Urteil des OLG Stuttgart vom 30.05.2014

OLG Stuttgart: mitverschulden, fahrbahn, form, gehweg, behandlung, vorrang, strafzumessung, fahrverbot, gehsteig, überprüfung

OLG Stuttgart Beschluß vom 30.5.2014, 1 Ss 358/14
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hechingen vom 11.
Februar 2014 mit den zugehörigen Feststellungen
aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Hechingen
zurückverwiesen.
Gründe
I.
1 1. Das Amtsgericht Sigmaringen verurteilte den Angeklagten mit Urteil vom 22. Juli 2013
wegen fahrlässiger Körperverletzung zu der Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30,00
EUR. Als Nebenstrafe verhängte es ein dreimonatiges Fahrverbot.
2 2. Die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung des Angeklagten verwarf das Landgericht
Hechingen mit Urteil vom 11. Februar 2014. Zur Tat stellte es dabei im Wesentlichen
Folgendes fest:
3
„Am 09.01.2013 gegen 18:50 Uhr fuhr der Angeklagte mit seinem Pkw Hyundai, amtl.
Kennzeichen …, auf der … Straße in M. aus Richtung A. kommend. Während er sich dem
dort befindlichen Fußgängerüberweg mit seinem Fahrzeug näherte, war der damals 79-
jährige, dunkel gekleidete Fußgänger S. dabei, die Straße auf dem Überweg aus Sicht
des Angeklagten von rechts nach links zu überqueren. Herr S. war vorher aus der K.-
Straße gekommen und den Gehsteig benutzend nach links in die … Straße eingebogen.
Dort weist der Gehsteig eine Breite von 1,5 m auf. Von dort aus betrat er den
Fußgängerüberweg, um die … Straße mit normaler Gehgeschwindigkeit zu überqueren.
Die Straße war trocken, es war bereits dunkel, die Straßenlaternen waren eingeschaltet.
Entweder, weil der Angeklagte in Folge Unaufmerksamkeit den die Fahrbahn
überquerenden Fußgänger zu spät bemerkte, oder, weil er sich dem Fußgängerüberweg
mit einer höheren Geschwindigkeit als 40 km/h genähert hatte, vermochte er sein
Fahrzeug trotz eingeleiteten Bremsvorgangs nicht mehr vor dem Überweg zum Stillstand
zu bringen, weshalb sein Fahrzeug mit dem sich auf dem Fußgängerüberweg bereits in
einem Abstand von 1,7 m zum rechten Fahrbahnrand befindlichen Fußgänger kollidierte.
Herr S. wurde von dem Fahrzeug des Angeklagten mittig erfasst und zu Boden
geschleudert. Dies hatte für den Angeklagten vorhersehbar und vermeidbar zur Folge,
dass Herr S. schwerste Verletzungen insbesondere am Kopf und mehrere Frakturen
(Beckenfraktur, ein Subduralhämatom mit Kalottenfraktur, eine BKW 12 -
Vorderkantenfraktur, eine Quersatzfraktur LWK 1 - 5 rechts) und diverse Prellungen erlitt.
Deswegen war er 3 1/2 Wochen lang in stationärer Behandlung, auch heute leidet er
noch unter den Unfallfolgen, so sind seine Seh- und Hörfähigkeit beeinträchtigt. Seit dem
Unfall benötigt er ein Hörgerät, auch ist sein Sehfeld auf einem Auge beeinträchtigt. Er
muss auch heute noch regelmäßig physiotherapeutische Behandlungen in Anspruch
nehmen und ist wegen der erlittenen Verletzungen in ambulanter ärztlicher Behandlung.
4
Die allgemein geltende innerörtliche Geschwindigkeitsbeschränkung auf 50 km/h war im
Bereich der Unfallstelle nicht durch ein Verkehrszeichen herabgesetzt.
5
(…) Herr S. wies am Unfalltag um 19:40 Uhr einen mittleren Blutalkoholwert von 0,43
Promille auf, weil er vor dem Unfall in einem Gasthaus mit Bekannten Wein getrunken
hatte. (…)“
6
Im Rahmen der Beweiswürdigung führt das Urteil des Landgerichts weiter aus, dass die
Ausgangsgeschwindigkeit des Angeklagten nicht festgestellt werden konnte, der
Angeklagte bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 40 km/h und höchstens mittlerer
Gehgeschwindigkeit des Geschädigten aber auch dann noch rechtzeitig hätte anhalten
können, wenn er erst dann auf den Geschädigten reagiert hätte, als dieser vom
Fahrbahnrand aus die Fahrbahn betrat.
7
Das Landgericht ist insoweit folgender Ansicht:
8
„Der Fahrzeugverkehr darf sich einem Fußgängerüberweg nur mit einer so geringen
Geschwindigkeit nähern, um auch einen kurz vor seiner Annäherung auftauchenden
bevorrechtigten Fußgänger nicht zu behindern und nicht zu gefährden. Zwar muss ein
Fahrzeugführer sich nicht stets, sondern nur dann mit mäßiger Geschwindigkeit nähern,
wenn ein Fußgänger erkennbar den Übergang überschreiten will. Ist der Überblick mit
den angrenzenden Gehwegzonen - wie im vorliegenden Fall aufgrund der Dunkelheit
und der kurz hinter dem Überweg einmündenden Querstraße, aus welcher sich
sozusagen verdeckt Fußgänger nähern konnten - nicht oder nur unvollständig zu
übersehen, darf allerdings nur anhaltbereit an den Fußgängerüberweg herangefahren
werden (§ 3 Abs. 1 StVO). Unter diesen Umständen musste der Angeklagte in
besonderem Maße mit der Möglichkeit rechnen, dass überquerungswillige Fußgänger
nicht ohne weiteres erkennbar waren, weshalb von vornherein ein Heranfahren an den
Überweg mit mäßiger Geschwindigkeit geboten war, wobei eine Geschwindigkeit von 40
km/h oder mehr keinesfalls mehr mäßig war (vgl. OLG Düsseldorf, VersR 1974, 1003 …).“
9 3. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte form- und fristgerecht Revision eingelegt, mit
der er die Verletzung materiellen Rechts rügt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat
beantragt, die Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.
II.
10 Das zulässige Rechtsmittel hat (vorläufigen) Erfolg. Das angefochtene Urteil hält
revisionsrechtlicher Überprüfung aus mehreren Gründen nicht stand.
11 1. Die Feststellungen des Landgerichts tragen den Schuldspruch wegen fahrlässiger
Körperverletzung nicht.
12 a) Es kann dahinstehen, ob das Landgericht tragfähige Feststellungen dazu getroffen hat,
ob der Geschädigte an der Unfallstelle überhaupt Vorrang vor dem Angeklagten hatte.
13 Das Urteil bezeichnet die Unfallörtlichkeit zwar als „Fußgängerüberweg“, lässt aber
Ausführungen dazu vermissen, ob der Übergang sichtbar mit dem Zeichen 293 der
Anlage III zur StVO („Zebrastreifen“) markiert war. Nur an einem so markierten Übergang
hätte der Geschädigte gemäß § 26 Abs. 1 S. 1 StVO Vorrang vor dem Angeklagten
gehabt (Burmann / Heß / Jahnke / Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl., § 26 Rn. 3).
„Fußgängerüberweg“ ist ein Rechtsbegriff; der Tatrichter muss feststellen, ob - und
erforderlichenfalls wie - der Übergang markiert war (Burmann / Heß / Jahnke / Janker, a.
a. O., § 26 Rn. 2).
14 Der Einblick in die bei den Akten befindlichen Lichtbilder ist dem Senat verwehrt. Das
Urteil führt zwar aus, dass die Kammer „die Feststellungen zu den Gegebenheiten (…) im
Bereich der Unfallörtlichkeit (…) den Lichtbildern Blatt 46-55, 102 bis 139, 155-159“
entnehme (UA S. 5). Auf bei den Akten befindliche Abbildungen darf gemäß § 267 Abs. 1
S. 3 StPO aber nur wegen der Einzelheiten verwiesen werden. Eine Beschreibung des
Wesentlichsten in knapper Form - hier insbesondere einer möglichen Markierung des
Übergangs mit dem Zeichen 293 der Anlage III zur StVO - wird durch die Verweisung
nicht entbehrlich (Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 267 Rn. 10).
15 b) Auch ausgehend von einem entsprechend markierten Fußgängerüberweg ist das
Urteil jedenfalls deshalb aufzuheben, weil das Landgericht keine Umstände festgestellt
hat, nach denen der Angeklagte, dessen Ausgangsgeschwindigkeit nicht festgestellt
werden konnte, verpflichtet gewesen wäre, mit einer niedrigeren als der an der
Unfallstelle zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h an die Unfallstelle
heranzufahren. Vor diesem Hintergrund kann die Feststellung, dass der Angeklagte den
Unfall bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 40 km/h hätte verhindern können, den
Fahrlässigkeitsvorwurf ebenso wenig begründen wie die Möglichkeit, dass er sich „dem
Fußgängerüberweg mit einer höheren Geschwindigkeit als 40 km/h genähert hatte“. Das
Landgericht hätte zugunsten des Angeklagten vielmehr davon ausgehen müssen, dass
er mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h an die Unfallstelle heranfuhr.
Ob er den Unfall bei dieser Ausgangsgeschwindigkeit hätte verhindern können, ist dem
Urteil nicht zu entnehmen.
16 Eine Verpflichtung des Angeklagten, unabhängig vom Auftauchen des Geschädigten mit
einer niedrigeren als der dort zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h an den
Überweg heranzufahren, ergab sich nach den Urteilsfeststellungen weder aus § 26 Abs.
1 Satz 2 StVO noch aus § 3 Abs. 1 StVO.
17 Nach § 26 Abs. 1 Satz 2 StVO in Verbindung mit Satz 1 dieser Vorschrift muss ein
Fahrzeug „dann“ - und nur dann - mit mäßiger Geschwindigkeit an einen
Fußgängerüberweg heranfahren, wenn ein Fußgänger den Überweg erkennbar
benutzen will (vgl. Burmann / Heß / Jahnke / Janker, a. a. O., § 26 Rn. 4 - 4b).
Abweichenden früheren Entscheidungen - auch derjenigen des Oberlandesgerichts
Düsseldorf, auf die sich das Landgericht beruft - lag eine 1988 außer Kraft getretene
Fassung von § 26 Abs. 1 Satz 2 StVO zugrunde, in der es statt „dann“ „deshalb“ hieß,
was bei wörtlicher Auslegung eine allgemeine Verpflichtung zu mäßiger Geschwindigkeit
vor Fußgängerüberwegen ergab. Diese Auslegung ist mit der aktuellen Fassung des
Gesetzes nicht mehr vereinbar. Dass im vorliegenden Fall vor dem Auftauchen des
Geschädigten ein Fußgänger den Überweg erkennbar benutzen wollte, ist dem Urteil
nicht zu entnehmen.
18 Aus § 3 Abs. 1 StVO ergibt sich nichts anderes. Es gibt keine allgemeine Verpflichtung
eines Kraftfahrers, seine Geschwindigkeit alleine deshalb zu verlangsamen, weil die
nicht ausschließbare Möglichkeit besteht, ein Fußgänger könne den Überweg benutzen
(vgl. OLG Karlsruhe, NZV 1992, 330). Zwar kann etwas anderes gelten, wenn durch
haltende oder parkende Fahrzeuge ein Teil des Überwegs oder der angrenzende
Gehweg für den Kraftfahrer nicht einsehbar ist (vgl. BGH, NJW 1961, 35). Dass dem im
vorliegenden Fall so gewesen wäre, ist dem Urteil aber ebenfalls nicht zu entnehmen; im
Gegenteil ist ausgeführt, dass der Geschädigte bereits „auf dem Gehweg sichtbar“ war
(UA S. 7).
19 In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine Verpflichtung zur Mäßigung der
Geschwindigkeit selbst dann nicht besteht, wenn ein Fußgänger parallel zur Fahrbahn
neben dem Überweg geht (vgl. OLG Karlsruhe, NZV 1992, 330). Vor diesem Hintergrund
begründet die bloße Möglichkeit, dass ein Fußgänger aus einer „kurz hinter dem
Überweg einmündenden Querstraße“ (UA S. 8) - oder auch einem nicht einsehbaren
Hauseingang - auftauchen könnte, möglicherweise eine Verpflichtung zu erhöhter
Aufmerksamkeit, aber noch keine zur Mäßigung der Geschwindigkeit.
20 2. Das Urteil wäre überdies auch deshalb aufzuheben, weil das Landgericht bei der
Strafzumessung ein - sich nach den getroffenen Feststellungen aufdrängendes -
Mitverschulden des Geschädigten nicht erkennbar zugunsten des Angeklagten
berücksichtigt hat.
21 a) Zwar ist die Strafzumessung grundsätzlich Sache des Tatrichters. Das
Revisionsgericht prüft aber, ob die Strafzumessungserwägungen des Tatrichters
rechtsfehlerhaft sind (Meyer-Goßner / Schmitt, a. a. O., § 337 Rn. 34 ff.). Rechtsfehlerhaft
in diesem Sinne ist es auch, wenn Lücken in den Ausführungen zur Rechtsfolge Anlass
zu der Besorgnis geben, der Tatrichter habe wesentliche Gesichtspunkte nicht
berücksichtigt (Franke in: Löwe-Rosenberg, StPO, § 337 Rn. 161). Ein nicht
unerhebliches Mitverschulden des Geschädigten ist - auch wenn es nur nicht
auszuschließen ist - strafmildernd zu berücksichtigen (Theune in: Leipziger Kommentar
zum StGB, 12. Aufl., § 46 Rn. 227, 228). Rechtsfehlerhaft im oben genannten Sinne ist es
deshalb, wenn das Urteil ein festgestelltes Mitverschulden des Geschädigten außer Acht
lässt oder auf ein nicht ausschließbares Mitverschulden des Geschädigten nicht eingeht
(Franke in: Löwe-Rosenberg, StPO, § 337 Rn. 161).
22 b) Ein Fußgänger, der einen Fußgängerüberweg im Sinne von § 26 StVO benutzt, darf
nicht blindlings darauf vertrauen, dass sich nähernde Kraftfahrer ihren Verpflichtungen
aus § 26 Abs. 1 S. 2 StVO nachkommen; er muss sich vor Betreten des Überwegs
mindestens durch einen beiläufigen Blick nach den Seiten von der Verkehrslage
überzeugen und bei erkennbarer Gefährdung durch nah herangekommene
Kraftfahrzeuge mit der Überquerung der Fahrbahn warten (BGH, NJW 1982, 2384).
23 Der Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils ist zu entnehmen, dass es „für die
Kammer nicht sicher fest“ stehe, „dass der Fußgänger S. mindestens eine Sekunde lang
vor dem Betreten des Fußgängerüberweges am Fahrbahnrand innehielt, um sich über
die Verkehrslage zu orientieren“ (UA S. 7). Es bleibt danach offen, ob der Geschädigte
überhaupt in die Richtung des sich nähernden Angeklagten schaute, ob er dessen
Fahrzeug wahrnahm und warum er, falls er es wahrnahm, gleichwohl auf die Straße trat.
Ein Mitverschulden des - zudem alkoholisierten und nach den Feststellungen (UA S. 5
und 6) ortskundigen - Geschädigten drängt sich bei dieser Sachlage geradezu auf.
24 c) Der Mangel betrifft auch das verhängte Fahrverbot. Ein Mitverschulden des
Geschädigten ist - auch wenn es nur nicht auszuschließen ist - als allgemeiner
Strafzumessungsgesichtspunkt auch im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 44
Abs. 1 S. 1 StGB von Bedeutung.