Urteil des OLG Stuttgart vom 26.02.2014

OLG Stuttgart: vorbereitung der verteidigung, einstellung des verfahrens, abgrenzung, konkretisierung, ordnungswidrigkeit, mangel, verfall, auflage, gewerbe, handbuch

OLG Stuttgart Beschluß vom 26.2.2014, 2 Ss 616/13
Leitsätze
Ein Bescheid über die selbständige Anordnung des Verfalls gem. § 29a Abs. 4 OWiG ist
unwirksam, wenn er keine Angaben dazu enthält, welche konkreten mit Geldbuße bedrohten
Handlungen im Sinne von § 29a Abs. 2 OWiG ihm zu Grunde liegen.
Bei einem solchen Mangel ist das Verfahren einzustellen.
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Rottweil vom 28.
Januar 2013 mit den Feststellungen
a u f g e h o b e n .
Das Verfahren wird
e i n g e s t e l l t .
Die Kosten des Verfahrens und die der Betroffenen entstandenen notwendigen Auslagen trägt
die Staatskasse.
Gründe
I.
1
Das Landratsamt R. verfügte gegen die Betroffene mit Bescheid vom 10. Januar 2011
nach § 29a Abs. 2 und Abs. 4 OWiG selbständig den Verfall eines Geldbetrages in Höhe
von 21.893,40 EUR zzgl. Auslagen. Dieser Bescheid legt zu Grunde, dass die Betroffene
als Spedition in der Zeit vom 1. Juli 2009 bis zum 31. Dezember 2010 durch rund 2449
Stunden Lenkzeitüberschreitungen ihrer 14 Fahrer Aufwendungen in Höhe des
angeordneten Verfalls erspart habe. Weitere Angaben zu den Fahrern, den Fahrzeugen,
den Tatzeiten und den Tatorten enthält der Verfallsbescheid nicht.
2
Auf den Einspruch der Betroffenen ordnete das Amtsgericht Rottweil durch Urteil vom 28.
Januar 2013 ebenfalls den Verfall eines Geldbetrages in Höhe von 21.893,40 EUR an.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Betroffene mit der Rechtsbeschwerde. Sie rügt die
Verletzung materiellen Rechts.
II.
3
Die Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils gem. § 79 Abs. 3
OWiG, § 349 Abs. 4 StPO und zur Einstellung des Verfahrens gem. § 46 Abs. 1 OWiG, §
206a StPO. Es besteht ein Verfahrenshindernis, weil der Verfallsbescheid unwirksam ist.
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Ein selbständiges Verfahren über den Verfall nach § 29a Abs. 4 OWiG kann nur auf
Grund eines wirksamen Verfallsbescheids durchgeführt werden, ebenso wie ein
Bußgeldverfahren einen wirksamen Bußgeldbescheid voraussetzt. Zwar ist nicht jeder
Mangel des Bescheids beachtlich. Unwirksam ist der Bescheid aber dann, wenn es
wegen schwerwiegender Mängel an einer Grundlage für die gerichtliche
Sachentscheidung fehlt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn das zu Grunde
liegende Tatgeschehen unzureichend begrenzt ist. So liegt der Fall hier.
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1. Ein Bußgeldbescheid muss nach § 66 Abs. 1 Nr. 3 OWiG unter anderem die Tat, die
dem Betroffenen zur Last gelegt wird, sowie Zeit und Ort ihrer Begehung bezeichnen.
Dem genügt die Angabe der abstrakten gesetzlichen Tatbestandsmerkmale nicht.
Vielmehr ist der Sachverhalt, in dem die Verwaltungsbehörde den Tatbestand einer
Ordnungswidrigkeit erblickt, unter Anführung der Tatsachen, die die einzelnen
Tatbestandsmerkmale erfüllen, als geschichtlicher Lebensvorgang so konkret zu
schildern, dass dem Betroffenen erkennbar wird, welches Tun oder Unterlassen
Gegenstand der Ahndung sein soll, gegen welchen Vorwurf er sich daher verteidigen
muss. Nur dann ist ein rechtsstaatliches Verfahren gewährleistet. Für den
Bußgeldbescheid als Prozessvoraussetzung ist seine Aufgabe wesentlich, den
Tatvorwurf in persönlicher, sachlicher und rechtlicher Hinsicht von anderen denkbaren
Tatvorwürfen abzugrenzen. Diese Aufgabe erfüllt er in sachlicher Hinsicht, wenn nach
seinem Inhalt kein Zweifel über die Identität der Tat entstehen kann, wenn also
zweifelsfrei feststeht, welcher Lebensvorgang erfasst und geahndet werden soll. Andere
Mängel in der Bezeichnung der Tat, die die Abgrenzung von anderen Taten nicht in Frage
stellen, sondern nur die Vorbereitung der Verteidigung des Betroffenen erschweren,
beeinträchtigen die Rechtswirksamkeit des Bußgeldbescheids nicht (grundlegend BGH,
Beschluss vom 8. Oktober 1970, 4 StR 190/70, BGHSt 23, 336 ff., bei juris insbesondere
Rn. 4 und 6; seither wohl ständige Rechtsprechung, vgl. etwa OLG Bamberg, Beschluss
vom 12. August 2008, 3 Ss OWi 896/08, DAR 2009, 155).
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Nach der zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs können Mängel des
Bußgeldbescheids hinsichtlich der Tatidentität weder mit Hilfe anderer Erkenntnisquellen,
etwa dem Akteninhalt im Übrigen, ergänzt noch nachträglich etwa durch Hinweise in der
Hauptverhandlung geheilt werden. Dies beruht auch auf der Überlegung, dass der
Bußgeldbescheid, sofern er nicht angefochten wird, selbst in Rechtskraft erwächst und
deshalb auch selbst die für seine Wirksamkeit notwendigen Voraussetzungen erfüllen,
d.h. die Gefahr einer Verwechslung mit einer möglichen gleichartigen Ordnungswidrigkeit
desselben Betroffenen ausschließen muss (BGH a.a.O., juris Rn. 6). Für das
Strafverfahren hat es der Große Senat für Strafsachen ausgeschlossen, die für die
Umgrenzungsfunktion erforderlichen individualisierenden Merkmale der vorgeworfenen
Tat aus dem Anklagesatz auszuklammern (BGH GS, Beschluss vom 21. Januar 2011,
GSSt 1/10, BGHSt 56, 109 ff., bei juris insbes. Rn. 19).
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Die Auffassung des Bundesgerichtshofs hinsichtlich des Rückgriffs auf die Akten zur
Ergänzung des Bußgeldbescheids ist allerdings umstritten. Die Rechtsprechung hat in
einigen Fällen zumindest erwogen, den Akteninhalt zur „erforderlichen Konkretisierung“
heranzuziehen (insbesondere BayObLG, Beschluss vom 14. Juli 1998, 2 ObOWi 325/98,
DAR 1998, 479). In den Kommentaren sind die Auffassungen zur Ergänzbarkeit des
Bußgeldbescheids geteilt. Insbesondere Seitz ist der Auffassung, die hinreichende
Bestimmtheit verlange nicht, dass das Gericht allein aus dem Inhalt des
Bußgeldbescheides eindeutig entnehmen könne, welche konkrete Handlung dem
Betroffenen zur Last gelegt werde; auch er sieht aber die Begrenzung des Tatgeschehens
im Bußgeldbescheid als Aufgabe der Verwaltungsbehörde (Seitz in Göhler, OWiG, 16.
Aufl., § 66 Rn. 39a). Herrmann ist ebenfalls der Auffassung, Mängel der
Tatbestandsabgrenzung könnten durch andere Erkenntnisquellen, beispielsweise den
Akteninhalt, „geheilt“ werden, wenn bei vernünftiger Betrachtung für den Betroffenen keine
Zweifel über die Identität der Tat entstehen könnten, also keine Verwechslungsgefahr mit
einem anderen einheitlichen Lebensvorgang bestehe; hierfür seien die Umstände des
Einzelfalls maßgebend, insbesondere wie wahrscheinlich es sei, dass der Betroffene zu
der angegebenen Zeit und in dem angegebenen Raum weitere gleichartige
Ordnungswidrigkeiten begangen habe (Herrmann in Rebmann/Roth/Herrmann, Gesetz
über Ordnungswidrigkeiten, § 66 Rn. 25 f.). Demgegenüber spricht sich insbesondere
Kurz gegen die Möglichkeit aus, den Bußgeldbescheid aus anderen Erkenntnisquellen zu
ergänzen (Kurz in Karlsruher Kommentar zum OWiG, 3. Aufl., § 66 Rn. 13 und 14).
Einigkeit besteht in der Zustimmung zu dem Beschluss des Oberlandesgerichts
Düsseldorf vom 21. Januar 1998 (5 Ss [OWi] 372/97, VRS 95, 40). Nach dieser
Entscheidung genügt ein Bußgeldbescheid, der dem Betroffenen zur Last legt, ein
untersagtes Gewerbe ausgeübt zu haben, nicht den Anforderungen, die an einen
wirksamen Bußgeldbescheid zu stellen sind. Ein solcher Bescheid ist nicht geeignet,
Grundlage des gerichtlichen Bußgeldverfahrens zu sein, wenn konkrete Tathandlungen
nach Art, Zeit und Ort ihrer Begehung nicht mitgeteilt werden. Das bedeutet, dass auch
bei umfangreichen Tatvorwürfen mit einer Vielzahl von Einzelhandlungen sämtliche
vorgeworfenen Einzelfälle im Bußgeldbescheid aufgeführt werden müssen (so Wieser in
Handbuch des Bußgeldverfahrens, 6. Auflage, S. 377).
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2. Nach § 87 Abs. 3 und Abs. 6 OWiG gilt für einen Verfallsbescheid § 66 Abs. 1 Nr. 3
OWiG entsprechend. Diese Bestimmung trägt dem Umstand Rechnung, dass Grundlage
der Anordnung des Verfalls nach § 29a Abs. 2 und Abs. 4 OWiG die mit Geldbuße
bedrohte Handlung im Sinn von § 1 Abs. 2 OWiG ist (Entwurf der Bundesregierung eines
2. Gesetzes zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, BT-Drs. 10/318 S. 37, 38).
Dementsprechend setzt die Anordnung des Verfalls die Feststellung der mit Geldbuße
bedrohten Handlung voraus. Der Verfallsbescheid hat die Ordnungswidrigkeit mit Tatzeit,
Tatort und Tathergang zu enthalten (Wieser aaO S. 476). Die Gründe eines Urteils
müssen ebenfalls die einzelnen Taten feststellen und auch hinreichend erkennen lassen,
wen der Tatrichter als Täter der mit Geldbuße bedrohten Handlung angesehen hat (OLG
Karlsruhe, Beschluss vom 19. Februar 2012, 2 SsBs 457/11, ZfSch 2013, 172 f.). Die zu
Grunde liegenden, mit Geldbuße bedrohten Handlungen ausreichend abzugrenzen ist
nicht zuletzt auch deshalb notwendig, weil wegen des Verfalls ein selbständiges
Verfahren nach § 29a Abs. 4 OWiG nur durchgeführt werden darf, wenn gegen den Täter
selbst ein Bußgeldverfahren wegen dieser Tat nicht eingeleitet oder eingestellt worden
ist.
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3. Nach dem Maßstab, der sich daraus ergibt, ist der Verfallsbescheid vom 10. Juni 2011
unwirksam, weil die Taten, die der Anordnung des Verfalls zu Grunde liegen, nicht
bezeichnet sind.
10 Die mit Geldbuße bedrohten Handlungen im Sinn von § 29a Abs. 2 OWiG sind in diesem
Fall die von den Fahrern der Betroffenen begangenen einzelnen
Lenkzeitüberschreitungen. Maßgeblich für die Abgrenzung der einzelnen Taten ist auch
bei Serienverstößen gegen Lenk- und Ruhezeitvorschriften im Straßenverkehr der
allgemeine prozessuale Tatbegriff des Strafrechts, wie sich aus der Verweisung des § 46
Abs. 1 OWiG ergibt (BGH, Beschluss vom 12. September 2013, 4 StR 503/12, NJW 2013,
3668). Deshalb kommt es auch in diesem Fall auf die einzelnen Überschreitungen an, die
jeweils als rechtlich selbständig zu bewerten sind.
11 Die Lenkzeitverstöße der Fahrer sind in dem Verfallsbescheid nicht bezeichnet. Dort ist
der erfasste Gesamtzeitraum angegeben, nämlich die Zeit vom 1. Juli 2009 bis zum 31.
Dezember 2010. Auch findet sich die Summe der Überschreitungen mit 2449 Stunden
und die Zahl von 14 Fahrern. Außerdem werden Hinweise gegeben, wie die Einsparung
an Lohnkosten ermittelt wurde, nämlich auf Grund einer Gesamtberechnung der zu
Grunde gelegten täglichen und wöchentlichen Lenkzeit (dreimal neun Stunden und
zweimal zehn Stunden in der Woche) sowie des ermittelten (durchschnittlichen?)
Bruttostundenlohnes von 8,94 EUR. Schließlich ist noch angeführt, welche Toleranzen
bei der Berechnung der Überschreitung der täglichen Lenkzeit eingeräumt wurden.
Dagegen sind die Namen der Fahrer, die Kennzeichen der Fahrzeuge, die jeweiligen
Tatzeiten und die Tatorte nicht angegeben. Der Bescheid führt auch aus, dass die
verantwortlichen Fahrer der Betroffenen vorsätzliche Verstöße gegen Art. 6 der
Verordnung (EG) 561/2006 und nach § 8a Abs. 2 Nr. 1 FPersG begangen hätten. Ob und
in welchem Umfang die Fahrer selbst deshalb verfolgt wurden, ist aber nicht dargelegt.
Das angefochtene Urteil stellt fest, dass gegen einzelne Fahrer der Betroffenen
Bußgeldbescheide ergangen seien, die betreffenden Stunden seien bei der Berechnung
der Gesamtstundenzahl in diesem Verfahren nicht berücksichtigt.
12 Damit unterlässt es der Verfallsbescheid, die zu Grunde liegenden Taten zu
individualisieren. Darin läge auch dann ein durchgreifender Mangel, wenn, wie dies der
Verfallsbescheid zunächst nahelegt, alle Lenkzeitüberschreitungen der Fahrer der
Betroffenen in dem bezeichneten Gesamtzeitraum erfasst wären. Hier kommt allerdings
hinzu, dass Gegenstand des Verfallsbescheid tatsächlich nur ein Teil der in der fraglichen
Zeit begangenen Lenkzeitverstöße sein soll, was durch den Akteninhalt bestätigt wird.
Der Verfallsbescheid macht aber nicht deutlich, dass verschiedene
Lenkzeitüberschreitungen, wegen der Fahrer verfolgt wurden, nicht berücksichtigt sind,
zudem fehlt es an jeglicher Konkretisierung der nicht berücksichtigten Taten. Damit blieb
für die Betroffene weitgehend unklar, welche konkreten Fahrten ihrer Fahrer der
Anordnung des Verfalls zu Grunde gelegt wurden.
13 Da der Verfallsbescheid die Abgrenzung einzelner Taten vermissen lässt, ist auch eine
„Konkretisierung“ anhand der Akten nicht möglich, ohne dass es auf den oben
bezeichneten Streitstand ankommt. Eine Abgrenzung allein auf Grund des Akteninhalts ist
jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn der Verfallsbescheid auf die Abgrenzung ganz
verzichtet.
14 Der Senat hat bedacht, dass gerade im Bußgeldverfahren die Anforderungen an die
Konkretisierung des Sachverhalts nicht übertrieben werden dürfen. Da das
Bußgeldverfahren eine schnelle und Verwaltungskosten einsparende Ahndung der
Ordnungswidrigkeiten bezweckt, verbietet sich eine ausführliche Schilderung des
Sachverhalts von selbst. Auch ein in Rechtsfragen unerfahrener Bürger muss jedoch den
Vorwurf verstehen können (BGH aaO). Dem kann in Fällen der vorliegenden Art dadurch
Rechnung getragen werden, dass die zu Grunde liegenden Taten tabellarisch aufgeführt
werden, z.B. unter Benennung des Fahrers, des Fahrzeugs, Beginn und Ende der Fahrt
sowie des örtlichen Bereichs der Fahrt. Dann sind die zu Grunde liegenden Taten so
konkretisiert, dass auch gegen die Anordnung des Verfalls eine ausreichende
Verteidigung möglich ist.
15 4. Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 46 Abs. 1 OWiG, 467 Abs. 1 StPO.