Urteil des OLG Köln vom 21.01.2003

OLG Köln (Beschleunigtes Verfahren, Einstellung des Verfahrens, Hinreichender Tatverdacht, Rückgabe, Prozessvoraussetzung, Auflage, Offenkundigkeit, Anklageschrift, Straftat, Terminologie)

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Oberlandesgericht Köln, Ss 456/02
21.01.2003
Oberlandesgericht Köln
1. Strafsenat
Urteil
Ss 456/02
Das Verfahren wird eingestellt.
Die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen
notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.
Gründe
Die Staatsanwaltschaft beantragte am 11.12.2001 gegen den Angeklagten wegen des
Vorwurfs des Diebstahls die Entscheidung im beschleunigten Verfahren. Im
Hauptverhandlungstermin vom selben Tage lehnte das Amtsgericht eine Entscheidung im
beschleunigten Verfahren durch - nicht mit Gründen versehenen - Beschluss ab, ohne über
die Eröffnung des Hauptverfahrens zu entscheiden. Sodann leitete es die Akten an die
Staatsanwaltschaft zurück.
Die Staatsanwaltschaft legte die Akten erneut dem Amtsgericht vor, diesmal mit dem
Antrag, das Hauptverfahren zu eröffnen. Von der Einreichung einer neuen Anklageschrift
sah sie ab (§ 419 Abs. 2.Halbs. StPO). Ohne einen Eröffnungsbeschluss erlassen zu
haben, hat das Amtsgericht - eine andere Abteilung als im beschleunigten Verfahren - den
Angeklagten wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt. Die
Berufung des Angeklagten hat das Landgericht verworfen. Hiergegen richtet sich die
Revision des Angeklagten mit der allgemeinen Sachrüge.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben und das
Verfahren wegen Fehlens eines Eröffnungsbeschlusses einzustellen. Der ursprüngliche
Antrag der Staatsanwaltschaft, im beschleunigten Verfahren zu entscheiden, habe den
Erlass eines Eröffnungsbeschlusses nicht etwa entbehrlich gemacht.
Die Revision führt zu Einstellung des Verfahrens gemäß §§ 354 Abs.1, 260 Abs.3 StPO.
Es fehlt an einer Verfahrensvoraussetzung, nämlich an einem Eröffnungsbeschluss nach §
203 StPO. Das Vorliegen der Verfahrensvoraussetzungen bzw. das Bestehen von
Verfahrenshindernissen, was das Gleiche bedeutet (vgl. Engelhardt in KK-StPO, 4.
Auflage, § 260 Rn. 46), hat das Revisionsgericht, sofern - wie hier - eine zulässige Revision
vorliegt, von Amts wegen zu prüfen (Meyer-Goßner, StPO, 46. Auflage, Einl. Rn. 150). Ein
Verfahrenshindernis wird durch solche Umstände begründet, die es ausschließen, dass
über einen Prozessgegenstand mit dem Ziel einer Sachentscheidung verhandelt werden
darf (BGHSt 35, 137; Senat NStZ-RR 2002, 149 = DAR 2002, 232 = NZV 2002, 419 = VRS
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100, 215; NStZ-RR 2003, 17,18; Meyer-Goßner a.a.O., Einl. Rn. 143, 146 m. w.
Nachweisen). Sie müssen so schwer wiegen, dass von ihrem Vorhandensein oder
Nichtvorliegen die Zulässigkeit des gesamten Verfahrens abhängig gemacht werden muss
(Senat a.a.O., m. Nachweisen). Ein solcher Umstand liegt u. a. vor, wenn im
Regelstrafverfahren/Normalstrafverfahren (im Folgendem: Regelverfahren) der
Eröffnungsbeschluss fehlt (vgl. nur BGHSt 10, 278;BGH NStZ 1994, 227 b. Kusch; SenE v.
13.10.2000 - Ss 398/00;Pfeiffer in KK-StPO, Einl. 45; Meyer-Goßner a.a.O., § 203 Rn.1, 3
m. w. Nachweisen). Zur Eröffnung des Regelverfahrens bedarf es als
Verfahrensvoraussetzung- anders als im beschleunigten Verfahren (§ 418 Abs. 1 StPO) -
einer eindeutigen schriftlichen Willenserklärung des Gerichts, die Anklage nach Prüfung
und Bejahung der Eröffnungsvoraussetzungen zur Hauptverhandlung zuzulassen (BGHR
StPO § 203 Beschluss 5; BayObLG NStZ-RR 2001, 139; SenE v. 13.12.2000 - Ss 398/00;
Meyer-Goßner a.a.O.). Eine derartige Entscheidung des Amtsgerichts ist vorliegend den
Akten nicht zu entnehmen.
Die Terminsverfügung des Amtsgerichts im Regelverfahren beinhaltet diese nicht. Aus ihr
geht lediglich der Zeitpunkt der Verhandlung der Sache hervor, ihr ist aber nicht zu
entnehmen, dass das Gericht damit inhaltlich eine ihr regelmäßig vorausgehende
Eröffnungsentscheidung treffen wollte (BayObLG NStZ-RR 2001, 139).
Auch das vorangegangene beschleunigte Verfahren (§§ 417 ff. StPO) rechtfertigt es im
vorliegenden Fall nicht, das Fehlen des Eröffnungsbeschlusses im Regelverfahren
lediglich als Verfahrensfehler und nicht als schwer wiegend - ein Verfahrenshindernis
begründend - zu bewerten.
Dem Gesetz lässt sich nicht entnehmen, dass dem Eröffnungsbeschluss nach § 203 StPO
eine geringere Verfahrensbedeutung zukommt, wenn das Verfahren ursprünglich als
beschleunigtes Verfahren anhängig war. Denn § 419 Abs. 3 1. Halbsatz StPO lautet: "Wird
die Entscheidung im beschleunigten Verfahren abgelehnt, so beschließt das Gericht die
Eröffnung des Hauptverfahrens, wenn der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend
verdächtig erscheint (§ 203)" Dem Zusammenhang der §§ 419 Abs. 3, 203 StPO ist
vielmehr zu entnehmen, dass das Gesetz hinsichtlich der Ausgestaltung des
Zwischenverfahrens (vgl. Meyer-Goßner a.a.O., Einl. 63) und der Bedeutung der
Eröffnungsentscheidung nicht unterscheidet zwischen einem Regelverfahren und einem
solchen mit vorangegangenem beschleunigten Verfahren.
In der Rechtsprechung wird allerdings die Auffassung vertreten, dass ein im
Regelverfahren unterbliebener Eröffnungsbeschluss nicht zu einem Verfahrenshindernis
führt, wenn das Amtsgericht - etwa infolge langfristiger Terminierung oder Verbindung mit
einem Regelverfahren - vom beschleunigten Verfahren gemäß § 417 StPO in das
Regelverfahren übergehe. Dieser Auffassung (OLG Stuttgart NJW 1999, 511 = StV
1998,585 = VRS 95, 415; OLG Hamburg NStZ 1999, 266; StV 2000, 299 = NStZ-RR 2001,
206; vgl. zum Meinungsstand auch Radtke JR 2001, 133, 135 ff.) hat sich der Senat in einer
früheren Entscheidung angeschlossen (Vorlagebeschluss gemäß § 121 Abs. 2 GVG v.
29.6.1999 - Ss 195/99 - , Vorlage gegen OLG Düsseldorf NStZ 1997,613; Verneinung der
Vorlagevoraussetzungen durch den BGH: BGHR StPO § 203 Beschluss 5 = NStZ 2000,
442 = wistra 2000, 151 = DAR 2000, 198). In dieser Entscheidung hat der Senat u. a.
ausgeführt:
"Zwar ist das Vorliegen eines Eröffnungsbeschlusses für die Durchführung des
Regelstrafverfahrens eine Verfahrensvoraussetzung; sein Fehlen zwingt in der
Revisionsinstanz zu einer Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses (vgl.
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Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 204, Rn. 3).
Ein derartiges Gewicht kommt indessen dem Fehlen eines Eröffnungsbeschlusses in
einem Verfahren, das zunächst als beschleunigtes Verfahren betrieben worden ist, nicht zu.
Das beschleunigte Verfahren kennt keinen Eröffnungsbeschluss. Solange das Gericht das
Verfahren ohne Eröffnungsbeschluss als beschleunigtes Verfahren betrieben hat, war dies
prozessual rechtmäßig: es ist eben nicht ein Regelverfahren ohne Eröffnungsbeschluss
durchgeführt worden, sondern ein beschleunigtes Verfahren, das lediglich ab einem
bestimmten Zeitpunkt nicht mehr zur Entscheidung im beschleunigten Verfahren geeignet
war, dem jedoch bis dahin keine Prozessvoraussetzung gefehlt hat.
Dem Eröffnungsbeschluss nach § 419 Abs. 3 StPO kommt auch aus folgender Überlegung
nicht dasselbe Gewicht zu wie demjenigen nach § 203 StPO: Im Regelverfahren
dokumentiert das Gericht durch den Eröffnungsbeschluss, dass der Angeklagte der ihm
vorgeworfenen Straftat hinreichend verdächtig ist (§ 203 StPO). Im beschleunigten
Verfahren hat das Gericht die Frage, ob hinreichender Tatverdacht besteht, nach ganz
überwiegender Ansicht bereits bei der Terminierung der Sache im Rahmen der
Geeignetheitsprüfung zu beantworten (vgl. OLG Hamburg a.a.O.): eine Terminierung der
Sache ohne die Bejahung des hinreichenden Tatverdachtes kommt regelmäßig nicht in
Betracht (vgl. dazu auch Anmerkung Scheffler NStZ 1999, 268 zu der Entscheidung des
OLG Stuttgart in NJW 1999, 511). Hat aber das Gericht diese Frage bei der Terminierung
bereits geprüft und bejaht, kommt dem Umstand, dass es später den dann erst
erforderlichen Eröffnungsbeschluss versäumt hat, keine derartige Bedeutung zu wie dem
Fehlen des Eröffnungsbeschlusses im Regelverfahren.
Solange das Amtsgericht nicht ausdrücklich die Entscheidung im beschleunigten Verfahren
abgelehnt hat, ist die Notwendigkeit eines Eröffnungsbeschlusses nicht offenkundig. In
einem solchen Fall ergibt nur eine Wertung die Notwendigkeit eines
Eröffnungsbeschlusses. Die Annahme eines Verfahrenshindernisses mit seiner
weitreichenden Konsequenz darf aber nicht von einer Wertung abhängen. Insoweit schließt
sich der Senat der Auffassung des OLG Hamburg NStZ 1999, 266 an.
Auf der Grundlage dieser Rechtsansicht liegt im vorliegenden Fall ein Verfahrenshindernis
nicht vor..."
An dieser Auffassung (vgl. dazu auch die Kritik von Radtke, JR 2001, 133, 135 ff. an OLG
Stuttgart NJW 1999, 511 und OLG Hamburg NStZ 1999, 266) hält der Senat für die
Fallgestaltung, zu der sie ergangen ist, fest. Sie ist aber auf die vorliegende Fallgestaltung
nicht in dem Umfange übertragbar, dass sie zur Verneinung des Verfahrenshindernisses
des fehlenden Eröffnungsbeschlusses führen könnte.
Von den drei Argumenten, die der Senat in seiner früheren Entscheidung gegen die
Annahme eines Verfahrenshindernisses angeführt hat, ist hier ein Argument von vornherein
nicht übertragbar. Der Gesichtspunkt, dass bei einem stillschweigenden Übergang vom
beschleunigten Verfahren in das Regelverfahren die Notwendigkeit eines
Eröffnungsbeschlusses nicht offenkundig sei, greift infolge der ausdrücklichen Ablehnung
des beschleunigten Verfahrens durch das Amtsgericht, der Rückgabe der Akten an die
Staatsanwaltschaft und deren Wiedervorlage der Akten an das Amtgericht mit dem Antrag,
das Hauptverfahren zu eröffnen, nicht. Durch dieses Verfahrensgeschehen ist die
Notwendigkeit eines Eröffnungsbeschlusses vielmehr offenkundig. Gerade die Frage, ob
die Notwendigkeit eines Eröffnungsbeschlusses offenkundig ist oder nicht, hat der Senat
aber in seiner früheren Entscheidung als Kriterium für das Gewicht des Verfahrensmangels
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gesehen. Wenn dort die fehlende Offenkundigkeit als Argument für ein minderes Gewicht
des Verfahrensmangels angeführt worden ist, dann muss umgekehrt gelten, dass die
Offenkundigkeit für ein größeres Gewicht streitet.
Die ausdrückliche Ablehnung des beschleunigten Verfahrens und die Rückgabe der Akten
an die Staatsanwaltschaft sind es auch, die hier den beiden anderen Argumenten der
früheren Senatsentscheidung ihr Gewicht für die ausnahmsweise Verzichtbarkeit des
Eröffnungsbeschlusses als Prozessvoraussetzung (vgl. zur Terminologie: BayObLG NStZ-
RR 2001, 139, 140 a E) nehmen.
Das Argument, dass dem Verfahren zunächst keine Prozessvoraussetzung gefehlt hat, weil
das beschleunigte Verfahren keinen Eröffnungsbeschluss kennt, leuchtet bei einem
stillschweigenden, "gleitenden" Übergang von der einen Prozessart (beschleunigtes
Verfahren) in die andere (Regelverfahren) wegen des dadurch - auch für den Angeklagten -
vermittelten Eindrucks eines quasi einheitlichen Verfahrens ein, zumal ein
gleitender/vereinfachter Übergang vom beschleunigten in das Regelverfahren auch in der
gesetzlichen Regelung (§ 419 Abs. 3 Halbsatz 1 StPO) zum Ausdruck kommt, wenn auch
in anderer Ausgestaltung (Ablehnung der Entscheidung im beschleunigten Verfahren und
gleichzeitiger Eröffnung des Hauptverfahrens). Infolge der ausdrücklichen Ablehnung des
beschleunigten Verfahrens und Rückgabe der Akten an die Staatsanwaltschaft wird indes
eine Zäsur begründet, durch die das (etwaige) spätere Regelverfahren bei "Null" beginnt
(vgl. dazu unten), auch wenn die Staatsanwaltschaft - wie es § 419 Abs. 3 2. Halbsatz StPO
ermöglicht - für dieses von der Einreichung einer neuen Anklageschrift absehen kann.
Entsprechendes gilt für das Argument, dass die Frage hinreichenden Tatverdachts im
beschleunigten Verfahren geprüft worden ist. Infolge der durch die Ablehnung des
beschleunigten Verfahrens und der Rückgabe der Akten an die Staatsanwaltschaft
eingetretenen klaren Trennung beider Prozessarten könnte der im beschleunigten
Verfahren bejahte hinreichende Tatverdacht die unterbliebene schriftliche
Eröffnungsentscheidung (§ 203 StPO) im späteren Regelverfahren nur dann als nicht so
schwer wiegend erscheinen lassen, wenn diese Bejahung im späteren Regelverfahren
noch eine verfahrensrechtliche "Restwirkung" entfalten könnte. Denn nur im Falle einer
solchen "Restwirkung" erscheint es gerechtfertigt, den im Regelverfahren fehlenden
Eröffnungsbeschluss als Verfahrensvoraussetzung für ausnahmsweise verzichtbar zu
halten. Diese Restwirkung vermag der Senat indes hier nicht zu erkennen. Durch die
ausdrückliche Ablehnung des beschleunigten Verfahrens und die Rückgabe der Akten an
die Staatsanwaltschaft kehrt das Verfahren in das Ermittlungsverfahren (vorbereitendes
Verfahren) zurück, in dem die Frage hinreichenden Tatverdachts einer neuen Prüfung
seitens der Staatsanwaltschaft zu unterziehen ist, zumindest aber unterzogen werden kann,
und in dem die Staatsanwaltschaft - ohne dass sie den Antrag auf Entscheidung im
beschleunigten Verfahren zurückgenommen hat (vgl. zur Fallgestaltung der
Antragsrücknahme: BayObLG NJW 1998, 2152) - ihre volle Entschließungsfreiheit - auch z.
B. zur Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO - wiedererlangt (vgl. Gössel in LR, 25. Auflage, §
419 Rn. 40, vgl. auch Rn. 41; Loos/Radtke NStZ 1995, 569, 572). Legt die
Staatsanwaltschaft die Akten erneut dem Gericht vor, diesmal mit dem Antrag, das
Hauptverfahren zu eröffnen, beginnt - wie bereits oben angemerkt - das
Eröffnungsverfahren mit der gerichtlichen Prüfung hinreichenden Tatverdachts bei "Null",
diesmal mit der - im Vergleich zum beschleunigten Verfahren verstärkten - Rechtsposition
des Angeklagten aus § 201 StPO (vgl. auch Art. 6 Abs. 3 MRK).
.Als Ergebnis ist daher festzuhalten: Prozediert das Amtsgericht, nachdem es nach
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Ablehnung des Antrags auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren, Rückgabe der
Akten an die Staatsanwaltschaft und Wiedererhalt der Akten von dieser sodann im
Regelverfahren, ohne einen Eröffnungsbeschluss erlassen zu haben, liegt - wie bei einem
von vornherein stattfindenden Regelverfahren - ein schwer wiegender Verfahrensfehler vor,
der ein Verfahrenshindernis begründet, das in der Rechtsmittelinstanz zur
Verfahrenseinstellung zwingt (vgl. Gössel in LR, § 417 Rn. 44; vgl. auch Radtke JR 2001,
133, 137 ff.).
Einer förmlichen Aufhebung des angefochtenen Urteils bedarf es nicht (st.
Senatsrechsprechung, vgl. SenE v. 13.10.2000 - Ss 398/00).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 467Abs. 1 StPO.