Urteil des OLG Köln vom 06.12.2010

OLG Köln (sexuelle nötigung, sexueller missbrauch, unterbringung, stgb, sicherungsverwahrung, bewährung, sache, vollstreckung, beschwerdeführer, anordnung)

Oberlandesgericht Köln, 2 Ws 529/10
Datum:
06.12.2010
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ws 529/10
Leitsätze:
Zur Behandlung sog. Altfälle der Sicherungsverwahrung nach Rückgabe
der Sache im Vorlegungsverfahren gem. § 121 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 3
GVG durch den BGH
Tenor:
Der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts A. vom
18.06.2010 wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung,
auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, und zu vorsorglichen
Maßnahmen nach Maßgabe der Entscheidung des 5. Strafsenats des
BGH vom 9.11.2010 - 5 StR 394+440+474/10 - an das Landgericht -
Strafvollstreckungskammer - zurückverwiesen.
Gründe:
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1. Der Verurteilte befindet sich aufgrund Anordnung im Urteil des Landgerichts D. vom
19.04.1985 in Sicherungsverwahrung. Zehn Jahre der Unterbringung, deren
Vollstreckung zwischenzeitlich zur - später widerrufenen -Bewährung ausgesetzt war,
waren am 04.07.2006 vollzogen. Die Strafvollstreckungskammer hat es durch den
angefochtenen Beschluß abgelehnt, die weitere Vollstreckung zu beenden bzw. für
erledigt zu erklären. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten hin hat der Senat die
Sache im Hinblick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte – EGMR – vom 19.12.2009 mit Beschluss vom 23.08.2010 gem. § 121
Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 3 GVG n.F. dem BGH zur Entscheidung der Rechtsfrage
vorgelegt, ob in sog. "Altfällen" § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes
zur Bekämpfung von Sexualstraftaten und anderen gefährlichen Straftätern vom
26.1.1998 (BGBl. I 160) oder § 67d Abs. 1 S. 1 StGB in der bis zum 31.1.1998 geltenden
Fassung anzuwenden sei.
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2. Der 5. Strafsenat des BGH hat mit Beschluss vom 09.11.2010 – 5 StR 394, 440 und
474/10 – in drei gleichartig gelagerten Vorlegungsverfahren eine rückwirkende
Anwendbarkeit des § 67 d Abs. 3 Satz 1 StGB n.F. grundsätzlich bejaht und wegen der
abweichenden Auffassung des 4. Strafsenats sowie wegen grundsätzlicher Bedeutung
der Rechtsfrage das Verfahren nach § 132 GVG eingeleitet. Bis zu dessen Erledigung
hat der 5. Strafsenat mit Beschluß vom 10.11.2010 das Ruhen des vorliegenden
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Verfahrens angeordnet und die Akten zur Fortführung der nach den im Beschluss vom
09.11.2010 näher dargelegten strengen Kriterien vorzunehmenden Überprüfungen an
das OLG Köln zurückgegeben.
3. Der 5. Strafsenat des BGH hat in der Entscheidung vom 09.11.2010 § 67 d Abs. 3
Satz 1 StGB n.F. im Lichte der Entscheidung des EGMR vom 19.12.2009 einschränkend
dahin ausgelegt, dass in Altfällen die erstmalige Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung nach 10-jährigem Vollzug für erledigt zu erklären ist, sofern nicht
eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualverbrechen aus konkreten
Umständen in der Person oder im Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist (Ls 2).
Bei diesem engen Maßstab kommt nur in Ausnahmefällen auch eine Aussetzung der
weiteren Vollstreckung zur Bewährung in Betracht.
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Im Beschluss vom 10.11.2010 hat der 5. Strafsenat für das vorliegende Verfahren auf
das Erfordernis einer aktuellen Begutachtung und Sachentscheidung hingewiesen und
vor dem Hintergrund der seit mehr als 14 Jahren vollstreckten Unterbringung und der
Entwicklung des bei dem Beschwerdeführer eingetretenen dementiellen Prozesses
Bedenken geäußert, ob die erhöhten Anforderungen an eine weitere Fortdauer der
Maßregelvollstreckung noch zu bejahen sind.
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4. Der Senat vermag auch bei Anlegung dieses strengen Prüfungsmaßstabes die
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung im Falle des Beschwerdeführers ohne die
auch aus Sicht des BGH gebotene aktuelle Begutachtung allein nach Aktenlage
gegenwärtig nicht für erledigt zu erklären oder zur Bewährung auszusetzen.
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Der Untergebrachte ist – wie im Vorlegungsbeschluss vom 23.08.2010 näher dargestellt
- seit seinem 14. Lebensjahr durchgängig - nur unterbrochen von Haftzeiten - mit
Straftaten auffällig geworden. Bereits einer ersten Einweisung in eine Maßregel im
Jahre 1964 lagen Sexualstraftaten zugrunde. Anschließend ist es mit hoher
Rückfallfrequenz zu Verurteilungen wegen Diebstählen und schweren Raubes
gekommen, bis es im Jahr 1985 erneut zu der Verurteilung wegen eines Sexualdelikts
(sexueller Missbrauch und sexuelle Nötigung eines 8-jährigen Mädchens, dessen
Widerstand der Beschwerdeführer durch Würgen bis zur Bewusstlosigkeit hatte
überwinden wollen) gekommen ist, das zur Anordnung der Sicherungsverwahrung
geführt hat. Nach der letzten Begutachtung durch Dr. P. im Jahre 2007 sprechen die
historischen Prognosefaktoren durchweg für eine ungünstige Prognose.
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Die Persönlichkeit des Untergebrachten weist eine Störung mit dissozialen und
schizoiden Zügen auf, daneben besteht die Diagnose des schädlichen Gebrauchs von
Alkohol, der auch bei der Begehung der Straftaten als konstellierender Faktor von
Bedeutung war. Der Beschwerdeführer verfügt über geringe Frustrationstoleranz und
neigt zu aggressivem und gewalttätigem Ausagieren von Konflikten, ohne dass er bisher
eine Konfliktlösungskompetenz hat entwickeln können. Im Gegenteil neigt er dazu,
seine Straftaten zu bagatellisieren und zeigt kein Interesse an
Behandlungsmaßnahmen.
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5. Nach diesem Befund ist aus der Person des Untergebrachten die konkrete und
hochgradige Gefahr schwerster Sexualverbrechen herzuleiten, die einer
Erledigterklärung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gegenwärtig
entgegensteht.
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Angesichts des überragenden Gewichts der durch weitere Straftaten bedrohten
Rechtsgüter – die körperliche und seelische Unversehrtheit sowie die sexuelle
Selbstbestimmung von Kindern – hält der Senat die Fortdauer der Unterbringung mit
dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bis auf weiteres für vereinbar.
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Die vom BGH insoweit geäußerten Bedenken auch im Hinblick auf eine beginnende
Demenz des Untergebrachten können jedenfalls nach Aktenlage nicht geteilt werden.
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Der Sachverständige Dr. P. hat – nachvollziehbar – darauf hingewiesen, dass eine
beginnende dementielle Entwicklung eine ungünstige Prognose bei dem
Untergebrachten eher noch stützen kann, weil es zu einer zunehmenden Akzentuierung
der negativen Persönlichkeitsmerkmale kommen kann und die Empfindlichkeit des
Gehirns für Alkohol steigt. Aufgrund der Leistungseinschränkung wird es für den
Untergebrachten zudem schwieriger werden, Probleme und Spannungen zu lösen. Dies
alles gilt um so mehr, als der Verurteilte sich nach der letzten vorliegenden
Stellungnahme der Leiterin der Justizvollzugsanstalt A. vom 23.02.2010 weiterhin aktiv
und körperlich allenfalls gering gradig eingeschränkt zeigt.
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Eine Entlassperspektive, die eine Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung als
verantwortbar erscheinen ließe, besteht derzeit ebenfalls nicht.
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6. Nach alledem kommt eine dem Untergebrachten günstigere Entscheidung nur in
Betracht, sofern eine neuerliche Begutachtung dazu Anlass bietet. Dazu hat der Senat
die Sache an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen, die zur Vorbereitung der
anstehenden Entscheidung im Überprüfungsverfahren nach §§ 67 e Abs. 2, 67 d Abs. 3
StGB gem. § 463 Abs. 3 Satz 4 StPO die Einholung eines Sachverständigengutachtens
bereits angeordnet hat.
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Es entspricht der Rechtsprechung des Senats zu der gleich gelagerten Konstellation
des § 454 Abs. 2 StPO, dass die Anordnung eines Sachverständigengutachtens und
ggf. eine anschließende mündliche Anhörung durch den Senat als Beschwerdegericht
im Regelfall nicht in Betracht kommen (vgl zuletzt Senat 19.04.2010 – 2 Ws 167/10 -).
Ein maßgeblicher und hier besonders ins Gewicht fallender Gesichtspunkt hierfür ist,
dass dem Verurteilten nicht eine Instanz genommen werden soll.
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7. Die vom BGH in der Entscheidung vom 9.11.2010 unter Ziff. VII erteilten Hinweise
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richten sich an alle mit Entscheidungen in diesem Zwischenstadium befaßten Gerichte.
Dazu gehört insbesondere der Hinweis unter Ziff. VII 3 b auf vorsorgliche Vorbereitung
sofort umsetzbarer Maßnahmen für den Entlassungsfall. Vor Inkrafttreten des
Therapieunterbringungsgesetzes kommt eine entsprechende Ausgestaltung der
Führungsaufsicht in Betracht, die auch eine Heimunterbringung beinhalten kann. Der
Senat teilt die Auffassung des OLG Düsseldorf ( MDR 90,743), dass auch eine Weisung
nach § 68b Abs. 1 Nr. 1 StGB, den Wohn- oder Aufenthaltsort nicht ohne Erlaubnis zu
verlassen, in Betracht kommt.
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