstermine nach der letzten Senatsentscheidung vom 21. Mai
2015 nahm Rechtsanwalt Dr. E. nur unzureichend wahr. So war er bei einer
Gesamtverhandlungsdauer von 176 Stunden und 27 Minuten in der Zeit vom 9.
Juni bis zum 19. November 2015 nur 70 Stunden und 57 Minuten (40,21%)
anwesend. In den genannten Zeiten sind zwar Verzögerungen der
Hauptverhandlung durch eine etwaige verspätete Vorführung der Angeklagten
oder ähnliches nicht berücksichtigt, dies ist aber auch nicht von Relevanz, da zur
ordnungsgemäßen Durchführung der Hauptverhandlung die Anwesenheit des
Verteidigers zum terminierten Sitzungsbeginn erforderlich ist. Dieser hat seinen
Kanzleisitz in einer Entfernung von ca. 200 km vom Gerichtsort und steht daher
nicht etwa auf Abruf zur Verfügung.
10 Rechtsanwältin N., die dem Angeklagten H. P. ebenfalls bereits vor Beginn der
(ersten) Hauptverhandlung beigeordnet worden war, weist demgegenüber ab dem
25. März 2014 Anwesenheitszeiten von insgesamt 425 Stunden und 56 Minuten
(77,86%) auf. Der mit Verfügung vom 13. Februar 2015 beigeordnete (dritte)
Pflichtverteidiger Rechtsanwalt V. nahm die Hauptverhandlungstermine seither
vollumfänglich wahr.
11 c. Seit Beginn des Verfahrens ist eine nur fragmentarische Anwesenheit der
beiden ursprünglichen Pflichtverteidiger, insbesondere jedoch von Rechtsanwalt
Dr. E., in der Hauptverhandlung zu verzeichnen. Dabei weigert er sich ganz
überwiegend, Gründe für sein verspätetes Erscheinen oder Nichterscheinen sowie
für ein vorzeitiges Verlassen der Sitzung mitzuteilen. Dem Vorsitzenden wird
dadurch die Möglichkeit genommen, im Rahmen seiner Fürsorgepflicht für die
Angeklagten zu prüfen, ob lediglich eine vereinzelte Abwesenheit des
Pflichtverteidigers aufgrund unvorhergesehener Umstände vorliegt oder aber
beispielsweise eine unzulässige Vertretung zwischen den Pflichtverteidigern
vorgenommen wird, um verfahrensfremden Tätigkeiten nachgehen zu können.
Vorliegend wird die überwiegende Zahl der Hauptverhandlungstermine (ggfs. im
Rahmen eines Wechsels während laufender Sitzung) nur durch einen von ihnen
wahrgenommen, was eine unzulässige gegenseitige Vertretung in der Sitzung
nahelegt (vgl. hierzu BGH NJW 1972, 1964; KG Berlin, Beschluss vom 4. Oktober
2000 - 3 AR 12/00 - 4 Ws 189/00 -, zitiert nach juris). So musste Rechtsanwalt Dr.
E. - nachdem die Staatsanwaltschaft dem Landgericht Stuttgart entsprechende
Erkenntnisse mitgeteilt hatte - schließlich auch einräumen, dass er als Verteidiger
in einem weiteren umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren vor dem Landgericht
Frankfurt tätig ist, welches am 24. September 2015 begonnen hat. Dort erfolgte bis
zum 13. November 2015 eine Terminierung unter anderem auf die Wochentage
Dienstag und Donnerstag, die auch im hiesigen Verfahren als regelmäßige
Sitzungstage festgelegt sind. Selbst wenn man das Vorbringen von Rechtsanwalt
Dr. E. in einer schriftlichen Erklärung vom 12. Oktober 2015 als zutreffend
unterstellt, kam es in dieser Zeit zu mindestens vier Terminskollisionen, die er dem
Landgericht Stuttgart ebenso verschwieg wie den Umstand, dass ab dem 2.
Februar 2016 zumindest dienstags zeitgleich zum hiesigen Verfahren weitere
Hauptverhandlungstermine in der genannten Strafsache vor dem Landgericht
Frankfurt stattfinden sollen.
12 Ebenfalls mit Schriftsatz vom 12. Oktober 2015 führte Rechtsanwalt Dr. E. aus,
dass er auch anlässlich von Familienfeiern oder einem jährlich stattfindenden
Stammtischausflug nicht gedenke, an der Hauptverhandlung vor dem Landgericht
Stuttgart teilzunehmen. Zwar ist insoweit die „Empfehlung“, die Staatsanwaltschaft
möge seine Ehefrau oder ein namentlich benanntes Mitglied seines Stammtisches
nach den entsprechenden Daten befragen, ironisch überspitzt, ändert jedoch
nichts an der Aussage, private Belange über die Verpflichtungen aus dem
Pflichtverteidigermandat zu stellen. Dies zeigt sich auch in einer eigenmächtigen
Urlaubsabwesenheit während vier Hauptverhandlungsterminen zwischen dem 11.
und 21. August 2015, obwohl für die Zeit zwischen dem 21. August und dem 21.
September 2015 eine Sitzungsunterbrechung zur Sommerpause angekündigt war
und auch stattfand.
13 d. Ungeachtet dessen legte Rechtsanwalt Dr. E. am 18. Juni 2015 ein ärztliches
Attest des Klinikums F. vom 16. Juni 2015 vor, aus dem sich ergibt, dass er
aufgrund einer sogenannten Ménière-Erkrankung (Drehschwindel) nur vier
Stunden pro Tag arbeitsfähig sei. Mit Schriftsätzen vom 19. und 29. Juni 2015
führte er hierzu aus, dass die Krankheit mit Gleichgewichtsstörungen,
Konzentrationsschwäche sowie schneller Ermüdung einhergeht und nach
Aussage des behandelnden Arztes noch ca. vier bis fünf Monate andauern wird.
Die Verteidigung werde er „im Rahmen des medizinisch gerade noch Erträglichen“
fortführen und seine Anwesenheit mit Rechtsanwältin N. abstimmen. In dem bereits
erwähnten Schriftsatz vom 12. Oktober 2015 teilte Rechtsanwalt Dr. E. mit, die
gesundheitlichen Einschränkungen bestünden weiterhin fort. Tatsächlich nahm der
Pflichtverteidiger seit dem 16. Juni 2015 lediglich an 4 von 35
Hauptverhandlungsterminen länger als vier Stunden teil, sofern er überhaupt
anwesend war. Der Senat hat deshalb berücksichtigt, dass die eingeschränkte
Anwesenheit in der Hauptverhandlung zumindest teilweise auch auf einer
krankheitsbedingten Verhinderung beruhen mag, die der Pflichtverteidiger nicht zu
vertreten hat. Führt letztere jedoch wie im vorliegenden Fall zu einer längerfristigen
gravierenden Einschränkung der Verteidigertätigkeit, so kann sie ebenfalls eine
Abberufung gebieten. Dies insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt des für
den Angeklagten nicht disponiblen Beschleunigungsgebots in Haftsachen, das
einer - auch den Mitangeklagten treffenden - Verkürzung der
Verhandlungsdauerdauer pro Sitzungstag entgegensteht. Die Entpflichtung eines
Verteidigers stellt nämlich keine Sanktion für ein pflichtwidriges Verhalten in der
Vergangenheit dar, sondern dient ausschließlich dazu, dem Angeklagten einen
geeigneten Beistand sowie einen geordneten Prozessablauf für die Zukunft zu
sichern. Auf ein Verschulden des Pflichtverteidigers kommt es mithin - zumindest
im vorliegenden Fall - nicht an.
14 3) Es ist zu befürchten, dass der Zweck der Pflichtverteidigung, dem Angeklagten
einen geeigneten Beistand zu sichern und einen ordnungsgemäßen
Verfahrensablauf zu gewährleisten, durch die ungenügende Teilnahme an der
Hauptverhandlung ernsthaft gefährdet ist. Grundsätzlich ist dem Gericht auch unter
Berücksichtigung der Fürsorgepflicht für den Angeklagten eine inhaltliche
Überprüfung und Bewertung der Verteidigertätigkeit verwehrt (vgl. u.a. BGH, NStZ-
RR 2009, 35; StraFo 2006, 454; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 143, Rn.
4 mwN). Ist jedoch anhand konkreter äußerer Umstände ersichtlich, dass der
Verteidiger seine Aufgabe nicht sachgerecht und mit dem gebotenen Einsatz erfüllt
und hierdurch eine konkrete Gefährdung der Rechte des Angeklagten und dessen
effektiver Verteidigung entsteht, hat das Gericht im Rahmen seiner Fürsorgepflicht
einzugreifen.
15 Solche Umstände liegen hier vor. Der Inbegriff der Hauptverhandlung stellt
angesichts des Unmittelbarkeitsgrundsatzes die Grundlage der Urteilsfindung dar
und ist daher auch für die Tätigkeit des Verteidigers von überragender Bedeutung.
Zwar kann eine Unterrichtung durch einen weiteren Verteidiger, der in der Sitzung
anwesend war, im Ausnahmefall ausreichend sein, jedoch nicht im Regelfall,
zumal in Anbetracht des Verfahrensumfangs und des komplexen Sachverhalts
eine Unterrichtung über den Inhalt einer mehrstündigen Hauptverhandlung
allenfalls kursorisch und nicht etwa „eins zu eins“ erfolgen kann. Sie birgt zudem
die Gefahr von Übertragungsfehlern und Auslassungen. Darüber hinaus ist es dem
abwesenden Verteidiger beispielsweise nicht möglich, Zeugenaussagen anhand
des persönlichen Eindrucks zu bewerten und spontan Fragen zu stellen oder
Augenscheinsobjekte selbst wahrzunehmen und zu prüfen. Nimmt ein Verteidiger
wie im vorliegenden Fall an beinahe der Hälfte der Hauptverhandlung nicht teil,
liegt es auf der Hand, dass eine ordnungsgemäße Verteidigung hierdurch in
konkreter und schwerwiegender Weise gefährdet ist, zumal eine
vorausgegangene Einarbeitung hierdurch wieder entwertet wird. Insoweit ist die
Aufgabe der Verteidigung als Beistand des Angeklagten auch nicht vergleichbar
mit der Tätigkeit der Staatsanwaltschaft, welche die Hauptverhandlung durch
unterschiedliche Sitzungsvertreter, die keinen Mandanten beraten müssen,
wahrnehmen lassen kann.
16 Außerdem ist wie bereits ausgeführt in der obergerichtlichen Rechtsprechung
anerkannt, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers, der nicht zusichern kann,
abgesehen von einzelnen, unvorhergesehenen oder im Einzelfall mit dem
Vorsitzenden abgestimmten Ausnahmen, an allen Sitzungstagen teilzunehmen,
vor Beginn der Hauptverhandlung abgelehnt oder zurückgenommen werden kann.
Nichts anderes muss daher gelten, wenn sich erst während laufender
Hauptverhandlung herausstellt, dass der Pflichtverteidiger bereits vor
Verhandlungsbeginn oder aufgrund später eingetretener Umstände hierzu nicht
willens oder in der Lage war.
17 4) Mildere Maßnahmen als die Entpflichtung von Rechtsanwalt Dr. U. E. kommen
nicht in Betracht. Ihm war bereits aus den Senatsbeschlüssen vom 26. März und
21. Mai 2015 bekannt, dass die unzureichende Teilnahme an der
Hauptverhandlung eine schwerwiegende Pflichtwidrigkeit darstellt. Dies führte
ebenso wenig zu einer Verbesserung der Anwesenheitszeiten wie Hinweise des
Vorsitzenden der Wirtschaftsstrafkammer an den Verteidiger vom 15. Juni, 25.
August, 19. Oktober, 16. November und 19. November 2015, wonach wegen des
ohne Begründung erfolgten vollumfänglichen oder teilweisen Ausbleibens in
jeweils näher bezeichneten Hauptverhandlungsterminen eine Rücknahme der
Pflichtverteidigerbestellung drohe. Diese Hinweise erhielt in Abschrift auch jeweils
der Angeklagte H. P., der dadurch Gelegenheit hatte, in Kenntnis der drohenden
Folgen auf eine Beendigung des Fehlverhaltens seines Vertrauensverteidigers
hinzuwirken. Dennoch ist den schriftsätzlichen Ausführungen des
Pflichtverteidigers weiterhin zu entnehmen, dass er ungeachtet
krankheitsbedingter Einschränkungen, auch künftig an der seit Anbeginn des
Verfahrens geübten Praxis, Hauptverhandlungstermine nach eigenem Gutdünken
nur zeitweise oder gar nicht wahrzunehmen, festzuhalten beabsichtigt.
18 Insoweit kann es auch nicht dem Angeklagten überlassen bleiben, ob er eine
Anwesenheit lediglich eines Verteidigers an einzelnen oder mehreren
Sitzungstagen (beispielsweise aus Kostengründen) wünscht oder ob er sich
subjektiv ausreichend verteidigt fühlt. Dies würde dem Sinn und Zweck der im
vorliegenden Fall durch den Verfahrensumfang gebotenen notwendigen
Verteidigung durch zwei Verteidiger widersprechen. Abgesehen davon ist nach
Rücknahme der Bestellung von Rechtsanwalt Dr. U. E. aufgrund der erfolgten
Beiordnung des zwischenzeitlich voll eingearbeiteten, regelmäßig anwesenden
Rechtsanwalts V. eine ordnungsgemäße Verteidigung gewährleistet.
III.
19 Soweit Rechtsanwalt Dr. E. im eigenen Namen Beschwerde gegen die Verfügung
des Vorsitzenden der Wirtschaftsstrafkammer vom 23. November 2015 erhebt, ist
diese unzulässig, da der Pflichtverteidiger kein eigenes Beschwerderecht hat (vgl.
Meyer-Goßner/Schmitt aaO Rn. 7).
IV.
20 Die Kosten - und Auslagenentscheidung beruht bei beiden Beschwerdeführern auf
§ 473 StPO.