Urteil des OLG Stuttgart vom 26.09.2013

OLG Stuttgart: arglistige täuschung, eintritt des versicherungsfalles, verletzung der anzeigepflicht, gesundheitszustand, versicherungsnehmer, befund, rückzahlung, rücktritt, widerklage, versicherer

OLG Stuttgart Urteil vom 26.9.2013, 7 U 101/13
Leitsätze
1. Wird ein Kunde im Wege der sog. "Kaltakquise" (Ausspannen von Kunden) nach wiederholten
Besuchen gewonnen, kann dies die üblichen Indizien für Arglist bei unvollständigen
Gesundheitsangaben stark entwerten.
2. Die Platzierung der Hinweise auf die Rechtsfolgen falscher Gesundheitsangaben in einem
Antragsformularsatz auf der letzten Seite, mehrere Seiten nach der Unterschrift, kann bei der
Antragstellung leicht übersehen werden und ist aus diesem Grund nicht ausreichend, so dass
der Versicherer u. a. sein Recht zum Rücktritt nicht ausüben kann (im Anschluss an BGH, VersR
2013, 297).
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Hechingen vom 30.4.2013, AZ
1 O 344/12
abgeändert:
1. Es wird festgestellt, dass der bei der Beklagten unter der Versicherungsnr. …
bestehende Krankenversicherungsvertrag des Klägers durch Rücktritt oder
Anfechtung der Beklagten nicht erloschen ist und zu unveränderten Bedingungen
fortbesteht.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 4.851,54 EUR nebst Zinsen in Höhe
von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 1.11.2012 zu bezahlen.
3. Die Beklagte wird verurteilt, vorgerichtliche Anwaltsgebühren in Höhe von
1.307,81 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz
seit 22.12.2012 zu bezahlen.
4. Die Widerklage der Beklagten wird abgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen.
III. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die
Vollstreckung des Klägers durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren
Geldbetrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor Vollstreckungsbeginn Sicherheit in Höhe von
110% des jeweils beizutreibenden Geldbetrags leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Streitwert des Berufungsverfahrens:
Berufungsantrag Ziffer 1: 443,79 EUR * 12 * 3,5 (§§ 3, 9 GKG) = 18.639,18 EUR
Berufungsantrag Ziffer 2:
4.851,54 EUR
Berufungsantrag Ziffer 3: kein Wert, da Kosten
0,00 EUR
Berufungsantrag Ziffer 4:
6.972,47 EUR
Summe:
30.463,19 EUR
Gründe
I.
1 Gegenstand der Klage ist die Feststellung des Fortbestandes eines Kranken- und
Pflegeversicherungsvertrags trotz Anfechtungs- und Rücktrittserklärung der Beklagten
sowie Leistungsansprüche auf Erstattung von Krankheitskostenaufwendungen;
widerklagend verlangt die Beklagte Rückzahlung bereits erstatteter Krankheitskosten.
2 Der am … geborene, als orthopädischer Schuhmachermeister selbständig erwerbstätige
Kläger beantragte am 12.2.2009 bei der Beklagten den Abschluss einer privaten Kranken-
und Pflegeversicherung mit Wirkung zum 1.1.2010. Im Formularsatz des
Versicherungsantrags (aus Bl. 6/1 – 6/3 d. A. ersichtlich), war auf der 4. Seite die aus
Anlage BB1 (Bl. 104 d. A.) ersichtliche „Schlusserklärung des Antragstellers und der zu
versichernden Person(en)“ abgedruckt und als weiterer Anhang die „Wichtigen Hinweise
zur Anzeigepflicht“ angefügt (Anlage BB 2, Bl. 105 d. A.). Die Beklagte nahm den Antrag
gegen Risikozuschläge wegen Fehlsichtigkeit und Übergewicht an. Grund für den
Wechsel vom alten Kranken-Versicherer des Klägers (… -Versicherung) zur Beklagten
waren Kostenersparnisse von 400 – 500 EUR/Monat.
3 Anlässlich verschiedentlicher Krankenkostenabrechnungen ermittelte die Beklagte durch
Rückfragen bei den behandelnden Ärzten, dass der Kläger sich im August 2008 mehrfach
wegen einer Gonarthrose (Kniegelenksarthrose) und von Februar 2007 bis April 2008
mehrfach wegen arterieller Hypertonie hatte behandeln lassen. Weil der Kläger diese
Behandlungen trotz ausdrücklicher Fragen zu seinem Gesundheitszustand im
Versicherungsantrag nicht angegeben, sondern der Versicherungsvermittler – wie die
Beklagte behauptet – auf die entsprechenden Angaben des Klägers hin lediglich vermerkt
hatte „Kontrolluntersuchungen – ohne Befund“ (vgl. Anlage Bl. 6 – 6/3 d. A.), erklärte die
Beklagte mit Schreiben vom 19.7.2012 (Anl. Bl. 6/4 d. A.) die Anfechtung ihrer
Annahmeerklärung und den Rücktritt vom Vertrag.
4 Hiergegen wendet sich der Kläger mit seinem Feststellungsbegehren, dass der
Versicherungsvertrag ungeachtet der Gestaltungserklärungen der Beklagten fortbestehe.
Er machte erstinstanzlich - erstmals in der mündlichen Verhandlung vom 29.4.2013 -
geltend, seine Knie- und Herz-/Kreislaufbeschwerden dem Versicherungsvermittler
offenbart zu haben, der dies jedoch nicht für anzeigepflichtig gehalten habe.
5 Darüber hinaus verlangt der Kläger die Erstattung weiterer angeblich angefallener
Krankheitskosten in Höhe von 4.851,54 EUR, die die Beklagte im Hinblick auf ihre
Anfechtungs- und Rücktrittserklärung abgelehnt hatte.
6 Widerklagend begehrt die Beklagte Rückzahlung von Krankheitskostenerstattungen, die
sie unstreitig in Höhe von 6.972,47 EUR an den Kläger bereits gezahlt hatte.
7 Sie ist der Auffassung, dass der Kläger die an ihn gerichteten Gesundheitsfragen
vorsätzlich und arglistig täuschend unzutreffend beantwortet habe, indem er seine
Vorerkrankungen verschwiegen habe. Sie stützt diesen Vorwurf ergänzend auf neue
Erkenntnisse, die sich aus der vor dem Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme
ergeben hätten. In seiner schriftlichen Zeugenaussage gab nämlich der Arzt … an, den
Kläger nicht nur wegen arterieller Hypertonie ständig medikamentös behandelt zu haben,
sondern auch wegen einer chronischen Refluxerkrankung, einer akuten Schwindelattacke
im September 2007 und eines Tinnitus nach Knalltrauma im März 2008. Schließlich habe
er wegen einer Aortenklappeninsuffizienz Grad I am 1.4.2008 eine Kontrolle durchgeführt.
Weiter sei aus den schriftlichen Zeugenangaben des Facharztes für Orthopädie …
ersichtlich, dass der Kläger wegen eines Innenmeniskus-Hinterhornrisses habe operativ
versorgt werden müssen, was auf die verschwiegene Gonarthrose zurückzuführen sei.
8 Wegen der Einzelheiten des Parteivortrags und des Sach- und Streitstandes im ersten
Rechtszug wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils verwiesen.
9 Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und den Kläger entsprechend dem
Widerklageantrag der Beklagten zur Rückzahlung der erhaltenen
Krankheitskostenerstattungen verurteilt. Das Landgericht stützte dies maßgeblich auf
seine Überzeugung, dass der Kläger seine Vorerkrankungen bei Stellung des
Versicherungsantrags vorsätzlich verschwiegen habe. Dies habe die Beklagte zum
Rücktritt berechtigt. Als dessen Folge sei das Vertragsverhältnis nur noch auf
Rückabwicklung gerichtet. Die Beklagte könne deshalb die Rückzahlung der bereits
erstatteten Krankheitskosten verlangen, während dem Kläger aus dem
rückabzuwickelnden Versicherungsvertrag keine Leistungsansprüche mehr zustünden.
10 Wegen der tatsächlichen Feststellungen, die das Landgericht getroffen hat, sowie seiner
rechtlichen Erwägungen wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils
Bezug genommen.
11 Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzliches Ziel in vollem Umfang weiter.
Er greift das landgerichtliche Urteil wie folgt an:
12 Die tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts seien fehlerhaft. Tatsächlich habe er
dem Versicherungsvermittler alle Vorerkrankungen offenbart. Der Versicherungsvermittler
habe dies jedoch für unerheblich erachtet und den unstreitigen Eintrag als Antwort auf die
Gesundheitsfragen vorgenommen („Kontrolluntersuchungen – ohne Befund“). Das
Landgericht habe fehlerhaft das Gegenteil festgestellt.
13 Neu trägt der Kläger vor, der Beklagten sei es signifikant auf eine vollständige
Offenbarung aller Vorerkrankungen gar nicht angekommen. Sonst hätte sie nämlich aus
dem Begriff der Kontrolluntersuchung ableiten können, dass es Vorerkrankungen geben
müsse, die der Kontrolle bedürften. Trotzdem habe sie – von Marginalien wie der
Ermittlung des nicht angegebenen Körpergewichtes abgesehen – nicht um weitere
Aufklärung gebeten oder gar Rückfrage bei den behandelnden Ärzten gehalten. Dies wäre
im Hinblick darauf, dass das Vertragsverhältnis erst 9 1/2 Monate nach Antragstellung
beginnen sollte, ohne weiteres und ohne Zeitdruck möglich gewesen. Dies lasse darauf
schließen, dass die Beklagte gar nicht an umfassender Aufklärung des
Gesundheitszustand interessiert gewesen sei. Im Gegenteil habe sie die bestehende
Ungewissheit bewusst ausgenutzt, um sich im Bedarfsfall später auf angeblich verletzte
Offenbarungsobliegenheiten berufen zu können.
14 Die Widerklage der Beklagten sei im Hinblick auf die Fristenregelung in § 21 VVG
verspätet erhoben worden und erweise sich bereits aus diesem Grunde als unbegründet.
15 Der Kläger beantragt:
16 1) Unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Hechingen vom 30.4.2013, AZ 1 O
344/12, wird festgestellt, dass der bei der Beklagten unter der Versicherungsnr. …
bestehende Krankenversicherungsvertrag durch Rücktritt oder Anfechtung nicht
erloschen ist und zu unveränderten Bedingungen fortbesteht.
17 2) Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 4.851,54 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 1.11.2012 zu bezahlen.
18 3) Die Beklagte wird verurteilt, vorgerichtliche Anwaltsgebühren in Höhe von 1.307,81
EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab
Klagezustellung [21.12.2012] zu bezahlen.
19 4) Die Widerklage der Beklagten wird abgewiesen.
20 Die Beklagte beantragt:
21 Die Berufung wird zurückgewiesen.
22 Unter Bezugnahme auf ihr erstinstanzliches Vorbringen verteidigt sie das angefochtene
Urteil.
II.
23 Die zulässige Berufung des Klägers hat Erfolg. Die Klage ist nämlich zulässig und
begründet.
24 1. Zum Berufungsantrag Ziffer 1:
25 Zu Recht begehrt der Kläger die Feststellung, dass der Krankenversicherungsvertrag mit
der Beklagten unverändert fortbesteht, insbesondere weder durch die
Anfechtungserklärung der Beklagten gem. § 142 Abs. 1 BGB rückwirkend wirkungslos
noch durch die gleichzeitige Rücktrittserklärung gem. § 19 Abs. 2 VVG in ein
Rückabwicklungsverhältnis mit Erlöschen der bisherigen Leistungspflichten umgewandelt
worden ist.
26 1.1 Die Anfechtungserklärung der Beklagten vom 19.7.2011 ging aus tatsächlichen
Gründen ins Leere. Der Senat vermag nämlich nicht festzustellen, dass der Beklagten das
erforderliche Anfechtungsrecht zur Seite stand. Die Beklagte machte ein solches allein
unter dem Gesichtspunkt der arglistigen Täuschung über den Gesundheitszustand des
Klägers gem. § 123 BGB geltend; andere Anfechtungsrechte kommen nach dem
Sachvortrag der Beklagten nicht in Betracht. Der Senat konnte sich aufgrund der
durchgeführten Beweisaufnahme nicht die Überzeugung verschaffen, dass der Kläger die
Beklagte im Zusammenhang mit dem Vertragsabschluss über seinen wahren
Gesundheitszustand arglistig getäuscht hat. Dies geht zu Lasten der insoweit
beweisbelasteten Beklagten.
27 1.1.1 Der Senat verkennt nicht, dass in erheblichem Umfang Indizien vorliegen, die auf
eine arglistige Täuschung seitens des Klägers hindeuten:
28 1.1.1.1 Bis zur mündlichen Verhandlung vom 29.4.2013 hat sich der Kläger weder
vorgerichtlich noch im Rechtsstreit darauf berufen, dem Versicherungsvermittler … alle
Gesundheitsstörungen offenbart zu haben. Vielmehr argumentierte er bis dahin, dass die
zunächst im Mittelpunkt der Erörterung stehende Hypertonie wegen ihrer allgemeinen
Verbreitung und die Gonarthrose wegen ihrer Ausheilung nicht offenbarungspflichtig
gewesen seien. Eine schlüssige Erklärung für die Argumentationsänderung hat der Kläger
nicht abgegeben. Sie spricht dafür, dass der Kläger von Anfang an seinen wahren
Gesundheitszustand nicht darlegen wollte.
29 1.1.1.2 Der Kläger hatte einen erheblichen Anreiz, den Versicherer zu wechseln, weil die
Beklagte ihren Versicherungsschutz anfänglich zu einem monatlich Prämienbeitrag
angeboten hat, der ca. 500 EUR niedriger lag als die Prämie, die er seiner
Vorversicherung bezahlen musste. Eine Kostenersparnis von ca. 6.000 EUR p. a. kommt
durchaus als Motiv in Betracht, sich den günstigeren Versicherungsschutz der Beklagten
durch falsche Angaben zu erschleichen. Dies gilt umso mehr, als der Kläger nach
eigenem Bekunden zu jener Zeit mit seinem Handwerksbetrieb nur mäßige Erträge
erwirtschaftete, eine Senkung der Krankenversicherungskosten also sehr willkommen war.
30 1.1.1.3 Die im Versicherungsantrag zu den dort gestellten Gesundheitsfragen abgegebene
Erklärung „allgemeine Kontrolluntersuchungen – ohne Befund“ suggeriert über das bloße
Verschweigen der erheblichen Gesundheitsstörungen hinaus, dass sich gerade keine
krankhaften Befunde ergeben haben. Damit hätte der Kläger nicht bloß seinen wahren
Gesundheitszustand verschwiegen, sondern diesen aktiv wahrheitswidrig dargestellt.
31 1.1.2 Diesen Indizien stehen jedoch andere Umstände gegenüber, die den Senat in einem
beachtlichen Maße an einer arglistigen Täuschung seitens des Klägers zweifeln lassen:
32 1.1.2.1 Der Senat ist schon nicht davon überzeugt, dass die Gesundheitsfragen dem
Kläger zur Beantwortung vorgelegt worden sind.
33 1.1.2.1.1 Der Kläger gab in seiner Anhörung vor dem Senat an, dass ihn der Zeuge …
eines Tages aus eigener Initiative und ohne Anlass in seinem Ladengeschäft aufgesucht
und ihm eine günstige Krankenversicherung angeboten habe. In diesem Erstgespräch und
rund 4 weiteren, nicht abgesprochenen Besuchen des Zeugen in den nachfolgenden 3
Monaten habe er diesem im freien Gespräch seinen Gesundheitszustand eingehend und
umfassend unter Offenlegung seiner Vorerkrankungen mündlich dargestellt. Beim 6.
Besuch habe er sich schließlich im Hinblick auf den erheblichen Kostenvorteil und das
Drängen des Zeugen dazu entschlossen, den bereits fertig ausgefüllten
Versicherungsantrag zu unterzeichnen. Dabei habe der Zeuge die Gesundheitsfragen
nicht angesprochen, weil „er [scil.: der Zeuge … ] ja schon alles [wusste]“.
34 1.1.2.1.2 Diese Angaben lassen sich mit den Bekundungen des Zeugen … nicht
widerlegen. Der Zeuge erklärte, sich an den Fall des Klägers nicht erinnern zu können, so
dass ihm lediglich Angaben zum gewöhnliche Ablauf einer Vertragsanbahnung möglich
seien. Danach habe er im Allgemeinen die Gesundheitsfragen wörtlich vorgelesen und die
Antworten der Kunden auf das Antragsformular übertragen.
35 1.1.2.1.3 Ob der Zeuge auch im vorliegenden Fall so vorgegangen ist, steht nicht zur
Überzeugung des Senats fest. Der Zeuge bestätigte den Vortrag des Klägers, dass er
diesen im Wege der sog. Kaltakquise – des anlasslosen Ansprechens einer bislang nicht
bei der Beklagten versicherten Person mit dem Ziel eines Neuvertragsabschlusses – für
einen Wechsel seiner Krankenversicherung geworben habe. Der Zeuge bestätigte weiter,
dass seine Werbung mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht bereits beim Erstgespräch Erfolg
hatte. Ansonsten bekundete er, an den Fall keine Erinnerung mehr zu haben, wollte es auf
Vorhalt der klägerischen Angaben jedoch nicht ausschließen, dass er den Kläger über
einen längeren Zeitraum hinweg vielfach in dessen Ladenlokal aufgesucht habe, um ihn
schließlich zur Beendigung seines bei einem Wettbewerber der Beklagten bestehenden
Versicherungsvertrags und zum Neuabschluss bei der Beklagten zu bewegen.
36 1.1.2.1.4 Dass ein solches Vorgehen ein möglicherweise wettbewerbswidriges,
mindestens jedoch gegen Ziffer 65 Abs. 1 S. 1, 2, Abs. 2 S. 1 a) der Wettbewerbsrichtlinien
der Versicherungswirtschaft verstoßendes Ausspannen eines Kunden sein könnte, hielt
der Zeuge auf entsprechenden Vorhalt des Senats für unproblematisch. Er räumte ein,
dass ihm die Wettbewerbsrichtlinien der Versicherungswirtschaft zwar „ein Begriff“, deren
Inhalte jedoch nicht gegenwärtig seien. Wie sich aus seinen Angaben weiter ergibt, hat er
den Kläger nicht auf die denkbaren Nachteile hingewiesen, die mit einem solchen
Versicherungswechsel einhergehen können.
37 Der Senat entnimmt diesen Angaben, dass der Zeuge nicht die sachgerechte Beratung
und Aufklärung des Klägers in den Vordergrund stellte, sondern sein Abwerbeversuch
maßgeblich durch sein eigenes Provisionsinteresse motiviert war. Der Senat hält es vor
diesem Hintergrund keineswegs für ausgeschlossen, dass der Zeuge gerade bei dem für
einen Abwerbeversuch zunächst nicht empfänglichen Kläger auch die sonst übliche
Sorgfalt bei der Erhebung etwaiger Gesundheitsstörungen hintangestellt hat, um doch
noch einen Vertragsabschluss herbeiführen zu können.
38 1.1.2.1.5 Die Skepsis des Senats wird durch die auffällige inhaltliche Kargheit der
Zeugenaussage weiter gefördert. Sicher war sich der Zeuge letztlich nur darin, als
Versicherungsagent für die Beklagte tätig gewesen zu sein und den Kläger durch
„Kaltakquise“ geworben zu haben. Zwar hat der Senat grundsätzlich Verständnis dafür,
dass ein Versicherungsagent keine genaue oder vollständige Erinnerung an die Werbung
eines Neukunden vor 4 oder 5 Jahren hat. Dass der Zeuge … nach seinen Bekundungen
jedoch nicht einmal ansatzweise bruchstückhafte Erinnerungen an die Gespräche mit dem
Kläger haben wollte, ist außergewöhnlich und nach der Erfahrung des Senats aus der
Vernehmung zahlreicher anderer Versicherungsvermittler in ähnlich gelagerten Fällen
durchaus bemerkenswert.
39 1.1.2.2 Selbst die Schilderung des Zeugen, wie er üblicherweise die im
Versicherungsantrag gestellten Gesundheitsfragen behandelte, blieb so farblos und wenig
detailliert, dass der Senat sich hiervon keine konkrete Vorstellung machen kann.
40 1.1.3 All dies wirft für den Senat die drängende Frage auf, ob der Zeuge den bekundeten
umfassenden Erinnerungsverlust lediglich vorspiegelte, um nicht einen wahren
Sachverhalt einräumen zu müssen, der der Schilderung des Klägers entspräche und
seiner ehemaligen Geschäftsherrin, der Beklagten, nachteilig wäre. Der Senat hält es
deshalb ernstlich für möglich, dass der Zeuge im konkreten Fall darauf verzichtet hat, die
Gesundheitsfragen so zu stellen, wie dies im Versicherungsantrag vorgesehen war. Damit
kann ein objektiver Verstoß gegen die Pflicht zur Anzeige abgefragter gefahrerheblicher
Umstände gem. § 19 Abs. 1 VVG nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt
werden.
41 1.1.4 Ob in Ermangelung einer nachweisbaren objektiven Verletzung der in § 19 Abs. 1
VVG als „Antwortpflicht“ ausgestalteten Anzeigepflicht gefahrerheblicher Umstände auch
notwendigerweise eine arglistige Täuschung über eben solche Umstände
ausgeschlossen ist, wie dies in der Literatur teils angenommen, teils verneint wird (vgl. z.
B. Prölss in Prölss/Martin, VVG, 28. A., § 22 VVG Rdnr. 3 m. w. N.), kann vorliegend
dahinstehen. Denn der Senat hält es aus den oben dargelegten Gründen auch für möglich,
dass der Kläger dem Zeugen … seine Gesundheitsstörungen im Rahmen der
stattgefundenen Gespräche tatsächlich offenbart hat. Dies hätte nicht nur zur Folge, dass
dem Kläger schon in objektiver Hinsicht keine Täuschungshandlung zur Last fiele, weil er
mit der Offenbarung gegenüber dem Zeugen als Agenten der Beklagten und damit deren
„Auge und Ohr“ dieser selbst seine Gesundheitsstörungen angezeigt hätte, sondern
entzöge auch der Annahme des Landgerichts die Grundlage, der Kläger habe täuschend
auf die Willensentschließung der Beklagten Einfluss nehmen wollen oder dies wenigstens
billigend in Kauf genommen.
42 1.1.5 Diese Erwägungen gelten im Ergebnis auch hinsichtlich der Schwerhörigkeit und
Fehlsichtigkeit des Klägers. Dieser hat zwar selbst eingeräumt, dass er den Zeugen … auf
seine Schwerhörigkeit möglicherweise, auf seine Fehlsichtigkeit sicher nicht hingewiesen
habe. Der letztgenannte Umstand war nicht aufklärungspflichtig, da der Kläger sichtbar
eine Brille trägt und damit die Fehlsichtigkeit für den Zeugen … offensichtlich war.
Unstreitig bot die Beklagte insoweit Versicherungsschutz auch nur gegen Zahlung eines
Risikozuschlags, was der Kläger akzeptierte. Hinsichtlich der möglicherweise nicht
aufgedeckten Schwerhörigkeit lässt sich jedenfalls die subjektive Tatseite einer arglistigen
Täuschung nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen. Die - ernstlich in Betracht zu
ziehende - Offenbarung der übrigen Gesundheitsstörungen begründet vernünftige Zweifel,
dass die (mögliche!) objektive Nichtanzeige der Schwerhörigkeit auf einem solchen
Täuschungsvorsatz beruhte und nicht etwa ihren Grund darin gehabt haben könnte, dass
dem Kläger diese Gesundheitsstörung im freien, nicht durch eine „Check-Liste“
strukturierten Gespräch nicht präsent gewesen sei oder er diese Gesundheitsstörung im
Hinblick auf ihren dauerhaften Ausgleich mittels eines Hörgerätes für unerheblich gehalten
habe.
43 1.1.6 Der Senat übersieht nicht, dass der Kläger einräumte, bei der Unterzeichnung des
Versicherungsantrags durchaus den vom Zeugen … angebrachten Vermerk
„Kontrolluntersuchungen – ohne Befund“ bemerkt, jedoch nicht korrigiert zu haben.
Zweifellos spricht dies als gewichtiges Indiz für eine arglistige Täuschung. Allerdings
bestehen auch insoweit beachtliche Restzweifel hinsichtlich der subjektiven Tatseite.
44 1.1.6.1 Der Kläger behauptete nämlich ergänzend, wegen seiner Vorerkrankungen einem
Versicherungswechsel skeptisch gegenüber gestanden zu haben. Der Zeugen … habe
diese Bedenken jedoch beiseite geschoben mit dem Bemerken, die Versicherung „werde
sich schon wehren, wenn sie etwas zahlen müsse“. Diese Erläuterung des Klägers kann
zwar ebenfalls als Ausdruck eines Täuschungsvorsatzes gewertet werden; bei genauerer
Betrachtung erweist sie sich jedoch als ambivalent und damit als Indiz für einen
Täuschungsvorsatz ungeeignet. Denkbar ist nämlich auch, dass der Kläger in Wahrheit
auf die Richtigkeit der Aussage des in Versicherungsangelegenheiten versierten und
kundigen Zeugen … vertraute und daran glaubte, es habe alles seine Richtigkeit,
insbesondere seien die Vorerkrankungen deshalb kein Hindernis für den
Vertragsabschluss, weil die Risikoprüfung in die Leistungsprüfung im Einzelfall verlagert
werde („Die Versicherung werde sich schon wehren, wenn sie etwas zahlen müsse!“). Die
Anmerkung im Versicherungsantrag „Kontrolluntersuchungen - ohne Befund“ könnten sich
dabei im Verständnis des Klägers insoweit als „richtig“ dargestellt haben, als er seine
Vorerkrankungen selbst nicht als „Krankheiten“, sondern als bloße „Alterserscheinungen“
definierte, mit denen jeder Versicherer aufgrund ihrer Häufigkeit bei einem
Versicherungsnehmer seines Alters eh rechne. Dieser Auffassung entspricht auch das
Schreiben des Klägers vom 25.9.2012 als Antwort auf die Anfechtungs- und
Rücktrittserklärung der Beklagten.
45 1.1.6.2 Der Senat ist weit davon entfernt, diesen Erklärungsversuchen des Klägers
Glauben zu schenken; für zweifelsfrei ausgeräumt hält er sie jedoch nicht, insbesondere
im Hinblick auf die auffällig schwache Aussageleistung des Zeugen … . Auch erscheinen
die Angaben des Klägers keineswegs derart lebensfremd, dass sie schon aus diesem
Grunde als widerlegt angesehen werden müssten.
46 1.1.7 Die Einlassung des Klägers, der Zeuge … habe darauf verwiesen, „die Versicherung
werde sich schon wehren, wenn sie etwas zahlen müsse“, kann selbstverständlich auch
als Indiz für ein kollusives Zusammenwirken von Versicherungsinteressent und
Versicherungsagent gewertet werden. Allerdings gelten die obigen Ausführungen zur
Beweiskraft dieser Einlassung auch für diesen rechtlichen Gesichtspunkt entsprechend.
Der Senat ist daher auch nicht überzeugt, dass der Kläger und der Zeuge … kollusiv zum
Nachteil der Beklagten zusammen gewirkt haben.
47 1.2 Die Rücktrittserklärung der Beklagten vom 19.7.2011 ging ebenfalls ins Leere.
48 1.2.1 Das gem. § 19 Abs. 1, 2 VVG in Betracht zu ziehende Rücktrittsrecht der Beklagten
ist bereits deshalb ausgeschlossen, weil die Beklagte den Kläger nicht in der
erforderlichen Form auf die Rechtsfolgen einer Anzeigenpflichtverletzung hingewiesen
hatte (§ 19 Abs. 5 S. 1 VVG). Das Landgericht hat zwar als unstreitig und für den Senat
gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO bindend festgestellt, dass der Kläger durch gesonderte
Mitteilung in Textform auf die Folgen einer Anzeigenpflichtverletzung hingewiesen worden
sei. Dies greift die Berufung auch nicht an. Ob die Belehrung über die Rechtsfolgen einer
etwaigen Anzeigepflichtverletzung die gem. § 19 Abs. 5 S. 1 VVG erforderliche Form
einhält, ist jedoch keine reine Tatsachenfrage, über die die Parteien disponieren können,
sondern zugleich eine Frage der nicht disponiblen Rechtsanwendung. Der Senat ist daher
im Rahmen seiner Pflicht zur umfassenden Rechtsprüfung auf der Grundlage des ihm zur
Entscheidung unterbreiteten Sachverhalts berechtigt und verpflichtet, auch die Einhaltung
der formellen Anforderungen an die genannte Belehrung zu prüfen.
49 1.2.2 Nähere Aufklärung, wie der Formularsatz des Versicherungsantrags im Original
aussah und ob die „Wichtigen Hinweise zur Anzeigepflicht“ (vgl. Anl. BB 2, Bl. 105 d. A.) in
diesen Formularsatz integriert oder auf einem „Extra-Blatt“ abgedruckt waren, konnten die
Parteien nicht geben; der Original-Formularsatz liegt bei der Beklagten offenbar nicht mehr
vor.
50 1.2.3 Die nach § 19 Abs. 5 S. 1 VVG gebotene Belehrung über die im Falle der Verletzung
einer Anzeigepflicht drohenden Rechtsfolgen soll dem Versicherungsnehmer vor der
Beantwortung von Fragen des Versicherers zu Gefahrumständen eindringlich vor Augen
führen, welche Bedeutung die vollständige und wahrheitsgemäße Information des
Versicherers für dessen Leistungsverpflichtung und den (Fort-) Bestand des Vertrags hat.
Der Versicherungsnehmer soll damit zu einer ordnungsgemäßen Erfüllung seiner
Anzeigeobliegenheiten angehalten, aus Gründen der Fairness zugleich aber auch vor den
ihm anderenfalls drohenden Rechtsnachteilen gewarnt werden (so BGH VersR 2013, 297
ff TZ 18 zum gleich gelagerten Problem der „gesonderten Mitteilung“ gem. § 28 Abs. 4
VVG).
51 1.2.4 Zwar erfordert eine „gesonderte Mitteilung“ gem. § 19 Abs. 5 S. 1 VVG nicht
zwingend ein gesondertes Dokument im Sinne eines „Extra-Blattes“ (BGH aaO, TZ 19).
Möglich und ausreichend ist vielmehr auch, den Belehrungstext in das Formular des
Versicherungsantrags aufzunehmen. In einem solchen Fall ist jedoch zu fordern, dass die
Belehrung drucktechnisch so gestaltet sein muss, dass sie sich deutlich vom übrigen Text
abhebt und vom Versicherungsnehmer nicht übersehen werden kann. Hieran fehlt es
vorliegend.
52 1.2.5 Da die Beklagte hinsichtlich sämtlicher Voraussetzungen ihres geltend gemachten
Rücktrittsrechts darlegungs- und beweisbelastet ist, somit auch hinsichtlich der
ausreichenden Gestaltung ihrer „gesonderten Mitteilung“ über die Rechtsfolgen einer
etwaigen Verletzung der Anzeigepflicht gem. § 19 Abs. 1 VVG, ist mangels ausreichender
anderweitiger Darlegung zu ihren Lasten davon auszugehen, dass die aus Anlage BB 2
(Bl. 105 d. A.) ersichtlichen „Wichtigen Hinweise zur Anzeigepflicht“ als letzte Seite des
Antragsformulars dessen integraler Bestandteil waren. Die Platzierung dieser Belehrung
erst mehrere Seiten nach dem Fragenkatalog zu etwaigen Gesundheitsstörungen des
Kunden und seiner Unterschrift bietet nicht die erforderliche Gewähr dafür, dass der
Versicherungsnehmer sie nicht übersehen kann. Vielmehr besteht eine erhebliche Gefahr,
dass der durchschnittliche Versicherungsnehmer jeglichen Text, der nach seiner
Unterschrift angefügt ist, für unwichtig und typisches „Kleingedrucktes“ hält, das seine
Bedeutung allenfalls bei Eintritt des Versicherungsfalles gewinnt, also erst dann gelesen
zu werden braucht. Eine solche Platzierung genügt daher nicht den Anforderungen, die an
eine „gesonderte Mitteilung“ zu stellen sind. Ob sie als „Extra-Blatt“ diesen Anforderungen
genügen würden, braucht nicht entschieden zu werden, weil – wie dargelegt – hiervon
nicht ausgegangen werden kann.
53 2. Zum Berufungsantrag Ziffer 2:
54 Der Berufungsantrag Ziffer 2 hat ebenfalls vollen Erfolg. Durch die Vorlage der
Rechnungen in der Anlage Bl. 44 hat der Kläger hinreichend schlüssig vorgetragen, dass
ihm wegen eines versicherten Risikos Aufwendungen entstanden sind, die die Beklagte
im Falle eines fortbestehenden Versicherungsvertrags bedingungsgemäß zu erstatten hat.
Die Beklagte hat ihre diesbezügliche Leistungspflicht allein mit der Begründung
geleugnet, dass der Versicherungsvertrag mit seinen bisherigen Leistungspflichten infolge
ihrer Anfechtungs- und Rücktrittserklärung weggefallen sei, im Übrigen die Darlegungen
des Klägers jedoch nicht bestritten. Damit ist der Erfolg des Berufungsantrags Ziffer 2
unmittelbar an den – oben begründeten - Erfolg des Berufungsantrags Ziffer 1 geknüpft.
55 3. Zum Berufungsantrag Ziffer 3:
56 Entsprechendes gilt für den Berufungsantrag Ziffer 3 (Erstattung vorgerichtlicher
Anwaltskosten).
57 4. Zum Berufungsantrag Ziffer 4:
58 Auch der Berufungsantrag Ziffer 4 hat vollen Erfolg. Da der Senat den Fortbestand des
Versicherungsvertrags feststellt, kommt eine Rückzahlung bereits erstatteter
Krankheitskosten nicht in Betracht. Eine Rückabwicklung des Vertragsverhältnisses findet
weder nach Rücktrittsrecht noch nach dem Recht der ungerechtfertigten Bereicherung
statt. Die Widerklage ist daher unbegründet und entsprechend dem Antrag des Klägers
abzuweisen.
59 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO, die
Vollstreckbarkeitsentscheidung auf § 708 Nr. 10, 711, 709 S. 2 ZPO.
60 6. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Die maßgeblichen
Rechtsfragen sind allesamt bereits durch die höchstrichterliche Rechtsprechung geklärt.
Der Fall wirft deshalb weder grundsätzliche noch solche Rechtsfragen auf, die der
Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Rechtsfortbildung bedürften. Auch die
Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist nicht berührt; der Senat weicht nicht von rechtlichen
Obersätzen gleich- oder höherrangiger Gerichte ab.