Urteil des OLG Hamm vom 12.02.2008

OLG Hamm: körperverletzung, pflichtverteidiger, rüge, werkzeug, schuh, bewährung, zustand, persönlichkeit, bäcker, videoüberwachung

Oberlandesgericht Hamm, 3 Ss 541/07
Datum:
12.02.2008
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
3 Ss 541/07
Vorinstanz:
Amtsgericht Bielefeld, 36 Ds 374/07
Schlagworte:
Pflichtverteidigerbestellung, Rügeanforderungen
Normen:
StPO § 344 Abs. 2 S. 2; StPO § 338 Nr. 5; StPO § 140 Abs. 2
Leitsätze:
Wird gerügt, dass der Angeklagte in der Hauptverhandlung entgegen §
140 Abs. 2 StPO ohne Verteidiger war, so reicht es nicht, unter dem
Gesichtspunkt der "Schwere der Tat" lediglich die ausgeurteilte Strafe
(hier: Freiheitsstrafe von einem Jahr) in der Revisionsbegründung
mitzuteilen. Vielmehr muss der Beschwerdeführer in der
Revisionsbegründung (u.a.) auch die übrigen in der Rechtsprechung
aufgestellten Voraussetzungen, unter denen bei einer Straferwartung
von einem Jahr "regelmäßig" ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist,
darlegen.
Tenor:
1.
Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch mit den
zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere
Abteilung des Amtsgerichts Bielefeld zurückverwiesen.
3.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe:
1
I.
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Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs.
3
1 Nr. 2 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung es
zur Bewährung ausgesetzt hat. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts trat der unter
Alkoholeinfluß stehende Angeklagte in den frühen Morgenstunden des 11.11.2006
zweimal mit dem beschuhten Fuß gegen die Stirn seines am Boden liegenden Opfers.
Dieses erlitt hierdurch eine Platzwunde, außerdem blutete seine Nase. Zuvor hatte der
weitere – nichtrevidierende -Verurteilte R den Geschädigten von hinten gegen den
Nacken bzw. die Schulter geschlagen, wodurch dieser zu Boden gestürzt war.
Gegen das Urteil hat der Angeklagte zunächst Berufung eingelegt und dann – nach
Urteilszustellung am 16.08.2007 – mit Schriftsatz vom 24.08.2007 erklärt, dass das
Rechtsmittel als Revision geführt werden solle. Der Mitverurteilte R hat die von ihm
eingelegte Berufung mit anwaltlichem Schriftsatz vom 21.08.2007, in dem die
ausdrückliche Ermächtigung hierzu versichert wird, zurückgenommen.
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Der Angeklagte rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die
Generalstaatsanwaltschaft Hamm hat beantragt, das angefochtene Urteil mit den zu
Grunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Bielefeld
zurückzuverweisen.
5
II.
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Die (nach Berufungsrücknahme durch den Mitverurteilten, vgl. § 335 Abs. 3 StPO)
stathafte und zulässige Revision hat teilweise Erfolg.
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1.
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Das angefochtene Urteil war im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen
Feststellungen aufzuheben und wie geschehen zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2
StPO), da die Strafzumessungserwägungen des Amtsgerichts rechtlicher Überprüfung
nicht Stand halten. Diese sind lückenhaft und widersprüchlich. Hierauf beruht das Urteil
auch.
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a) In dem Urteil heißt es, dass davon auszugehen sein, dass die Angeklagten bei der
Tat unter Alkoholeinfluss gestanden haben, aber kein Anlass bestehe, dies
strafmildernd zu berücksichtigen, da das Alkoholproblem und die daraus resultierende
Kriminalität dem Mitverurteilten R in einer früheren Verurteilung bereits vor Augen
geführt worden sei. Warum die frühere Verurteilung des R Anlass geben sollte, bei dem
Angeklagten von einer möglichen Strafmilderung nach § 21 StGB abzusehen, bleibt
offen.
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Unschädlich ist es in diesem Zusammenhang, dass das Amtsgericht die Alkoholisierung
des Angeklagten nicht auch im Hinblick auf eine mögliche Schuldunfähigkeit gem. § 20
StGB erörert, denn dafür bestand nach dem während der Tat und dem Vortatgeschehen
gezeigten Leistungsverhalten des Angeklagten kein Anlass. Soweit die Revision auf
eine weitergehende Alkoholisierung hinaus will, ist ihr Vorbringen zum Teil urteilsfremd.
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b) Widersprüchlich ist es auch, wenn das Amtsgericht einerseits eine gemeinschaftliche
Begehung der Körpverletzung verneint, andererseits aber (auch) dem Angeklagten die
Schmerzen des Opfers im Bereich Schulter/Nacken, die offensichtlich vom Schlag des
Mitverurteilten stammen, straferschwerend zurechnet.
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c) Schließlich begegnet es auch Bedenken, wenn straferschwerend berücksichtigt wird,
dass es sich um einen "gemeinen" Überfall gehandelt habe, ohne dass näher erläutert
wird, worin das Amtsgericht das über den Umstand einer gefährlichen Körperverletzung
hinausgehende "Gemeine" erblickt.
13
2.
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Die weitergehende Revision ist unbegründet, da die Überprüfung des Urteils auf die
Sachrüge hin im übrigen keine Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufzeigt.
Insbesondere begegnet es hier keinen rechtlichen Bedenken, dass der Angeklagte
wegen gefährlicher Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs (§ 224 Abs.
1 Nr. 2 StGB) verurteilt wurde, auch wenn keine näheren Feststellungen zur Art der
Beschuhung getroffen werden konnten. Nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofes kommt es für die Frage, ob der Schuh am Fuß als ein gefährliches
Werkzeug i.S. dieser Vorschrift anzusehen ist, auf die Umstände des Einzelfalles an.
Selbst ein Turnschuh kann danach ein gefährliches Werkzeug sein (BGH NStZ 2003,
662, 663; NStZ 1999, 616 m.w.N.). Im Hinblick darauf kann kein Zweifel bestehen, dass
auch ein möglicherweise leichterer Schuh nach seiner konkreten Verwendungsart - hier:
eines Trittes in das Gesicht – geeignet ist, erhebliche Körpverletzungen hervorzurufen.
Hier zeigt sich die Geeignetheit des Schuhs dazu an den beschriebenen Verletzungen.
Näherer Feststellungen zur Art des Schuhs bedurfte es daher im vorliegenden Einzelfall
nicht. Die von der Revision angeführte Entscheidung BGH NStZ 1984, 328 steht dem
nicht entgegen, da diese, was die Werkzeugqualität der Turnschuhe angeht, durch die
oben genannten Entscheidungen nach Ansicht des Senats überholt ist und im
vorliegenden Fall auch – anders als dort – konkret auf die Tritteinwirkung
zurückgehende Verletzungen beschrieben sind, anhand derer sich die
Werkzeugqualität ohne weiteres erschließt.
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3.
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Auch der erhobenen Rüge der Verletzung der §§ 338 Nr. 5, 140 Abs. 2 StPO war der
Erfolg zu versagen.
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Die Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO entspricht nicht den
Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO. Nach dieser Vorschrift müssen
bei Erhebung der Verfahrensrüge die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden
Tatsachen so genau dargelegt werden, dass das Revisionsgericht aufgrund dieser
Darlegung das Vorhandensein – oder Fehlen – eines Verfahrensmangels feststellen
kann, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen sind oder bewiesen werden (OLG
Hamm NStZ-RR 2001, 373 m.w.N.).
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Das hat der Beschwerdeführer nicht getan. Er teilt als Verfahrenstatsachen lediglich mit,
dass der Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von
einem Jahr – bei Strafaussetzung zur Bewährung – verurteilt wurden ist. Es heißt weiter:
"Der Angeklagte war ohne Verteidiger. Ihm ist von Amts wegen kein Verteidiger bestellt
worden. Einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers hat er aus Unkenntnis
nicht gestellt."
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a) Es kann dahinstehen, ob die Rüge bereits deswegen nicht hinreichend ausgeführt ist,
weil nicht ausdrücklich erwähnt wird, dass der Angeklagte in der
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Hauptverhandlung ohne Verteidiger war, denn allein hierauf kommt es bei § 338
Nr. 5 StPO an. Die Revisionsbegründung ist unklar, da nicht deutlich wird, worauf sich
das Unverteidigtsein bezieht. Sie ermöglicht allerdings auch die Auslegung, dass der
Angeklagte während des gesamten bisherigen Strafverfahrens, also auch während der
Hauptverhandlung unverteidigt war.
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b) Die Rügebegründung entspricht aber jedenfalls deswegen nicht den oben genannten
Anforderungen, weil sie sich zu wesentlichen, für eine Pflichtverteidigerbestellung
relevanten Umständen nicht verhält. Zutreffend ist, dass die Verhandlung ohne einen
Verteidiger, in Fällen, in denen dem Angeklagten ein solcher nach § 140 Abs. 2 StPO zu
bestellen gewesen wäre, gegen § 338 Nr. 5 StPO verstößt (Meyer-Goßner 50. Aufl. §
338 Rdn. 41). Dann bedarf es aber auch der Ausführung, warum die "Schwere der Tat"
bzw. die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage oder die "Verteidigungsunfähigkeit"
die Mitwirkung eines Verteidigers erfordert (OLG Hamm NStZ-RR 2001, 373; Meyer-
Goßner a.a.O.).
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Unter Zugrundelegung der oben geschilderten Verfahrenstatsachen meint die Revision,
dass dem Angeklagten wegen der Straferwartung von einem Jahr ein Pflichtverteidiger
zu bestellen gewesen wäre.
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Dahinstehen kann, ob der Revisionsführer nicht bereits nähere Ausführungen dazu
hätte machen müssen, wie sich die Straferwartung zu Beginn der Hauptverhandlung
darstellte.
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Unter Zugrundelegung der Urteilsfeststellungen kann davon ausgegangen werden,
dass hier eine Straferwartung von einem Jahr gegeben war. Es wird aber übersehen,
dass die "Jahresgrenze" keine gesetzlich festgelegte Grenze für die Notwendigkeit der
Bestellung eines Pflichtverteidigers ist. Ob eine Pflichtverteidigerbestellung wegen der
"Schwere der Tat" erforderlich ist, bestimmt sich nach der obergerichtlichen
Rechtsprechung vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung, wobei
hier eine Straferwartung von um ein Jahr Freiheitsstrafe zu Grunde gelegt wird (vgl.
dazu näher OLG Düsseldorf StV 2002, 236; OLG Hamm, NStZ-RR 1997, 78; OLG
Hamm NStZ-RR 2001, 373; OLG München wistra 2006, 118; OLG Rostock Beschl v.
24.06.2002 – I Ws 273/02; OLG Saarbrücken Beschl. v. 24.04.2007 – Ss 25/07;
ThürOLG StraFo 2005, 200; OLG Koblenz StraFo 2006, 285; KK-Laufhütte StPO 5. Aufl.
§ 140 Rdn. 21; Meyer-Goßner a.a.O. § 140 Rdn. 23). Hierbei handelt es sich aber nicht
um eine starre Grenze. Vielmehr sind nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung
auch die Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten, die sich nach dem Zustand seiner
Persönlichkeit und den Umständen des Falles richtet, zu berücksichtigen (vgl.: OLG
Düsseldorf StV 2002, 236; OLG Hamm NStZ-RR 1997, 78; OLG München Beschl. v.
13.12.2005 – 5 StRR 129/05= wistra 2006, 118; ThürOLG StraFo 2005, 200; OLG
Rostock Beschl. v. 24.06.2002 – I Ws 273/02; OLG Saarbrücken Beschl. v. 24.04.2007 –
SS 25/07). Hierzu verhält sich die Rügebegründung indes nicht. Insbesondere wird nicht
ausgeführt, warum sich der zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung stehende, knapp 27-
jährige, im Berufsleben als Bäcker stehende Angeklagte, sich gegen den in rechtlicher
und tatsächlicher (nur wenige zu vernehmende Zeugen, Tat wurde auf
Videoüberwachung aufgezeichnet) Hinsicht einfach gelagerten Vorwurf nicht hätte
angemessen verteidigen können. Das ergibt sich auch nicht aus dem Satz, dass der
Angeklagte aus Unkenntnis keinen Pflichtverteidiger beantragt habe.
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Dass wegen einer weiteren als gefährlicher Körperverletzung angeklagten Tat die
Straferwartung so hoch gewesen ist (zwei Jahre und mehr), dass auf jeden Fall ein
Pflichtverteidiger zu bestellen gewesen wäre, kann der Senat anhand der
Rügebegründung ebenfalls nicht hinreichend nachprüfen, da die Revision nicht mitteilt,
welches Schicksal das Verfahren hinsichtlich dieses zweiten Vorwurfs genommen hat
und sich dies für den Senat auch nicht aus den übrigen von Amts wegen zur Kenntnis
zu nehmenden Urkunden ergibt.
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Für eine Pflichtverteidigerbestellung wegen der anderen in § 140 Abs. 2 StPO
genannten Umstände enthält die Rügebegründung ebenfalls keine Anhaltspunkte.
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