Urteil des OLG Karlsruhe vom 29.07.2014

OLG Karlsruhe: messung, geschwindigkeit, fahrzeug, überprüfung, verfügung, expertise, kennzeichen, fahrbahn, fachkunde, ausbildung

OLG Karlsruhe Beschluß vom 29.7.2014, 1 (3) SsRs 569/11; 1
(3) SsRs 569/11 - AK 145/11
Geschwindigkeitsmessung, PoliScan-Speed-Messverfahren, Smear-Effekt
Leitsätze
Der Senat zur Ansicht, dass bei der Anwendung des PoliScan-Speed-Messverfahrens eine
verlässliche Geschwindigkeitsmessung auch allein auf den sog. Smear-Effekt gestützt werden
kann.
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts C. vom 31. Mai
2011 aufgehoben.
Der Betroffene wird freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens und die dem Betroffenen entstandenen notwendigen Auslagen fallen
der Staatskasse zur Last.
Gründe
I.
1 Das Amtsgericht C. verurteilte den Betroffenen am 31.05.2011 wegen fahrlässiger
Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener
Ortschaften zu der Geldbuße 120 Euro, weil er am 04.06.2009 auf der BAB A 5 in
Fahrtrichtung D. auf der Gemarkung C. mit dem Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen ...
die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h um 33 km/h - gefahrene
Geschwindigkeit nach Toleranzabzug 153 km/h - überschritten habe. Dabei ist das
Amtsgericht davon ausgegangen, dass die mit dem Messgerät PoliScan Speed mit der
Softwareversion 1.3.3 durchgeführte Messung nicht verwertbar war, weil im konkreten Fall
nicht auszuschließen sei, dass ein sehr dicht vorrausfahrendes Fahrzeug die Messung
ausgelöst und sich der Betroffene als nachfolgender Fahrer zufällig genau in der
Fotoposition befunden habe. Seine Verurteilung hat das Amtsgericht nach Anhörung eines
technischen Sachverständigen insoweit allein auf den sog. Smear-Effekt gestützt und die
vom Betroffenen gefahrene Geschwindigkeit aufgrund einer vom Hersteller des
Messgeräts mitgeteilten Formel auf 153 km/h bestimmt.
2 Gegen diese Entscheidung hat der Betroffene am 01.06.2011 Antrag auf Zulassung der
Rechtsbeschwerde gestellt und vorgebracht, das Amtsgericht habe zu Unrecht die
Verurteilung des Betroffenen allein auf den Smear-Effekt gestützt, weil es sich hierbei nicht
um eine verlässliche Messmethode handele. Der Senat hat mit Beschluss vom 24.01.2013
die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts zugelassen und am 28.01.2013 unter
Bestimmung von Dipl. Phys. Dr. L. zum Gutachter ein technisches
Sachverständigengutachten zur Frage eingeholt, ob und ggf. unter welchen
Voraussetzungen bei der Anwendung des PoliScan-Speed-Messverfahrens eine
verlässliche Geschwindigkeitsmessung allein auf den sog. Smear-Effekt gestützt werden
kann. Der Verteidiger und die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe haben Gelegenheit zur
Stellungnahme zu dem am 05.02.2014 schriftlich erstatteten Gutachten sowie dem
Ergänzungsgutachten vom 29.04.2014 - auf beide Expertisen wird wegen der Einzelheiten
verwiesen - erhalten.
II.
3 Der Rechtsbeschwerde kann ein Erfolg nicht versagt bleiben. Sie führt zur Freisprechung
des Betroffenen.
4 Die vom Senat zu der Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen beim PoliScan-
Speed-Messverfahren auch allein aufgrund des Smear-Effekts eine verlässliche
Geschwindigkeitsmessung durchgeführt werden kann, durchgeführte Beweiserhebung hat
folgende Erkenntnisse erbracht:
5 1. Als Smear-Effekt werden bei digitalen Kameras Lichtspuren (helle Streifen) im Bild
bezeichnet, die bei besonders hellen Lichtquellen im Bildbereich auftreten. Die Ursache
für diesen optischen Effekt ist die Art der Bildauswertung bei sog. CCD-Sensoren (Charge
Coupled Device Sensor). Hierbei handelt es sich um lichtempfindliche elektronische
Bauelemente, wobei der Smear-Effekt dadurch auftritt, dass der CCD-Sensor nach der
Belichtung die in den Speichern vorhandenen Ladungen schrittweise in vertikaler
Richtung verschiebt, bis sie als Ladungspakete einer nach dem anderen den
Ausleseverstärker erreichen. Hat die Lichtquelle keine Eigengeschwindigkeit, sind diese
Streifen senkrecht, anders jedoch, wenn die Lichtquelle eine ausreichende
Geschwindigkeit besitzt. In diesem Falle verlaufen diese Streifen in einem
entsprechenden Winkel zur Senkrechten, wobei dann anhand des dabei entstehenden
sog. Smear-Winkels Rückschlüsse auf die Geschwindigkeit möglich sind.
6 2. Soweit ersichtlich, ist die Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen bei der
Anwendung des PoliScan-Speed-Messverfahrens (vgl. zur Anerkennung als
standardisiertes Messverfahren: KG VRS 118, 366; dass. DAR 2010, 331; OLG Frankfurt
VRR 2010, 203: Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht SchlHA 2013, 450; OLG
Bamberg DAR 2014, 38; vgl. hierzu auch Senat DAR 2010, 216) eine verlässliche
Geschwindigkeitsmessung allein auf den Smear-Effekt gestützt werden kann, bislang nicht
obergerichtlich entschieden. Lediglich das Oberlandesgericht Frankfurt hat
ausgesprochen, dass beim PoliScan-Speed-Messverfahren aufgrund der sog. Smear-
Linien bei eingeschalteten Scheinwerfern ansatzweise eine nachträgliche Überprüfung
der konkreten Messung möglich sei (Beschluss vom 12.09.2011, 2 Ss-OWi 558/11,
abgedruckt bei juris; vgl. hierzu auch AG Aachen DAR 2013, 218), wobei hiergegen u.a.
eingewandt wird, dass eine Überprüfung der PoliScan-Speed-Messung mittels des
Smear-Effekts derart große Geschwindigkeitstoleranzbreiten aufweise, dass dieser für
seriöse Untersuchungen nicht herangezogen werden sollte (Schmedding/Neidel/Reuß
SVR 2012, 121 ff., 126).
7 3. Das vom Senat bei Dipl. Phys. Dr. L. in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten
hat insoweit zunächst ergeben, dass es mathematisch unter Verwendung einer dort im
Einzelnen dargelegten Berechnungsformel durchaus möglich ist, die Geschwindigkeit
eines Fahrzeugs anhand der Steigung einer Smearlinie eines zu einem anderen Fahrzeug
gehörenden Lichtpunktes zu bestimmen, wobei die Durchführung einer solchen Messung
jedoch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist. So muss es sich bei dem Sensor der
Kamera um einen CCD-Sensor handeln, auf dem Fahrzeug muss zur Ausbildung des
Smear-Effekts zumindest ein heller Lichtpunkt vorhanden sein, welcher sich möglichst weit
vorne an der Front des Fahrzeugs befinden muss, die Lichtspur sollte zur ausreichenden
Messbarkeit von deren Steigung ausreichend lang sein, der Kameratyp nebst der
jeweiligen Kameradaten müssen bekannt sein, die Höhe der aufgestellten Kamera über
der Fahrbahn sollte sich nicht nennenswert von der Höhe des Lichtpunktes unterscheiden,
die Kameralängsachse sollte parallel zur Fahrbahnoberfläche ausgerichtet sein und
schließlich sollte sich das Fahrzeug, von dem der Lichtpunkt stammt, parallel zur
Fahrbahnlängsrichtung bewegen. Auch muss zur Berechnung der Geschwindigkeit
zunächst dessen Abstand zur Kamera ermittelt werden, weshalb ein Element an der
Fahrzeugfront benötigt wird, dessen räumliche Dimension - wie etwa beim vorderen
Kennzeichen - bekannt ist.
8 Die weitere Frage, in welchem Umfang bei der Messung Fehlertoleranzen - insoweit
handelt es sich sowohl um systemische Fehler als auch um Auswertefehler -
berücksichtigt werden müssen, hängt - so der Sachverständige - von der im Einzelfall
durchgeführten Messung ab. So können etwa einige mögliche Toleranzen, wie etwa die
Bestimmung des sog. Kamaraschwenkwinkels, dadurch minimiert werden, dass mehrere
Messfotos einer Messserie ausgewertet werden. So können sogar - so der
Sachverständige - bei optimalen Ausgangsbedingungen im Hinblick auf die Qualität des
Messfotos und der daraus zu ermittelnden Größen die für das PoliScan-Speed-
Messverfahren üblichen Toleranzen (+/- 3 km bei Geschwindigkeiten unter 100 km/h; +/-
3% der angezeigten Geschwindigkeit bei Geschwindigkeiten von mehr als 100 km/h)
zugrunde gelegt werden, wenn mehrere Smearlinien auf dem Messfoto zur Verfügung
stehen und mehrere solcher Messfotos einer Messserie ausgewertet werden können.
Demgegenüber wird man unter normalen Ausgangsbedingungen - was die Qualität des
Messfotos und der daraus zu bestimmenden Größen betrifft - für den Fall, das nur eine
Smearlinie, jedoch mehrere Messfotos vorhanden sind, von Toleranzen von +/- 10 % oder
für den Fall, dass nur eine Smearlinie eines einzigen Messfotos zur Verfügung steht, von
Toleranzen von +/- 10-15% und bei sehr ungünstigen Ausgangsbedingungen sogar von
solchen von +/- 20 % ausgehen können.
9 4. Unter Zugrundelegung dieser sachverständigen Expertise - an der Fachkunde des
Gutachters, der wissenschaftlicher Qualität seines Gutachtens und der
Nachvollziehbarkeit seiner Expertise bestehen vorliegend keine Zweifel - neigt der Senat
zur Ansicht, dass bei der Anwendung des PoliScan-Speed-Messverfahrens eine
verlässliche Geschwindigkeitsmessung auch allein auf den sog. Smear-Effekt gestützt
werden kann. Voraussetzung einer solchen verlässlichen und verwertbaren Berechnung
der Geschwindigkeit, auch im Hinblick auf die konkret zugrunde liegenden Toleranzen, ist
jedoch eine in jedem Einzelfall durchzuführende sachverständige Überprüfung des
Messvorgangs, in welcher, wie oben dargelegt, unter anderem die konkrete
Zeilenauslesezeit, die Aufstellhöhe der Kamera und der Aufstellwinkel der Kamera sowohl
bezogen auf die Fahrbahnoberfläche als auch auf das fotografierte Objekt konkret ermittelt
und einbezogen werden müssen.
10 Einer abschließenden Entscheidung dieser Frage, insbesondere im Hinblick auf eine
ergänzend noch einzuholende Bewertung der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt
(PTB) in Braunschweig (vgl. hierzu auch deren Stellungnahme zum Urteil des
Amtsgerichtes Aachen vom 10.12.2012 - 444 Owi-606 Js 31/12-93/12 - unter:
http://www.ptb.de/cms/fachabteilungen/abt1/fb-13/stellungnahme.html) be-durfte es jedoch
nicht. Aus der auf Anregung des Verteidigers vom Senat eingeholten ergänzenden
gutachterlichen Stellungnahme von Dr. L. vom 29.04.2014 ergibt sich nämlich, dass im
vorliegenden Fall konkrete Aussagen zur Verwertbarkeit der Messung und den zugrunde
zu legenden Toleranzen nicht mehr getroffen werden können, weil die Datei, auf welcher
die Messung des Fahrzeugs des Betroffenen dokumentiert war, nach Auskunft des
Regierungspräsidiums Karlsruhe zwischenzeitlich vernichtet worden ist. Da sich die nach
dem Sachverständigengutachten insoweit notwendigen Daten aber aus den
Urteilsgründen nicht bzw. nicht vollumfänglich ergeben und aufgrund der Vernichtung der
relevanten Dateien auch davon auszugehen ist, dass sich diese in einer neuen
Hauptverhandlung nicht mehr feststellen lassen, hat der Senat von einer Aufhebung und
Rückverweisung des Urteils abgesehen und den Betroffenen sogleich freigesprochen.
III.
11 Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs.1 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 OWiG.