Urteil des OLG Stuttgart vom 07.05.2003

OLG Stuttgart: wiedereinsetzung in den vorigen stand, zustellung, berufungsfrist, öffentliche urkunde, verkündung, auskunft, unrichtigkeit, verfügung, hindernis, verschulden

OLG Stuttgart Beschluß vom 7.5.2003, 16 UF 22/03
Anwaltsverschulden bei Berufung nach Ablauf der absoluten Berufungsfrist: Anwaltspflicht zur Überwachung des Fristablaufs; Wegfalls
eines möglichen Hindernisses an rechtzeitiger Berufungseinlegung
Leitsätze
1. Verzögert sich die Zustellung einer verkündeten Entscheidung ungewöhnlich lange und ist dies in dem betroffenen Richterreferat kein Einzelfall,
so muss der Anwalt dafür Sorge treffen, dass auch der Ablauf der absoluten Berufungsfrist (§ 517 Halbs. 2 ZPO) überwacht wird.
2. Ein mögliches Hindernis an rechtzeitiger Berufungseinlegung, das darin besteht, dass der Partei Art und Inhalt der verkündeten Entscheidung
nicht bekannt ist, entfällt mit deren Zustellung. Wird die Berufung nach Ablauf der absoluten Berufungsfrist und später als zwei Wochen nach
Zustellung der Entscheidung eingelegt, kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht bewilligt werden.
Tenor
1. Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Amtsgerichts - Familiengericht - Geislingen vom 28.6.2002 wird auf Kosten der Klägerin als
unzulässig verworfen.
2. Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 22.836,00 EUR festgesetzt.
3. Der Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist wird zurückgewiesen.
4. Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren wird abgewiesen.
5. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
1
Die Parteien, geschiedene Eheleute, streiten um nachehelichen Unterhalt.
2
1. Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Zahlung nachehelichen Unterhalts von monatlich 1.903,03 EUR, davon 462,72 EUR Vorsorgeunterhalt,
ab Januar 2002 in Anspruch. Über die am 3.1.2002 eingegangene Klage wurde erstmals am 23.1.2002 mündlich (streitig) verhandelt (Bl. 31-34).
Nach Durchführung einer Beweisaufnahme durch Sachverständigengutachten über die Erwerbsfähigkeit der Klägerin und nach Richterwechsel
wurde Termin zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung auf 18.6.2002 und in diesem Termin (Bl. 89-90), in welchem Sachanträge nicht
erneut gestellt wurden, Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf 28.6.2002, 8.20 Uhr, bestimmt. Ausweislich des vom erkennenden
Richter unterzeichneten Verkündungsprotokolls Bl. 93 wurde an diesem Tage eine Entscheidung (die Art der Entscheidung wird aus dem
Verkündungsprotokoll nicht kenntlich) des aus der Anlage ersichtlichen Inhalts durch Bezugnahme auf den entscheidenden Teil verkündet. Das
ursprünglich wohl dem Verkündungsprotokoll angeheftete Folgeblatt enthält einen handschriftlichen, nicht unterschriebenen Urteilstenor unter
der Überschrift "Tenor", der unter Ziff. 1 auf Klagabweisung lautet und unter Ziff. 2 und 3 die Nebenentscheidungen über Kosten und vorläufige
Vollstreckbarkeit sowie anschließend eine Streitwertfestsetzung enthält. Das vollständig abgefasste Urteil gleichen Inhalts, das einen
Verkündungsvermerk "verkündet am 28.6.2002" enthält, wurde den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 20.12.2002 zugestellt. Diese
hatten zuvor am 6.8.2002 und erneut am 15.10.2002 schriftlich sowie nach ihrer anwaltlichen Versicherung mehrfach mündlich um Übersendung
der Entscheidung gebeten und, wie ebenfalls anwaltlich versichert wird, zur Antwort erhalten, es werde "bald etwas geschehen".
3
Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 20.01.2003, der am selben Tag per Telefax beim Oberlandesgericht Stuttgart einging, ließ die
Klägerin Berufung einlegen, die sogleich begründet wurde. Sie verfolgt ihre erstinstanzlich gestellten Anträge weiter.
4
Nachdem zunächst Termin zur mündlichen Verhandlung auf 3.4.2003 bestimmt wurde, wurden die Parteien durch Verfügung des Vorsitzenden
vom 12.3.2003 auf Bedenken gegen die Rechtzeitigkeit der Berufung der Klägerin hingewiesen (Bl. 130). Der Senat behielt sich vor, den
vorgesehenen Termin vom 3.4.2003 aufzuheben und über die Zulässigkeit im Beschlusswege zu entscheiden. Hierauf beantragte die Klägerin
mit Schriftsatz vom 17.3.2003 an das Oberlandesgericht Stuttgart, der am selben Tag einging, vorsorglich die Gewährung von Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand und mit Schriftsatz gleichen Datums an das Familiengericht die Berichtigung des Verkündungsprotokolls, welches den
Tatsachen offenbar nicht entsprechen könne. Durch Beschluss des Familiengerichts vom 28.3.2003 wurde der Antrag auf Berichtigung des
Verkündungsprotokolls vom 28.6.2002 abgelehnt. Die Ablehnung begründete der erkennende Richter damit, dass er an die Umstände des
Verkündungsvorganges keine sichere Erinnerung mehr habe. Er wisse noch, dass bei der Verkündung lediglich der handschriftliche Tenor (Bl.
94 d.A.) vorgelegen habe, noch nicht jedoch die vollständige, mit Tatbestand und Gründen versehene Entscheidung Bl. 95-102 d.A.. Richtig sei
(was der Beklagte zuvor hatte vortragen lassen), dass der Richter anlässlich eines Anrufs der Prozessbevollmächtigten des Beklagten über die
Geschäftsstellenbeamtin habe ausrichten lassen, die Klage sei abgewiesen worden, und dies in einem weiteren Telefonat mit der
Prozessbevollmächtigten des Beklagten bestätigt habe, wobei er an zeitliche Daten diesbezüglich keine sichere Erinnerung mehr habe. Er habe
die Akte zeitweilig zu Hause bearbeitet und dort auch das mit Tatbestand und Entscheidungsgründen versehene Urteil fertiggestellt. Es treffe
auch zu, dass auf Anfragen des Prozessbevollmächtigten des Klägers bzw. dessen Kanzlei mitgeteilt worden sei, die Entscheidung sei noch
nicht fertiggestellt.
5
Die Klägerin stellt nicht in Abrede, dass am Tage des Verkündungstermins die Prozessbevollmächtigte des Beklagten bei der Geschäftsstelle des
Familiengerichts nach dem Inhalt der verkündeten Entscheidung gefragt und eine ihr günstige Auskunft erhalten habe. Allerdings habe der
Richter anlässlich dieses Telefonats nicht, wie der Beklagte behauptet, ausrichten lassen, er habe die Klage abgewiesen, sondern er werde die
Klage abweisen. Falls es auf den Wortlaut dieser Äußerung ankomme, bittet sie um Einholung einer dienstlichen Auskunft der
Geschäftsstellenbeamtin. Infolge dessen sei das Verkündungsprotokoll inhaltlich falsch; tatsächlich sei eine Entscheidung nicht verkündet
worden, diese sei vielmehr erst mit Zustellung des Urteils existent geworden. Die Berufung sei deshalb rechtzeitig eingelegt.
6
Hilfsweise bittet sie um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Aufgrund der verspäteten Zustellung des Urteils und der Vergeblichkeit der zuvor
gehaltenen Sachstandsanfragen habe sie erst mit der Zustellung des Urteils erkennen können, dass die Entscheidung sie beschwere. Dass die
Entscheidung bereits 5 ½ Monate vor Zustellung verkündet worden sei, habe ihr Prozessbevollmächtigter nur anhand des Verkündungsvermerks
auf dem Urteil bemerken können; darauf zu achten und die absolute Berufungsfrist des § 517, Halbsatz 2, ZPO zu überwachen, bedeute eine
Überspannung anwaltlicher Sorgfaltspflichten.
7
Der Beklagte beantragt, die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet abzuweisen, und den Antrag auf
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückzuweisen. Er lässt vortragen und anwaltlich versichern, bei der Erkundigung seiner
Prozessbevollmächtigten über den Ausgang des Verfahrens am 28.6.2002 habe der Richter per Zuruf an die Geschäftsstellenbeamtin, die am
Telefon gewesen sei, ausrichten lassen, er habe die Klage abgewiesen (nicht: er werde die Klage abweisen). Dies habe sie am selben Tag noch
dem Mandanten mitgeteilt.
8
2. Die Berufung ist unzulässig, weil verspätet. Sie wahrt zwar die Regelfrist des § 517 Halbsatz 1 ZPO, jedoch nicht die absolute Berufungsfrist
des § 517 Halbsatz 2. Diese begann mit Ablauf des 28.11.2002 und endete mit Ablauf des 30.12.2002 (Montag).
9
a) Das Verkündungsprotokoll vom 28.6.2002 erbringt als öffentliche Urkunde vollen Beweis dafür, dass an diesem Tag eine Entscheidung des
aus der Anlage ersichtlichen Inhalts verkündet worden ist (§ 415 Abs. 1 ZPO). Die Beweiskraft des Protokolls kann nur durch den Nachweis der
Fälschung erschüttert werden (Abs. 2 der Vorschrift). Dieser ist nicht geführt.
10 Eine wirksame Verkündung setzt nicht voraus, dass das Urteil mit einer Begründung versehen und/oder unterschrieben ist, was hier beides nicht
der Fall war. Ein Nichturteil, welches auch nicht wirksam verkündet sein könnte, liegt nur vor, wenn es in keiner Form verkörpert ist. Erforderlich,
aber auch ausreichend ist die vorherige Abfassung des Urteilstenors, selbst in Kurzschrift (BGH, NJW 1999, 794). Dass ein solcher vorgelegen
hat, ergibt sich aus dem Protokoll, solange dessen Unrichtigkeit nicht nachgewiesen ist. Indiziell spricht hierfür auch, dass der Familienrichter den
wesentlichen Inhalt der Entscheidung kurz nach der Verkündung gegenüber der Prozessbevollmächtigten des Beklagten zutreffend
wiedergegeben hat. Auf den genauen Wortlaut seiner hierbei abgegebenen Erklärung kommt es nach der Auffassung des Senats nicht an; es ist
nicht unvorstellbar, dass ein Richter, der den Tenor der Entscheidung bereits verkündet, die Urteilsgründe aber noch nicht abgesetzt hat, die
Formulierung wählt, er werde die Klage abweisen (statt: er habe die Klage abgewiesen). Die Einholung einer dienstlichen Auskunft der
Geschäftsstellenbeamtin kann deshalb nicht zum Nachweis der Unrichtigkeit des Protokolls führen. Entsprechendes gilt für die ausweichenden
Antworten des Richters auf die Sachstandsanfragen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin.
11 b) Der Klägerin kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsfrist nicht bewilligt werden, denn sie war
nicht ohne ihr Verschulden außer Stande, die absolute Berufungsfrist einzuhalten. Sie muss sich in diesem Zusammenhang nämlich ein
Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen. Diesem war der Verkündungstermin ordnungsgemäß bekannt gemacht worden.
Er weist selbst darauf hin, dass es auch in einer nicht geringen Zahl anderer Fälle beim selben Richter, der erst seit kurzem für Familiensachen
zuständig ist, dazu gekommen sei, dass Entscheidungen nicht zeitnah zum Verkündungstermin zugestellt würden und dass die Anwälte, deren
Sachstandsanfragen erfolglos geblieben seien, bis zur Zustellung der Entscheidung im Ungewissen seien, ob der Verkündungstermin verlegt
worden sei oder nicht. Gerade wenn sich in einem Richterreferat derartige Unregelmäßigkeiten auffällig häufen, besteht Anlass für die hiervon
betroffenen Anwälte, die Einhaltung der absoluten Berufungsfrist zu überwachen, und zwar persönlich, weil ein Routinefall, in dem die
Überwachung dem Kanzleipersonal überlassen werden kann, nicht vorlag (BGH, NJW 1989, 1156). Die Frist des § 517, 2. Halbsatz, ZPO soll
gerade den Eintritt der Rechtskraft trotz fehlender oder mangelhafter Zustellung sichern; sie hätte keinen Sinn, wenn ihre Nichteinhaltung bei
fehlender Zustellung praktisch stets folgenlos bliebe.
12 c) Auch wenn man die Einlegung einer Berufung für unzumutbar hält, so lange der Partei Art und Inhalt der verkündeten Entscheidung und somit
das Ausmaß ihrer Beschwer nicht bekannt ist, fällt hier ins Gewicht, dass das Urteil zwar mit erheblicher Verspätung, aber noch 10 Tage vor
Ablauf der absoluten Berufungsfrist, die am 28.11.2002 zu laufen begann und somit am Montag, dem 30.12.2002, abgelaufen ist, zugestellt
wurde. Auf dem Urteil war das Verkündungsdatum ersichtlich. Jegliche Ungewissheit über das tatsächliche Verkündungsdatum wie auch über
den Inhalt der Entscheidung war damit beseitigt. Damit entfiel das Hindernis an rechtzeitiger Berufungseinlegung. Spätestens 2 Wochen danach,
somit am 2. Januar 2003, hätte die Berufung eingehen müssen, um wenigstens die Wiedereinsetzungsfrist zu wahren (§ 234 Abs. 1 und 2 ZPO).
13 c) Die Berufung ist deshalb mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO als unzulässig zu verwerfen.
14 3. Mangels Erfolgsaussicht der Berufung kann Prozesskostenhilfe hierfür nicht bewilligt werden.
15 4. In seiner Entscheidung vom 6.12.1988 (NJW 1989, 1156), die einen vergleichbaren Fall betrifft, hat der BGH die
Wiedereinsetzungsvoraussetzungen ebenfalls verneint, dabei jedoch ausdrücklich dahinstehen lassen, ob in einer Anwaltskanzlei für den Fall,
dass sich die Zustellung eines bereits verkündeten Urteils ungewöhnlich verzögert, generell Vorkehrungen zur Beobachtung der 5-Monatsfrist zu
verlangen seien. Im seinerzeit entschiedenen Fall war dem Prozessbevollmächtigten der unterlegenen Partei, wie sich aus dem Inhalt seiner vor
Zustellung des Urteils erfolgten Sachstandsanfragen entnehmen ließ, tatsächlich bewusst, dass der Ablauf der absoluten Berufungsfrist zu
befürchten stand. Derartige Anhaltspunkte ergeben sich im vorliegenden Fall nicht. Zur Fortbildung des Rechts erscheint hierzu eine
Entscheidung des BGH erforderlich. Dies gebietet die Zulassung der Rechtsbeschwerde (die nach neuem Zivilprozessrecht im Falle einer
Verwerfung der Berufung als unzulässig nicht mehr kraft Gesetzes eröffnet ist).
16 5. Die Festsetzung des Berufungsstreitwerts beruht auf § 17 Abs. 1 GKG.