Urteil des OLG Oldenburg vom 19.12.1990

OLG Oldenburg: ärztliche untersuchung, versicherer, vertretungsmacht, stellvertretung, passiven, beschränkung, versicherungsnehmer, rücktritt, unterzeichnung, unterlassen

Gericht:
OLG Oldenburg, 02. Zivilsenat
Typ, AZ:
Urteil, 2 U 180/90
Datum:
19.12.1990
Sachgebiet:
Normen:
VVG § 47, MBKK § 16
Leitsatz:
§ 16 MBKK schränkt die Vertretungsmacht des Versicherungsvermittlers nicht schon für die Phase
der Vertragsanbahnung ein, es sei denn, die Geltung der MBKK wird für dieses Stadium vereinbart.
Volltext:
I. Die Klägerin stellte am 28. Februar 1989 bei der Beklagten einen Antrag auf Abschluß eines
Krankenversicherungsvertrages für sich und ihre beiden minderjährigen Söhne T. und H. Versicherungsbeginn sollte
der 1. Mai 1989 sein. Das Antragsformular wurde im wesentlichen von dem Mitarbeiter K. der Beklagten ausgefüllt
und sodann von der Klägerin unterschrieben. Im Text wurden bezüglich aller Personen die Fragen nach bestehenden
oder früheren Erkrankungen sowie Vorbehandlungen durch Ankreuzen der entsprechenden Rubriken verneint. Die
Antworten waren z.T. unzutreffend. Insbesondere der damals 11jährige Sohn H. litt an einer ständig
behandlungsbedürftigen chronischen Neurodermitis und damit zusammenhängenden psychosomatischen Störungen.
Die Beklagte hat mit Schreiben vom 14. Februar 1990 den Teilrücktritt von dem aufgrund des Antrages
zustandegekommenen Versicherungsvertrag erklärt, soweit sich die Versicherung auf den Sohn H. bezog. Den Teil-
rücktritt hat sie damit begründet, daß ihr erst aus einem im Januar 1990 zugegangenen Arztbericht und weiter
eingeholten Auskünften bekannt geworden sei, daß H. seit dem Säuglingsalter an Neurodermitis und Asthma leide.
Ferner hat sie hilfsweise die Kündigung des Teilvertrages erklärt.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, der Teilrücktritt sei unwirk- sam. Sie hat vorgetragen: Sie habe die ihr von
dem Mitarbeiter K. der Beklagten gestellten Gesundheitsfragen sämtlich sorgfältig, ausführlich und wahrheitsgemäß
beantwortet. Außerdem habe sie ausdrücklich danach gefragt, ob es nicht erforderlich oder zumindest sinnvoll sei,
sich und die Kinder ärztlich untersuchen zu lassen und den ärztlichen Bericht vorzulegen. Insbesondere habe sie K.
auch darauf hingewiesen, daß ihr bei der Antragsaufnahme anwesender Sohn H. seit jüngster Kindheit unter
Neurodermitis leide und wegen dieser Erkrankung große Probleme habe, auch wenn sich in den Jahren 1987/88 sein
Zustand wesentlich verbessert habe. K. habe auf ihre Aufforderungen hin die Haut ihres Sohnes auch persönlich in
Augenschein genommen. Trotz dieser Hinweise habe er im Antrag die Fragen nach Erkrankungen und Behandlungen
im Vordruck sämtlich mit "Nein" beantwortet, indem er jeweils die dafür vorgesehene Spalte angekreuzt habe.Er
habe ihr hierzu erklärt, so genau komme es auf die Gesundheitsfragen nicht an und eine ärztliche Untersuchung sei
unnötig.
Die Beklagte hat vorgetragen: Es sei nicht richtig, daß ihr Mitarbeiter von der Klägerin bei Antragsaufnahme über die
bestehende Erkrankung des Sohns H. an Neurodermitis unterrichtet worden sei. Im übrigen sei die Klägerin auf die
Tatsache, daß sie für die Beantwortung der Fragen im Versicherungsantrag selbst die Verantwortung trage, im
Formular auffällig hingewiesen worden.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung.
II. Die Berufung hat Erfolg. Die Klage ist nach den §§ 1 VVG, 1, 4 MBKK in dem aus dem Tenor ersichtlichen
Umfang begründet. Der durch Schreiben der Beklagten vom 14. Februar 1990 ausgesprochene Rücktritt war nicht
gerechtfertigt. Die Beklagte hat nicht bewiesen, daß die Klägerin ihr bei Antragstellung einen gefahrerheblichen
Umstand verschwiegen hat (§ 16 VVG). Der Vertrag besteht weiter, weil er auch nicht wirksam gekündigt ist.
1) Das Landgericht hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Darlegungs- und Beweislast des
Versicherers für eine Anzeigeobliegen-
heitsverletzung des Versicherungsnehmers bei Schließung des Vertrages durch Vermittlung eines Agenten nicht
beachtet. Der BGH hat in seinem Urteil vom 11. November 1987 (BGHZ 102, 194 = VersR 1988, 234, 236 = VVGE §
44 VVG Nr. 1) klargestellt, daß das, was einem Agenten des Versicherers im Rahmen der Antragsaufnahme mit
Bezug auf diesen Antrag zur Kenntnis gebracht wird, auch dann dem Versicherer zur Kenntnis gebracht ist, wenn es
keine Aufnahme in das Antragsformular findet. Das Versicherungsvertragsgesetz stellt den Versicherer nicht von
den Rechtswirkungen einer passiven rechtsgeschäftlichen Stellvertretung durch einen Vermittlungsagenten oder
sonstigen Stellvertreter frei. In einem weiteren Urteil (BGHZ 107/322 = VersR 1989/833 = VVGE § 44 VVG Nr. 4) hat
der BGH sodann ausgeführt: Stehe fest, daß nicht der Antragsteller, sondern der Agent das Formular ausgefüllt
habe, so lasse sich allein mit der Vorlage des ausgefüllten Antragsformulars nicht mehr beweisen, daß der
Versicherungsnehmer seiner Obliegenheit nicht in weitem Umfang nachgekommen sei, sofern dieser substantiiert
behaupte, den Agenten mündlich zutreffend unterrichtet zu haben. Eine Obliegenheitsverletzung sei in derartigen
Fällen nicht schon damit bewiesen, daß das ausgefüllte Formular in der Beantwortung der Gesundheitsfragen nicht
den Tatsachen entspreche. Der Beweis werde regelmäßig nur durch eine Aussage des Versicherungsagenten zu
führen sein, mit der er zur Überzeugung des Tatrichters darzutun vermöge, daß er alle Fragen, die er schriftlich im
Formular beantwortet habe, dem Antragsteller tatsächlich vorgelesen und dabei von ihm nur das zur Antwort erhalten
habe, was er im Formular jeweils vermerkt habe.
2) Eine andere Beweislastverteilung rechtfertigt sich vorliegend auch nicht im Hinblick auf § 16 MBKK oder die farbig
unterlegte Klausel im Antragsvordruck der Beklagten.
a) Nach § 16 MBKK bedürfen Willenserklärungen und Anzeigen gegenüber dem Versicherer der Schriftform und sind
Versicherungsvermittler zu ihrer Entgegennahme nicht bevollmächtigt. Das OLG Köln (versR 1988, 904 = VVGE §
44 VVG Nr. 2) und das OLG München (VVGE § 44 VVG Nr. 5) sehen hierin eine zulässige Einschränkung der
Vertretungsmacht des Versicherungsver-
mittlers. Diese Beschränkung der Vertretungsmacht des Versicherungsver-
mittlers sooll der Versicherungsnehmer gemäß § 47 VVG gegen sich gelten lassen müssen. Wenn er die
Beschränkung der Vertretungsmacht des Ver-
mittlers nicht positiv gekannt hat, soll seine Unkenntnis jedenfalls grob fahrlässig im Sinne des § 47 VVG sein, wenn
er es unterlassen hat, vor oder unmittelbar nach der Unterzeichnung des Antrags das Formular und die
Versicherungsbedingungen zu lesen (a.A. OLG Frankfurt VersR 1990, 1103, 1104 = VVGE § 47 VVG Nr. 3). Dem
folgt der Senat jedenfalls für den vorliegenden Fall nicht. Zwar werden Versicherungsbedingungen gemäß § 23 Abs.
3 AGBG auch dann wirksam, wenn die in § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AGBG bezeichneten Erfordernisse nicht eingehalten
sind. Das bedeutet aber nur, daß die Versicherungsbedingungen dann mit Vertrags- abschluß Bestandteil des
Vertrages werden. Der Vertrag ist aber erst - später - mit Annahme durch den Versicherer zustandegekommen. Daß
die MBKK der Beklagten schon für die Phase der Vertragsanbahnung gelten sollten, ist weder dem Vortrag der
Beklagten noch dem Versicherungsan-
trag zu entnehmen. Danach kann nicht festgestellt werden, daß die Wissenszurechnung wirksam ausgeschlossen
ist.
b) Nicht anderes gilt im Ergebnis für die Klausel im Antragsformular:
"Der Vermittler ist nicht berechtigt, über die Bedeutung und Erheblich-
keit der in diesem Antrag gestellten Fragen verbindliche Erklärungen namens des Versicherers abzugeben." Es kann
dahinstehen, ob eine solche Klausel, die sich wiederum auf einen Vorgang vor Vertragsschluß bezieht, ohne einen
deutlichen Hinweis durch den Versicherungsagenten wirksam vereinbart werden kann. Jedenfalls stellt sie inhaltlich
keine Voll-
machtsbeschränkung für die Wissenszurechnung des Versicherungsagenten dar. Mit einer Klausel ähnlichen
Wortlauts hatte sich das OLG Hamm (VVGE § 47 VVG Nr. 1 = VersR 1990, 1105) zu befassen. Es ist zu dem
Ergebnis gekommen, daß sich eine solche Einschränkung nur auf die verbindliche Klärung der Erheblichkeit von
Erkrankungen oder Antragsfragen beziehe und nicht ersichtlich sei, daß damit die Stellung des Agenten als "Auge
und Ohr des Versicherers" ausgeschlossen sein solle. Dem stimmt der Senat zu.
Der BGH hat in seiner "Auge und Ohr"-Entscheidung vom 11. November 1987 (VVGE § 44 VVG Nr. 1) darauf
abgestellt, daß dem Antragsteller der empfangsbevollmächtigte Vermittlungsagent gegenübersteht und deshalb zur
"passiven Stellvertretung" des Versicherers bevollmächtigt ist. Die Fälle der aktiven und passiven Stellvertretung
sind auch sonst zu unterscheiden, wie sich z.B. aus § 164 Abs. 3 BGB ergibt (Palandt/Hein-richs, 48. Aufl., § 164
BGB Anm. 4 b). Die farbig unterlegte Klausel im Antragsformular der Beklagten betrifft die aktive Stellvertretung,
denn es geht um die - fehlende - Berechtigung zur Abgabe von Erklärungen. Dagegen befaßt sich diese Klausel
weder ausdrücklich noch dem Sinn nach mit dem Umfang der Empfangsvollmacht des Agenten; diese Vollmacht gilt
also entsprechend der gekennzeichneten BGH-Rechtsprechung als unbeschränkt bestehend.
3) Die Klägerin hat substantiiert dargelegt, daß sie bei Ausfüllung des Antrags vom 28. Februar 1989 dem Mitarbeiter
K. der Beklagten die Erkrankung ihres Sohnes H. an Neurodermitis mitgeteilt hat, und die Beklagte hat das
Gegenteil nicht bewiesen (wird ausgeführt).