Urteil des OLG Köln vom 09.11.2000

OLG Köln (Doppelrelevante Tatsachen, Entkräftung, Rechtskraft, Strafzumessung, Persönlichkeit, Versuch, Begründungspflicht, Bewährung, Bevölkerung, Kriminalität)

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Oberlandesgericht Köln, Ss 457/00 - 251 -
09.11.2000
Oberlandesgericht Köln
1. Strafsenat
Beschluss
Ss 457/00 - 251 -
Das angefochtene Urteil wird mit seinen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über
die Kosten der Revision - an eine andere Strafkammer des Landgerichts
Köln zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der Angeklagte ist durch Urteil des Amtsgerichts Bergisch Gladbach vom 25. Oktober 1999
wegen Diebstahls im besonders schweren Fall in 2 Fällen, wobei es in einem Fall beim
Versuch blieb, zu einer Freiheitsstrafe (gemeint: Gesamtfreiheitsstrafe) von 6 Monaten
verurteilt worden. Seine Berufung, die "auf das Strafmaß beschränkt" worden ist, hat die 3.
kleine Strafkammer des Landgerichts Köln mit Urteil vom 16. August 2000 verworfen.
Dagegen wendet sich der Angeklagte mit der Revision, die er mit einer nicht ausgeführten
Sachrüge begründet.
II.
Das Rechtsmittel hat insofern (vorläufigen) Erfolg, als es gemäß §§ 353, 354 Abs. 2 StPO
zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an eine
andere Strafkammer des Landgerichts führt.
Das angefochtene Urteil kann keinen Bestand haben, weil ihm nicht entnommen werden
kann, ob das Berufungsgericht im Hinblick auf die Annahme eines besonders schweren
Falls des Diebstahls eine eigene Entscheidung getroffen hat oder ob es insoweit von einer
Bindung an die entsprechende Feststellung des erstinstanzlichen Urteils ausgegangen ist.
In dem einen Fall wären die Gründe des Berufungsurteils materiell-rechtlich unvollständig,
weil sie die maßgeblichen Erwägungen der Entscheidung nicht wiedergeben und deshalb
eine revisionsrechtliche Überprüfung nicht ermöglichen. Im anderen Fall hätte die
Strafkammer den Umfang der durch die Berufung gebotenen Überprüfung des
amtsgerichtlichen Urteils verkannt mit der Folge, dass die Entscheidung selbst
unvollständig ist.
Zutreffend ist das Landgericht zunächst davon ausgegangen, dass das erstinstanzliche
Urteil infolge der Berufungsbeschränkung im Schuldspruch mit den ihn tragenden
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Feststellungen rechtskräftig geworden ist. Dazu heißt es in den Urteilsgründen, nach den
vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen habe sich der Angeklagte "wegen Diebstahl
im besonders schweren Fall in zwei Fällen, wobei es am 07.07.1999 beim Versuch blieb,
nach §§ 242, 243 Abs. 1 Nr. 2, 22, 23 StGB schuldig gemacht". Im Rahmen der daran
anschließenden Strafzumessungserwägungen wird sodann ausgeführt, es sei "für die Tat
vom 01.07.1999 von einem Strafrahmen von drei Monaten bis zu zehn Jahren und für die
Tat vom 07.07.1999 mit Rücksicht auf § 23 Abs. 2 i.V.m. § 49 StGB von einem Strafrahmen
von Freiheitsstrafe bis zu sieben Jahren sechs Monaten auszugehen".
Das Landgericht hat demnach hinsichtlich beider abgeurteilten Taten den erhöhten
Strafrahmen für besonders schwere Fälle des Diebstahls gemäß § 243 Abs. 1 S. 1 StGB zu
Grunde gelegt, ohne die insoweit erforderliche Gesamtwürdigung (vgl. Tröndle/Fischer,
StGB, 49. Aufl., § 46 Rdnr. 43) im Rahmen einer eigenständigen Entscheidung
vorzunehmen bzw. in den Urteilsgründen überprüfbar darzustellen.
Bei einer Beschränkung der Berufung auf die Überprüfung des Rechtsfolgenausspruchs
besteht keine Bindung des Berufungsgerichts an die Rechtsauffassung des Amtsgerichts,
es sei ein "besonders schwerer Fall" oder ein "minder schwerer Fall" anzunehmen (SenE
v. 07.04.2000 - Ss 156/00 -; SenE v. 31.03.2000 - Ss 148/00 -; SenE v. 26.02.1999 - Ss
54/99; SenE v. 14.07.2000 - Ss 295/00 -). Die Annahme, dass es sich bei der abgeurteilten
Tat um einen "besonders schweren Fall" gehandelt hat, ist nicht Gegenstand des
Schuldspruchs (BGHSt 23, 254 [256] = NJW 1970, 1196; BGHSt 27, 287 [289]). Die
Beurteilung der Frage, welcher Strafrahmen zur Anwendung zu bringen ist, gehört vielmehr
zur Rechtsfolgenentscheidung, die das Berufungsgericht - auf der Grundlage des in
Rechtskraft erwachsenen Schuldspruchs (hier: wegen Diebstahls und versuchten
Diebstahls) und der ihn tragenden Feststellungen - eigenständig zu treffen hat (SenE v.
31.03.2000 - Ss 148/00 -).
Bei den in § 243 StGB beschriebenen Tatmodalitäten, die zur Annahme eines besonders
schweren Falls des Diebstahls führen können, handelt es sich um Strafzumessungsregeln
(vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl., § 243 Rdnr. 3). Das Berufungsgericht muss daher
auch in Fällen der Rechtskraft des Schuldspruchs eigenständig beurteilen, ob ein
besonders schwerer Fall vorliegt, wobei es lediglich die Bindung an erstinstanzlich
festgestellte doppelrelevante Tatsachen zu beachten hat (BGHSt 29, 359 = NJW 1981,
589; SenE v. 07.04.2000 - Ss 156/00 -; SenE v. 26.02.1999 - Ss 54/99 -; SenE v.
09.06.1989 - Ss 219/89 -).
Für die Annahme eines besonders schweren Falles kommt es darauf an, ob das gesamte
Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom
Durchschnitt der erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Fälle in einem Maße
abweicht, dass die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten ist (BGH NStZ 2000,
194; BGHSt 23, 254 [257]; BGHSt 29, 319 [322]; BGHR § 125 StGB Strafzumessung 1). Ob
ein besonders schwerer Fall vorliegt, hat der Tatrichter daher aufgrund eingehender
Würdigung der Tat und der Persönlichkeit des Täters zu beurteilen; dabei müssen
insbesondere die äußeren gegen die inneren Umstände der Tat abgewogen werden (SenE
v. 14.07.2000 - Ss 295/00 -).
Sind die Merkmale eines Regelbeispiels für die Annahme eines besonders schweren
Falles (hier: gemäß § 243 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB) erfüllt, so begründet dies lediglich eine
Indizwirkung dafür, dass die Anwendung des erhöhten Strafrahmens veranlasst ist. Diese
Wirkung kann durch Umstände, die den Unrechts- und Schuldgehalt des Regelbeispiels
kompensieren, ausgeräumt werden (BGHSt 23, 254 = NJW 1970, 1196 [1197]; BGH NJW
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1987, 2450 = NStZ 1987, 222 = StV 1988, 81 m. w. Nachw.; BGH StV 1989, 432 [433];
Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl., § 46 Rdnr. 43b m. w. Nachw.; SenE v. 11.07.2000 - Ss
288/00 -; SenE v. 15.09.2000 - Ss 375/00 -). Es ist daher auch in den Regelbeispielfällen
zur Bestimmung des maßgeblichen Strafrahmens stets eine Gesamtwürdigung aller für die
Strafzumessung wesentlichen Umstände vorzunehmen (BGH StV 1982, 225; BGH NStZ
1993, 377 [Schoreit] = MDR 1993, 202 [Schmidt]; BGH NStZ-RR 1997, 121 [L];
Tröndle/Fischer a.a.O. Rdnr. 44; SenE v. 11.07.2000 - Ss 288/00 -; SenE v. 08.09.2000 - Ss
364/00 -; SenE v. 15.09.2000 - Ss 375/00 -).
Dabei sind insbesondere die gesetzlich vertypten Strafmilderungsgründe - wie
beispielsweise auch derjenige des Versuchs gemäß § 23 Abs. 2 StGB - von erheblicher
Bedeutung und geeignet, alleine oder zusammen mit weiteren Strafzumessungsfaktoren
zur Entkräftung der Regelwirkung und zur Verneinung eines besonders schweren Falles zu
führen (BGHR BtMG § 29 Abs. 3 Strafrahmenwahl 1 [zu § 31 BtMG] u. 7; BGH NStZ 1991,
376 [Schoreit]; BGH NStZ 1993, 378 [Schoreit] = MDR 1993, 1151 [Schmidt]; SenE v.
11.07.2000 - Ss 288/00 -; SenE v. 08.09.2000 - Ss 364/00 -; teilw. abw. Stree, in:
Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl., § 50 Rdnr. 7). Das Vorliegen eines vertypten
Strafmilderungsgrundes gibt Anlass zu der Erwägung, ob trotz der Verwirklichung des
Tatbestands eines Regelbeispiels von dem Normalstrafrahmen auszugehen ist oder ob der
Strafrahmen für den besonders schweren Fall nach § 49 StGB gemildert wird (SenE v.
11.07.2000 - Ss 288/00 -; SenE v. 14.07.2000 - Ss 295/00 -; SenE v. 08.09.2000 - Ss
364/00 -). Führt ein vertypter Milderungsgrund allein oder in Zusammenhang mit sonstigen
Umständen zur Entkräftung der Regelwirkung, so ist zu entscheiden, ob unter Verneinung
eines besonders schweren Falles der Strafrahmen des Grundtatbestandes (hier: § 242
StGB) zugrunde gelegt oder aber der Strafrahmen für den besonders schweren Fall (hier: §
243 Abs. 1 StGB) nach § 49 Abs. 1 StGB gemildert wird (BGHR BtMG § 29 Abs. 3
Strafrahmenwahl 7; BGH NStZ 1986, 368; BGH StV 1986, 342; BGH NStZ 1990, 595).
Auch insofern bedarf es einer Gesamtwürdigung, wobei dem Rechtsgedanken des § 50
StGB Rechnung zu tragen ist (vgl. BGH NJW 1986, 1699 [1700] = StV 1986, 339 [340];
Tröndle/Fischer a.a.O. § 50 Rdnr. 2b m. w. Nachw.; vgl. a. BGHSt 33, 92 = NJW 1985, 1406
= StV 1985, 107).
Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass sich der Tatrichter der Möglichkeit einer
Entkräftung der Regelwirkung durch einen vertypten Milderungsgrund (BGH MDR 1993,
202 f. [Schmidt]; BGH MDR 1993, 1151 [Schmidt]) und der Wahlmöglichkeit (BGH
[12.09.90] NStZ 1990, 595; Tröndle/Fischer a.a.O. Rdnr. 43b) bewusst gewesen ist (SenE
v. 14.07.2000 - Ss 295/00 -; SenE v. 08.09.2000 - Ss 364/00 -).
Diese Prüfung hat das Landgericht vorliegend nicht vorgenommen; zumindest lassen die
Urteilsgründe dies nicht erkennen und daher auch eine revisionsgerichtliche Überprüfung
in dieser Hinsicht nicht zu. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass die Heranziehung
des erhöhten Strafrahmens auf rechtsfehlerhaften Erwägungen beruht. Andererseits kann
nicht mit Gewissheit angenommen werden, dass im Ergebnis nur ein Festhalten an der
Regelwirkung des § 243 StGB innerhalb rechtsfehlerfreier Ausübung des
Strafzumessungsermessens möglich ist.
Im übrigen geben die Urteilsgründe Anlass, für die neue Hauptverhandlung auf folgendes
hinzuweisen:
a)
Nach der gesetzgeberischen Grundentscheidung des § 47 StGB soll die Verhängung
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kurzer Freiheitsstrafen weitestgehend zurückgedrängt werden und nur noch
ausnahmsweise unter ganz besonderen Umständen in Betracht kommen (vgl. BGHSt 24,
40 [42 f.]; OLG Hamm VRS 97, 410 [411]). Die Verhängung einer Freiheitsstrafe unter 6
Monaten hat danach regelmäßig nur dann Bestand, wenn sie sich aufgrund einer
Gesamtwürdigung aller die Tat und den Täter kennzeichnenden Umstände als
unverzichtbar erweist (BGHR StGB § 47 Abs. 1 Umstände 7 = NStZ 1996, 429; BGH StV
1994, 370; OLG Hamm VRS 97, 410 [411] m. w. Nachw.; SenE v. 10.05.2000 - Ss 176/00 -;
SenE v. 15.08.2000 - Ss 333/00 -). Damit die Anwendung des § 47 StGB auf Rechtsfehler
geprüft werden kann, bedarf es einer eingehenden und nachprüfbaren Begründung (BGH
StV 1982, 366; BGH StV 1994, 370; OLG Schleswig StV 1982, 367; StV 1993, 29 [30];
Senat NJW 1981, 411; vgl. a. Dahs/Dahs, Die Revision im Strafrecht, 5. Aufl., Rdnr. 394).
Das Urteil muss dazu eine auf den Einzelfall bezogene, die Würdigung von Tat und
Täterpersönlichkeit umfassende Begründung dafür enthalten, warum eine kurzfristige
Freiheitsstrafe unerlässlich ist. Formelhafte Wendungen genügen nicht (BGH StV 1982,
366; OLG Köln DAR 1971, 301; Hanack, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., § 337 Rdnr.
225). Der Tatrichter hat vielmehr für das Revisionsgericht nachvollziehbar darzulegen,
welche besonderen Umstände in der Tat oder in der Persönlichkeit des Angeklagten die
Verhängung der kurzzeitigen Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Angeklagten oder zur
Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich gemacht haben (SenE v. 15.06.1999 - Ss
219/99 -). Zwar sind bei wiederholter Rückfälligkeit geringere Anforderungen an die
Begründungspflicht zu stellen (OLG Köln 3. StrS GA 1980, 267; Tröndle/Fischer, StGB, 49.
Aufl., § 47 Rdnr. 5). Summarische Hinweise im Urteil auf Vorstrafen genügen allerdings in
diesen Fällen nicht (OLG Celle DAR 1970, 188; OLG Düsseldorf VRS 39, 328; SenE v.
10.05.2000 - Ss 176/00 -; SenE v. 06.06.2000 - Ss 231/00 -; vgl. a. OLG Hamm VRS 41,
410; Tröndle/Fischer a.a.O. Rdnr. 9; Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl., § 47
Rdnr. 19). Kommt es entscheidend auf eine oder mehrere Vortaten an, müssen deren
nähere Umstände festgestellt und dargetan werden (OLG Frankfurt StV 1995, 27 [29]; OLG
Koblenz VRS 51, 428 [429]; Hanack a.a.O. m. w. Nachw.). Denn das Vorliegen der
Ausnahmevoraussetzungen des § 47 StGB kann weder schematisch aus dem Vorliegen
einschlägiger Vorstrafen, noch aus der gleichzeitigen Aburteilung einer Anzahl von Fällen
geschlossen werden, sondern ist nach den besonderen Umständen des Einzelfalles
festzustellen (OLG Frankfurt StV 1993, 28 [29]; SenE v. 09.01.1998 - Ss 723/97 -; SenE v.
25.03.1999 - Ss 85/99 -; SenE v. 16.07.1999 - Ss 298/99 -; SenE v. 10.05.2000 - Ss 176/00
-; SenE v. 15.08.2000 - Ss 333/00 -).
b) Eine Prüfung der Frage, ob die Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 56 Abs. 3
StGB aus Gründen der Verteidigung der Rechtsordnung zu versagen ist, kommt nur bei
Vorliegen der Voraussetzungen für eine positive Bewährungsentscheidung nach § 56 Abs.
1 StGB in Betracht (SenE v. 07.05.1993 - Ss 122/93 - = NZV 1993, 357; OLG Dresden VRS
98, 432).
Die Verteidigung der Rechtsordnung gebietet es, die Strafe zu vollstrecken, wenn eine
Strafaussetzung die Rechtstreue der Bevölkerung ernsthaft beeinträchtigen und von der
Allgemeinheit als ungerechtfertigtes Zurückweichen vor der Kriminalität angesehen würde
(BGHSt 24, 40 [46]; BGHSt 24, 64 [66, 69]; BGH NStZ 1985, 459; OLG Düsseldorf NZV
2000, 214 [215]). Spezialpräventive Gesichtspunkte - wie die Erwägung, dem Angeklagten
müsse das Unrecht seiner Taten deutlich gemacht werden - scheiden daher aus (BGH StV
1989, 150; BayObLG wistra 1998, 194; BayObLG NStZ-RR 1998, 299 [300];
Tröndle/Fischer a.a.O. § 56 Rdnr. 8). Sie spielen nur insofern eine Rolle, als das Maß der
persönlichen Bewährungswürdigkeit für die nach § 56 Abs. 3 StGB mit von Bedeutung sein
kann (SenE v. 07.05.1993 - Ss 122/93 - = NZV 1993, 357).