Urteil des OLG Karlsruhe vom 20.09.2016

behandelnder arzt, voraussetzung des leistungsanspruchs, private unfallversicherung, versicherungsnehmer

OLG Karlsruhe Urteil vom 20.9.2016, 12 U 82/16
Leitsätze
Die Unbeachtlichkeit der Fristversäumnis nach § 186 S. 2 VVG betrifft nur solche Fristen, die der
Versicherungsnehmer auf entsprechenden Hinweis durch sein Verhalten bewusst "einhalten" oder versäumen
kann. Die Frist für den Invaliditätseintritt gehört nicht dazu; denn dabei handelt es sich um eine objektive
Bedingung, deren Eintritt oder Nichteintritt der Versicherungsnehmer - unabhängig von einem Hinweis - nicht
willentlich beeinflussen kann
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Baden-Baden vom 14.03.2016 - 1 O 156/14 -
wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Baden-Baden ist ohne
Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe
von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn die Beklagte nicht zuvor Sicherheit in Höhe von
110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
1 Die Kläger begehrt - über vorprozessuale Zahlungen hinaus - weitere Invaliditätsleistungen aus einer
Unfallversicherung.
2 Der Kläger unterhält bei der Beklagten eine Unfallversicherung; u.a. ist die Geltung der AUB 2000
vereinbart. Am 01.02.2012 erlitt der Kläger bei einem Verkehrsunfall Kopfverletzungen. Sein behandelnder
Arzt bescheinigte ihm am 02.04.2013 unfallbedingte Dauerbeeinträchtigungen in Form von
Narbenbeschwerden und Schwindel (Anl. K5, AH I 33). Die Beklagte erbrachte vorprozessual Leistungen auf
der Grundlage eines von ihr angenommenen Grads der dauerhaften Beeinträchtigung von 3%.
3 Der Kläger hat erstinstanzlich behauptet, er leide unfallbedingt an Schwindel, Kopfschmerzen und
Ohrgeräuschen; deshalb sei er zu 30% dauerhaft beeinträchtigt. Er hat beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger
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1. 23.538,80 EUR nebst fünf Prozentpunkte Zinsen hieraus über dem Basiszinssatz seit dem 26.06.2014
zu zahlen, sowie
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2. außergerichtliche Kosten in Höhe von 1.242,84 EUR nebst fünf Prozentpunkte Zinsen hieraus über dem
Basiszinssatz seit dem 26.06.2014 zu zahlen, hilfsweise den Kläger von diesen Kosten freizustellen.
7 Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
9 Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Sachverständigengutachten; wegen der Ergebnisse wird auf die
schriftlichen Gutachten vom 25.02.2015 (nebst Zusatzgutachten, AS I 103-137) und 30.09.2015 (AS I 199
ff.) sowie das Protokoll vom 23.02.2016 (AS I 239 ff.) Bezug genommen.
10 Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Der Kläger habe eine über 3 % hinausgehende unfallbedingte
Dauerbeeinträchtigung nicht nachgewiesen. Soweit der Sachverständige eine diskrete
Leistungsverzögerung des rechtsseitigen Blinkreflexes sowie eine Amplitudenminderung beim Trigemus-SEP
rechts festgestellt habe, könne dies dem Unfall nicht zugeordnet werden. Denn entsprechende Beschwerden
hätten gleich nach dem Unfall auftreten müssen und nicht - wie vom Kläger geschildert - etwa eineinhalb
Jahre danach. Auch die vom Kläger angegebenen Ohrgeräusche, die etwa ein Jahr nach dem Unfall
aufgetreten seien, könnten dem Unfall nicht ohne Weiteres zugeordnet werden. Unter Umständen komme
ein Zusammenhang in Betracht, wenn es beim Unfall zu einem Schädelhirntrauma gekommen wäre. Ob dies
der Fall gewesen sei, könne allenfalls anhand der unfallnahen Dokumentation beurteilt werden. Derartige
Unterlagen habe der Kläger trotz mehrfacher Aufforderung und Fristsetzung jedoch nicht vorgelegt. Ohne
diese Unterlagen könne selbst durch ein erneutes MRT ein Zusammenhang der jetzigen Beschwerden mit
dem Unfall nicht festgestellt werden. Nach den überzeugenden Angaben des Sachverständigen spreche
gegen einen solchen Zusammenhang zudem, dass keinerlei Anhaltspunkte für Brückensymptome bestünden.
Nachdem der Kläger die Vorlage der erforderlichen medizinischen Unterlagen versäumt habe, bedürfe es
keiner weiteren Beweisaufnahme.
11 Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers. Es sei eine ergänzende Begutachtung
erforderlich. Der Sachverständige und das Landgericht hätten die vom Kläger vorgelegten Befunde nicht
berücksichtigt. Das Gutachten sei nicht brauchbar, so dass die Sachverständigenkosten niederzuschlagen
seien.
12 Der Kläger beantragt,
13 das Urteil des Landgerichts Baden-Baden abzuändern und nach seinen erstinstanzlichen Anträgen zu
entscheiden,
14 hilfsweise das Urteil des Landgerichts Baden-Baden aufzuheben und das Verfahren zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Baden-Baden zurückzuverweisen.
15 Die Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung und beantragt,
16 die Berufung zurückzuweisen.
17 Der Senat hat mit Verfügungen vom 29.06.2016 (AS II 27) und 24.08.2016 (AS II 87) darauf hingewiesen,
dass der Kläger bislang nicht vollständig zu den Anspruchsvoraussetzungen vorgetragen hat, insbesondere
nicht zur Jahresfrist nach Ziff. 2.1.1.1 AUB 2000. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird,
soweit in diesem Urteil keine anderen Feststellungen getroffen sind, auf die tatsächlichen Feststellungen der
angefochtenen Entscheidung, die gewechselten Schriftsätze der Parteien sowie die von ihnen vorgelegten
Anlagen Bezug genommen.
II.
18 Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Zu Recht hat das Landgericht den geltend gemachten Anspruch
auf weitere Invaliditätsleistung aus § 180 VVG abgelehnt.
19 1. Die Klage ist bereits unschlüssig. Der Kläger hat trotz entsprechender Hinweise des Senats nichts dazu
vorgetragen, ob die behauptete Invalidität innerhalb eines Jahres nach dem Unfall eingetreten ist. Das ist
jedoch nach Ziff. 2.1.1.1 (1. Spiegelstrich) AUB 2000 Voraussetzung für den Versicherungsfall (vgl. zur AGB-
rechtlichen Wirksamkeit BGH NJW 2012, 3184). Diese Voraussetzung ist im Prozess von Amts wegen zu
prüfen; der Anspruchsteller hat dazu - gegebenenfalls wie hier auf richterlichen Hinweis - substantiiert
vorzutragen (Prölss/Martin/Knappmann, VVG, 29. Aufl., Ziff. 2 AUB 2000 Rn. 29; Kloth, Private
Unfallversicherung, 2. Aufl., G.121 ff. mwN.).
20 Hier hat die Beklagte diesen Punkt - jedenfalls in der Berufungsinstanz - sogar ausdrücklich gerügt. Den
Eintritt der geltend gemachten Invalidität innerhalb der Jahresfrist hat die Beklagte auch zuvor nicht
zugestanden. Insbesondere stellt die vorprozessuale Zahlung kein konkludentes Zugeständnis bestimmter
Beeinträchtigungen dar. Sie erfolgte offenbar aus Kulanzgründen (vgl. AS I 31) und beinhaltete jedenfalls
keinen Rechtsbindungswillen hinsichtlich eines über 3 % hinausgehenden Invaliditätsgrads.
21 Dass die geltend gemachte Invalidität innerhalb eines Jahres nach dem Unfall eingetreten wäre, ergibt sich
auch nicht indirekt aus den vom Kläger vorgelegten Unterlagen. Im Gegenteil: Ausweislich des von ihm
vorgelegten Attests vom 23.01.2013 (Anl. K1 z. SchrS v. 14.04.2015) ging sein behandelnder Arzt zu
diesem Zeitpunkt - eine Woche vor Ablauf der Jahresfrist - davon aus, dass abgesehen von den Narben keine
Unfallfolgen verblieben seien, die zu funktionellen Störungen geführt hätten; Probleme seit April 2012 seien
ihm nicht bekannt. Der Kläger geht in seiner Berufungsbegründung selbst davon aus, dass „erstmals“ in der
ärztlichen Invaliditätsfeststellung vom 23.04.2013 (Anl. K5) - also deutlich nach Ablauf der Jahresfrist -
Narbenbeschwerden und Schwindel diagnostiziert wurden (AS II 41). Gegenüber dem Sachverständigen hat
er in der persönlichen Untersuchung am 04.02.2015 als Beschwerden angegeben, dass er seit etwa einem
Jahr an einem Ohrgeräusch und seit etwa einem halben Jahr an Kopfschmerzen leide (AS I 105), also jeweils
erst seit dem Jahr 2014.
22 Die Jahresfrist, innerhalb derer die Invalidität eingetreten sein muss, ist dabei auch nicht nach § 186 S. 2
VVG unbeachtlich. Nach dieser Vorschrift kann sich der Versicherer auf eine Fristversäumnis nicht berufen,
wenn er auf die einzuhaltende Frist nicht hingewiesen hat. Inwieweit die Beklagte hier auf die Jahresfrist
hingewiesen hat, kann dabei dahinstehen. Denn die Unbeachtlichkeit der Fristversäumnis nach § 186 S. 2
VVG betrifft nur solche Fristen, die der Versicherungsnehmer auf entsprechenden Hinweis durch sein
Verhalten bewusst „einhalten“ oder versäumen kann (wie die Frist zur ärztlichen Feststellung, dazu unten
2.). Die Frist für den Invaliditätseintritt gehört nicht dazu; denn dabei handelt es sich um eine objektive
Bedingung, deren Eintritt oder Nichteintritt der Versicherungsnehmer - unabhängig von einem Hinweis -
nicht willentlich beeinflussen kann (MünchKomm-VVG/Dörner, § 186 Rn. 6 a.E.; Prölss/Martin/Knappmann,
VVG, 29. Aufl., § 186 Rn. 1; Langheid/Rixecker, VVG, 5. Aufl., § 186 Rn. 2).
23 2. Es kommt daher nicht mehr darauf an, dass es auch an der förmlichen Voraussetzung des
Leistungsanspruchs nach Ziff. 2.1.1.1 (2. Spiegelstrich, 1. Alt.) AUB 2000 fehlen dürfte, wonach die
unfallbedingte Invalidität innerhalb von 15 Monaten ärztlich festgestellt werden muss.
24 Zwar ist hier innerhalb der 15-Monatsfrist eine entsprechende ärztliche Feststellung getroffen worden (Anl.
K5); grundsätzlich sind an diese Feststellung auch keine hohen Anforderungen zu stellen, sie muss nicht
einmal inhaltlich richtig sein (BGH VersR 2007, 1114 mwN.). Zumindest muss sie aber die angenommene
Invaliditätsursache und die Art ihrer Auswirkungen konkret angeben, um dem Versicherer eine Prüfung
seiner Leistungspflicht zu ermöglichen und etwaige Spätschäden auszugrenzen. Deshalb kann sich der
Versicherungsnehmer später für seinen Anspruch auf Invaliditätsleistung nur auf solche Dauerschäden
berufen, die in der ärztlichen Feststellung benannt sind (BGH aaO.). Ein entsprechender Ausschluss kommt
hier in Betracht, nachdem der Kläger als jetzige Beschwerden Ohrgeräusche und Kopfschmerzen angibt (vgl.
auch AS I 241), während sich die ärztliche Feststellung auf Narbenbeschwerden und Schwindel beschränkt.
25 Die zwischen den Parteien streitige Frage, ob die Beklagte den Kläger vorprozessual hinreichend auf die Frist
für die ärztliche Feststellung hingewiesen hat oder ob mangels eines ordnungsgemäßen Hinweises eine
Nachholung auch nach Fristablauf noch möglich wäre (§ 186 VVG), kann dabei auf sich beruhen. Denn der
Kläger hat eine ärztliche Feststellung hinsichtlich seiner jetzigen Beschwerden (Ohrgeräusche,
Kopfschmerzen) bis zum Schluss der Berufungsverhandlung nicht nachgeholt, so dass seine Klage auch im
Falle der Nachholbarkeit abzuweisen wäre (vgl. OLG Rostock MDR 2009, 568 mwN.).
26 3. Unabhängig davon ist das Landgericht aber auch zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger eine
unfallbedingte Invalidität nicht bewiesen hat.
27 a) Dazu wäre zum einen der Nachweis eines entsprechenden Primärschadens (insbesondere in Form einer
unfallbedingten Hirnverletzung; „haftungsbegründende Kausalität“) erforderlich gewesen; zum anderen
hätte der Kläger beweisen müssen, dass sich aus diesem Primärschaden die jetzigen Beschwerden als
Sekundärschaden ergaben (“haftungsausfüllende Kausalität“). Das ist nicht gelungen. Der Sachverständige
hat, da ihm keine entsprechenden unfallnahen Befunde vorlagen, schon keine hinreichenden Feststellungen
zum Primärschaden treffen können. Selbst für den Fall des Nachweises eines Primärschadens sah er überdies
einen Zusammenhang der jetzigen Beschwerden des Klägers mit dem Unfall mangels Brückensymptomen als
„sehr unwahrscheinlich“ und „spekulativ“ an (AS I 245, 205, 113 u.).
28 b) Der Kläger meint, die von ihm erstinstanzlich mit Schriftsatz vom 14.04.2015 (AS I 157) vorgelegten
Dokumente (Anl. K1 und 2: Arzt- und Krankenhaus-Attest vom 23.01.2013 und 19.02.2013) seien bei der
Begutachtung nicht berücksichtigt worden. Dieser Einwand ist nicht nachvollziehbar. Im
Ergänzungsgutachten vom 30.09.2015 (AS I 199) hat sich der Gutachter ausführlich mit diesen nachträglich
erstellten Attesten auseinandergesetzt und erläutert, dass diese nicht ausreichen, sondern vielmehr die
Vorlage der medizinischen Originaldokumentation - also insbesondere der bildgebenden Verfahren -
erforderlich sei (AS I 143 f.; ebenso in der ergänzenden mündlichen Anhörung, AS I 243 f.).
29 Auf dieser Grundlage konnte der dem Kläger obliegende Beweis nicht als geführt angesehen werden.
30 c) Soweit der Kläger weitere medizinische Befunde erstmals im Berufungsverfahren vorgelegt hat (AH II), ist
dieses neue Vorbringen im Berufungsverfahren nach § 531 Abs. 2 ZPO nicht berücksichtigungsfähig.
31 Gründe nach § 531 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 ZPO, die das Unterbleiben in erster Instanz und die Berücksichtigung
in der Berufung ausnahmsweise rechtfertigen könnten, sind weder dargelegt noch ersichtlich. Vielmehr ist
von Nachlässigkeit auf Seiten des Klägers auszugehen. Dabei mag dahinstehen, ob sich für den Kläger aus
dem ersten Gutachten (AS I 113 f.) und der daran anschließenden Fristsetzung des Landgerichts (Beschl. v.
14.08.2015, AS I 171) bereits hinreichend konkret ergab, welche genauen Dokumente fehlten. Jedenfalls
stellte das Ergänzungsgutachten vom 30.09.2015 unmissverständlich klar, dass die vom Kläger auf das erste
Gutachten hin nachgereichten Atteste (vom 23.01.2013 und 19.02.2013, Anl. K1 und 2) aus Sicht des
Sachverständigen nicht ausreichten (AS I 203). Innerhalb der zum Ergänzungsgutachten gesetzten
Stellungnahmefrist (AS I 209) hat der Kläger keine weiteren Befunde vorgelegt, obwohl die von ihm selbst
zuvor eingereichten Atteste ausdrücklich auf unfallnah gefertigte MRT- und CT-Aufnahmen verwiesen. In der
erstinstanzlichen Verhandlung wurden diese früheren Aufnahmen ebenfalls ausdrücklich angesprochen;
unmissverständlich stellte der Sachverständige dabei klar, dass eine weitere Begutachtung ohne
Einbeziehung dieser früheren Aufnahmen sinnlos sei (AS I 245). Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte eine
auf die Einhaltung ihrer Prozessförderungspflicht bedachte Partei diese Aufnahmen nachreichen müssen,
gegebenenfalls im Wege eines zu beantragenden Schriftsatznachlasses. Das hat der anwaltlich vertretene
Kläger unterlassen.
32 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
33 Entgegen der Auffassung des Klägers besteht für eine Niederschlagung der Kosten der erstinstanzlichen
Beweisaufnahme keine Grundlage. Eine Niederschlagung nach § 21 GKG setzt voraus, dass die Kosten auf
einem schweren Verfahrensverstoß seitens des Gerichts beruhen (BGH MDR 2005, 956). Das ist hier nicht
ersichtlich.
34 Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Gründe für die
Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) liegen nicht vor.