Urteil des OLG Stuttgart vom 09.09.2015

vaterschaft, geburt, familie, anfechtungsfrist

OLG Stuttgart Beschluß vom 9.9.2015, 17 WF 122/15
Verfahrenskostenhilfe für Vaterschaftsanfechtungsverfahren: Ablehnung eines
VKH-Antrags nach Durchführung einer Beweisaufnahme
Leitsätze
Entscheidet ein Gericht über einen Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe
nicht zum Zeitpunkt der Bewilligungsreife, sondern erst nach Durchführung einer
Beweisaufnahme, kann die bewusste Unwahrheit des Sachvortrags des VKH-
Antragstellers im Sinne von § 124 Abs. 1 Nr. 1 ZPO bereits im VKH-
Bewilligungsverfahren berücksichtigt werden und zur Ablehnung des VKH-Antrags
führen, obwohl zum Zeitpunkt der Bewilligungsreife noch Erfolgsaussicht für den
Antrag bestanden hatte.
Tenor
Die sofortige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Amtsgerichts -
Familiengericht - Böblingen vom 12.06.2015, Az. 16 F 104/15, wird
zurückgewiesen
.
Gründe
I.
1.
1 Während der nichtehelichen Beziehung zwischen dem Antragsteller und der
Kindesmutter wurde am 03.06.2010 das Kind T. geboren. Der Antragsteller hat
seine Vaterschaft durch Jugendamtsurkunde anerkannt.
2 Der Antragsteller hat mit am 26.01.2015 beim Amtsgericht Böblingen
eingegangenem Schriftsatz seine Vaterschaft zu dem Kind T. angefochten. Der
Antragsteller hat in diesem Schriftsatz die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe
für seinen Anfechtungsantrag beantragt.
3 Er hat hierzu vorgetragen, dass er erst im Dezember 2014 erfahren habe, dass er
nicht der Vater des Kindes sei, als ein Besprechungstermin beim Jugendamt
anberaumt worden sei.
4 Die Kindesmutter hat angegeben, dass sie im März/April 2009 Geschlechtsverkehr
mit dem Beschwerdeführer gehabt habe, dann aber bis Dezember 2009 nicht
mehr. Zwischenzeitlich sei sie von einem anderen Mann schwanger geworden,
was dem Beschwerdeführer schon vor der Geburt des Kindes T. bekannt gewesen
sei. Ungeachtet dessen sei dieser in die Geburtsurkunde als Vater des Kindes
eingetragen worden, da er als solcher haben gelten wollen.
2.
5 Mit Beschluss vom 12.06.2015 wies das Amtsgericht Böblingen den Antrag des
Antragstellers in der Hauptsache zurück, nachdem es nach dem Ergebnis einer
am 20.05.2015 durchgeführten Beweisaufnahme mit der Vernehmung mehrerer
Zeugen davon ausging, dass der Antragsteller bereits Ende 2009 davon Kenntnis
hatte, dass nicht er, sondern eine dritte Person der leibliche Vater des Kindes T.
sei. Die zweijährige Anfechtungsfrist sei damit zum Zeitpunkt der Einreichung des
Antrags des Antragstellers abgelaufen gewesen.
6 Ebenfalls mit Beschluss vom 12.06.2015 hat das Amtsgericht Böblingen den
Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe
zurückgewiesen, da der Antragsteller nach Überzeugung des Gerichts seit 2009
sichere Kenntnis vom Nichtbestehen seiner Vaterschaft gehabt habe.
7 Gegen den ihm am 18.06.2015 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller mit am
26.06.2015 beim Amtsgericht Böblingen eingegangenem Schriftsatz sofortige
Beschwerde eingelegt.
8 Er weist darauf hin, dass das Amtsgericht fehlerhaft über seinen VKH-Antrag nicht
vorab entschieden und dann die Versagung der Verfahrenskostenhilfe nach
durchgeführter Beweisaufnahme darauf gestützt habe, dass sein Antrag keine
Erfolgsaussicht gehabt habe. Dass Erfolgsaussicht bestanden habe, zeige sich
aber schon daran, dass das Amtsgericht Zeugen vernommen habe, bevor es
seinen Endbeschluss erlassen habe.
9 Im Übrigen habe das Amtsgericht die Beweisaufnahme fehlerhaft gewürdigt und
sei daher zu Unrecht zu dem Schluss gekommen sei, er habe bereits 2009
Kenntnis von dem Nichtbestehen seiner Vaterschaft gehabt.
10 Der Beschluss des Amtsgerichts sei daher abzuändern und ihm sei
Verfahrenskostenhilfe zu bewilligen.
11 Das Amtsgericht hat der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen und hat hierbei
darauf hingewiesen, dass auch für den Fall einer früheren Bewilligung von
Verfahrenskostenhilfe diese gemäß § 124 Nr. 1 ZPO aufgrund der Kenntnis des
Antragstellers vom Nichtbestehen seiner Vaterschaft wieder aufzuheben gewesen
wäre.
II.
1.
12 Die sofortige Beschwerde des Antragstellers ist statthaft gemäß § 76 Abs. 2
FamFG, § 127 Abs. 2 S. 2 ZPO. Sie ist auch im Übrigen in zulässiger Weise,
insbesondere form- und fristgerecht eingelegt.
2.
13 Die sofortige Beschwerde ist unbegründet.
a)
14 Der Antragsteller hat zutreffend darauf hingewiesen, dass über einen Antrag auf
Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe zu entscheiden ist, wenn Entscheidungs-
/Bewilligungsreife eingetreten ist. Eine solche lag bereits vor der am 20.05.2015
durchgeführten Beweisaufnahme vor, nachdem der Antragsteller sein
Verfahrenskostenhilfegesuch schlüssig begründet sowie eine Erklärung über die
persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt hatte und die übrigen
Beteiligten Gelegenheit gehabt hatten, sich innerhalb angemessener Frist zum
Verfahrenskostenhilfegesuch zu äußern.
15 Zum Zeitpunkt der Bewilligungsreife bestand für den Verfahrenskostenhilfeantrag
des Antragstellers (noch) Erfolgsaussicht, nachdem die Entscheidung darüber, ab
wann er Kenntnis vom Nichtbestehen seiner Vaterschaft hatte, maßgeblich vom
Ergebnis der Beweisaufnahme abhing.
b)
16 Nach Durchführung der Beweisaufnahme bestand keine Erfolgsaussicht für den
Antrag des Antragstellers mehr. Bei Würdigung der Aussagen der vom Amtsgericht
vernommenen Zeugen bestehen aus Sicht des Senats keine Zweifel, dass der
Antragsteller bereits im Jahr 2009, vor der Geburt des Kindes T., wusste, dass er
nicht der Vater des Kindes ist.
17 Die Zeugin C. hat ausgesagt, dass es - bevor das Kind geboren worden war -
zwischen dem Antragsteller und der Kindesmutter zu einem Riesenstreit
gekommen sei, weil der Antragsteller gewusst habe, dass die Zeugin C. von der
Kindesmutter darüber informiert worden sei, dass er nicht der Vater des Kindes sei.
Dass die Zeugin dies jedem erzählen würde, habe der Antragsteller selbst der
Zeugin vorgehalten. Es habe jeder gewusst, dass der Antragsteller nicht der Vater
des Kindes sei.
18 Die Zeugin B. gab bei ihrer Aussage an, dass die Kindesmutter, ihre Schwester, ihr
bereits vor der Geburt des Kindes T. mitgeteilt habe, dass sie den Antragsteller
davon informiert habe, dass sie von einem anderen Mann bereits schwanger sei.
Der Antragsteller habe nach der Mitteilung der Kindesmutter aber als Vater des
Kindes gelten wollen und sei deshalb als solcher eingetragen worden. Dass er
wisse, dass das Kind T. nicht von ihm stamme, habe der Antragsteller der Zeugin
gegenüber selbst bestätigt.
19 Die Zeugin E., die Mutter der Kindesmutter, sagte aus, dass ihre Tochter ihr
mitgeteilt habe, dass der Antragsgegner nicht der Vater des Kindes T. sei. Dies sei
in der Familie „klar“ gewesen. Der Antragsgegner habe ihr gegenüber mehrfach
gesagt, dass er für das Kind immer da sein werde, auch wenn er nicht der leibliche
Vater sei. Er habe nach außen unbedingt als der Vater gelten wollen.
20 Der Ehemann der Zeugin E., Herr U., der Stiefvater der Kindesmutter, teilte
ebenfalls mit, dass ihm klar war, dass der Antragsteller nicht der Vater des Kindes
T. sei, weil in der Familie darüber gesprochen worden sei. Ob der Antragsteller bei
diesen Gesprächen mit anwesend gewesen sei, wisse er nicht mehr.
21 Die Aussagen der Zeuginnen C., B. und E. sind eindeutig und belegen den Vortrag
der Kindesmutter, wonach dem Antragsteller bereits vor der Geburt des Kindes T.
bekannt war, dass er nicht dessen Vater ist. Dass der Zeuge U. nicht mehr wusste,
ob der Antragsteller bei einem der Familiengespräche mit anwesend gewesen war,
begründet keinen maßgeblichen Widerspruch innerhalb der Aussagen der
Zeugen. Dass die Mutter des Antragstellers, die Zeugin C., angab, dass die
Kindesmutter ihr zu keinem Zeitpunkt mitgeteilt habe, dass ihr Sohn nicht der
Kindesvater sei und dass solches auch ihr Sohn niemals zu ihr gesagt habe,
begründet für den Senat ebenfalls keine Zweifel am Ergebnis der
Beweisaufnahme. Denn die Kindesmutter hatte hierzu als - plausible - Erklärung
angegeben, zwischen ihr und dem Antragsteller sei ausgemacht worden, dass
dieser das Nichtbestehen seiner Vaterschaft selbst seiner Mutter mitteile, weshalb
sie insoweit auf diese nicht zugegangen sei.
c)
22 Gemäß § 1600 b Abs. 1 S. 1 BGB kann eine Vaterschaft nur binnen zwei Jahren
gerichtlich angefochten werden. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der
Berechtigte von den Umständen erfährt, die gegen die Vaterschaft sprechen. Die
genannten Umstände müssen bei sachlicher Beurteilung geeignet sein, aus der
objektiven Sicht eines verständigen, naturwissenschaftlich nicht vorgebildeten
Laien Zweifel an der bestehenden Vaterschaft zu erwecken und die nicht ganz
fernliegende Möglichkeit der nichtehelichen Abstammung zu begründen.
23 Nachdem der Antragsteller schon vor der Geburt des Kindes Kenntnis vom
Nichtbestehen seiner Vaterschaft hatte, wurde die Anfechtungsfrist durch den am
26.01.2015 beim Amtsgericht eingegangenen Anfechtungsantrag nicht gewahrt.
3.
a)
24 Die Prüfung der Erfolgsaussicht hat das Gericht grundsätzlich aufgrund des Sach-
und Streitstandes zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife des
Verfahrenskostenhilfegesuchs vorzunehmen. Dies gilt auch für den Fall, wenn sich
im Verlauf des Verfahrens infolge einer verzögerten Entscheidung über das
Verfahrenskostenhilfegesuch die Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung, etwa
aufgrund des Ergebnisses einer zwischenzeitlich durchgeführten
Beweisaufnahme, verschlechtert haben.
25 Etwas anderes gilt nur dann, wenn z. B. aufgrund einer Beweisaufnahme
gewonnene spätere Erkenntnisse zugleich die Unwahrheit des Prozessvortrags
des Antragstellers im Sinne von § 124 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ergeben, weil in diesem
Fall sogar eine rückwirkende Aufhebung der bewilligten Prozesskostenhilfe
begründet wäre. Für diesen Fall ist auf die Erfolgsprognose zum Zeitpunkt der
Entscheidung abzustellen (BGH, FamRZ 2012, 964 Rn. 21).
26 Der Sinn eines Abstellens auf die Erfolgsaussicht bei Bewilligungsreife ist, die
antragstellende Partei vor den Nachteilen zu schützen, die eine für sie
unverschuldete Verzögerung des Verfahrens bringen würde. Eine solche
Schutzbedürftigkeit besteht jedoch nicht, wenn die Voraussetzungen des § 124
Abs. 1 Nr. 1 ZPO vorliegen, d.h. wenn die Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit
täuschenden Angaben betrieben worden ist. Dementsprechend ist keine
Prozesskostenhilfe zu gewähren, die gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 1 ZPO sofort wieder
entzogen werden kann (OLG Düsseldorf, FamRZ 1997, 1088).
27 Zwar würde ein Prozessbevollmächtigter besser stehen, wenn Prozesskostenhilfe
zunächst bewilligt und die Bewilligung erst später nach § 124 ZPO wieder
aufgehoben werden würde. Denn während für die PKH-Partei mit der Aufhebung
sämtliche Vorteile der PKH rückwirkend auf den Zeitpunkt der Bewilligung
entfallen, bleiben für bereits vorgenommene, gebührenauslösende Tätigkeiten des
Anwalts seine Vergütungsansprüche nach §§ 45 ff. RVG gegen die Staatskasse
erhalten (MüKoZPO/Motzer, 4. Aufl. 2013, § 124 Rn. 25 f.; Kratz BeckOK ZPO,
Vorwerk/Wolf, 17. Edition, Stand 01.06.2015, § 124 Rn. 27 f.).
28 Maßgebend ist hier jedoch, dass das Bedürfnis, auch den Anwalt vor von der
Partei nicht verschuldeter Verzögerung der PKH-Bewilligung zu schützen, von dem
Schutz, der der Partei des PKH-Verfahrens zusteht, abgeleitet ist und nicht darüber
hinaus geht (OLG Düsseldorf, FamRZ 1997, 1088).
b)
29 Die Voraussetzungen des § 124 Abs. 1 Nr. 1 ZPO liegen hier vor, was dazu führt,
dass entsprechend der Rechtsprechung des BGH (FamRZ 2012, 964 Rn. 21) -
nach durchgeführter Beweisaufnahme - auf die Erfolgsprognose zum Zeitpunkt der
Entscheidung abzustellen ist mit der Folge, dass das Amtsgericht dem
Antragsteller für den ersten Rechtszug zu Recht keine Verfahrenskostenhilfe
bewilligt hat.
30 Gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 1 ZPO soll das Gericht die Bewilligung von
Prozesskostenhilfe aufheben, wenn die Partei durch eine unrichtige Darstellung
des Streitverhältnisses die für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe
maßgebenden Voraussetzungen vorgetäuscht hat.
31 Die Darstellung des Streitverhältnisses durch den Antragsteller war unrichtig,
nachdem nach Durchführung der Beweisaufnahme feststeht, dass er - entgegen
seinem Vortrag - nicht erst Ende 2014, sondern bereits im Jahr 2009 Kenntnis von
dem Nichtbestehen seiner Vaterschaft hatte. Dem Antragsteller war im Zeitpunkt
seines (streiterheblichen) Vortrags somit bewusst, dass dieser unzutreffend ist; von
zumindest bedingtem Vorsatz (MüKoZPO/Motzer, 4. Aufl. 2013, § 124 Rn. 8)
dahingehend, dass vollständige und wahrheitsgemäße Angaben möglicherweise
zu einer Versagung der Verfahrenskostenhilfe führen könnten, ist auszugehen.