Urteil des OLG Hamm vom 13.05.2005

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Oberlandesgericht Hamm, 2 Ss OWi 274/05
Datum:
13.05.2005
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
2. Senat für Bußgeldsachen
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ss OWi 274/05
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben.
Der Betroffene wird auf Kosten der Landeskasse, die auch seine
notwendigen Auslagen trägt, freigesprochen.
Gründe
1
I.
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Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Überschreitung der
zulässigen Höchstgeschwindigkeit nach den §§ 41 Abs. 2 Ziffer 7, 49 StVO in
Verbindung mit §§ 24, 25 StVG zu einer Geldbuße von 150 EURO verurteilt und
außerdem ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Nach den vom Amtsgericht
getroffenen Feststellungen hat der Betroffene am 3. April 2004 auf der BAB A 45 die an
der Vorfallsstelle auf 100 km/h begrenzte zulässige Höchstgeschwindigkeit um 45 km/h
überschritten.
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Der Betroffene hat Einwendungen gegen die Zuverlässigkeit der Messung nicht
erhoben. Er hat allerdings seine Täterschaft bezweifelt und sich dahin eingelassen,
dass das gemessene Fahrzeug zu einem "Unternehmenspool" gehöre. Zwar sei es ihm
als Betriebsleiter zugeteilt und werde das Fahrzeug überwiegend von ihm genutzt, doch
stehe das Fahrzeug bei Bedarf auch seinen Mitarbeitern zur Verfügung. Der tatsächliche
Fahrer sei aufgrund der "schlechten Bildqualität" nicht mehr zu ermitteln gewesen. Es
sei nicht ausgeschlossen, dass er selbst das Fahrzeug gesteuert habe, anhand des
Messfotos sei aber die Identifizierung des Fahrers nicht möglich.
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Das Amtsgericht ist davon überzeugt gewesen, dass der Betroffene zum
Vorfallszeitpunkt der Fahrer des Pkws gewesen ist. Es hat seine Überzeugung von der
Täterschaft des Betroffenen auf ein vom Vorfall gefertigtes Lichtbild/Radarfoto gestützt
sowie außerdem auf ein Passfoto des Betroffenen und auf ein Lichtbild von einem
früheren Verkehrsverstoß des Betroffenen, bei dem er seine Täterschaft eingeräumt
hatte.
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Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen. Die
Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel zu verwerfen.
6
II.
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Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache mit der Sachrüge Erfolg.
Der Betroffene war frei zu sprechen.
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Die Beweiswürdigung des Amtsgerichts ist fehlerhaft (§§ 267, 261 StPO). Zwar ist die
Beweiswürdigung grundsätzlich Sache des Tatrichters; ihm kann nicht vorgeschrieben
werden, unter welchen Voraussetzungen er zu einer bestimmten Schlussfolgerung und
Überzeugung kommen darf. Das Rechtsbeschwerdegericht darf die Beweiswürdigung
des Tatrichters dementsprechend nicht durch seine eigene ersetzen, hat sie aber auf
rechtliche Fehler zu überprüfen (vgl. BGHSt 10, 209; 29, 19). Fehlerhaft ist die
Beweiswürdigung dann, wenn sie in sich widersprüchlich, lückenhaft oder unklar ist,
gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt oder falsche Maßstäbe für die zur
Verurteilung erforderliche bzw. ausreichende Gewissheit angelegt werden (vgl. BGH
StV 1986, 421 und NStZ 1986, 373; Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl., § 337 Rdnr. 26 ff.
und § 261 Rdnr. 38). Gemessen daran hält die Beweiswürdigung im angefochtenen
Beschluss rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Feststellungen im angefochtenen
Urteil zur Täterschaft des Betroffenen, der seine Fahrereigenschaft nicht eingeräumt hat,
entsprechen nämlich nicht den Anforderungen, die die obergerichtliche Rechtsprechung
an die Identifizierung des Betroffenen anhand eines von dem Verkehrsverstoß
gefertigten Beweisfotos stellt.
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Das Amtsgericht hat folgende Ausführungen gemacht:
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"Das Gericht ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sicher überzeugt, dass der
Betroffene selbst zum Tatzeitpunkt das gemessene Fahrzeug gesteuert hat. Diese
Überzeugung beruht ausdrücklich nicht darauf, dass nach Anhörung durch
Ermittlungspersonen Mitarbeiter des Betroffenen diesen als Fahrer erkannt haben
wollen, die Überzeugung des Gerichts beruht ausschließlich auf der eigenen
Inaugenscheinnahme des Betroffenen und der mit ihm vergleichenden
Inaugenscheinnahme des Messfotos zum Tatzeitpunkt, des Messfotos zum Zeitpunkt
der Geschwindigkeitsmessung vom 17.03.2004 um 09:24 Uhr im beigezogenen
Verwaltungsvorgang des Regierungspräsidenten Kassel und des Portrait-Fotos des
Betroffenen aus der Passstelle der Gemeindeverwaltung Neunkirchen. Insoweit wird
zur Darstellung der Einzelheiten der jeweils abgebildeten Gesichtszüge des
Betroffenen auf den Inhalt der genannten Fotos Bl. 15 und 23 der Gerichtsakten und
Bl. 1 des beigezogenen Verwaltungsvorganges Bezug genommen. Danach steht
zunächst die Identität des Betroffenen und der ihn kennzeichnenden Gesichtszüge auf
Grund des Fotos der Gemeindeverwaltung Neunkirchen fest (B1. 23 d.A.),
desgleichen die Identität des Betroffenen mit dem Fahrer desselben Pkw BMW-Cabrio
am 17.03.2004, da der Betroffene die damalige Fahrereigenschaft einräumt. Die so
festgestellten signifikanten Eigenheiten der Gesichtszüge des Betroffenen
einschließlich seines Oberlippen- und Kinnbartes lassen durch Vergleich mit der,
signifikanten Eigenheiten der Gesichtszüge auf dem hier fraglichen Messfoto vom
03.04.2004 (B1. 15 d.A.) den sicheren Rückschluss auf die Identität des Betroffenen
mit dem Fahrer zu. Das letztgenannte hier in Bezug genommene Fahrer-Foto ist zur
Überführung des Betroffenen geeignet, es ist trotz eines Grau-Schleiers und leichter
Verwischung von Konturen und trotz der Verdeckung des Haaransatzes durch, den
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Innenspiegel auf Grund der sonst erkennbaren Merkmale generell geeignet, den
Betroffenen zu identifizieren. Dabei stützt sich das Gericht neben dem äußeren
Gesamteindruck, den der Betroffene vermittelt hat und der dem des abgebildeten
Fahrers vollkommen entspricht, auf den für ihn charakteristischen Oberlippen- und
Kinnbart - auf den Messfotos ohne Backenbart - und weiter auf das markant leicht
abstehende linke Ohr, das nicht von Haaren verdeckt ist, auf eine ihn kennzeichnende
starke Unterlippe und die vom Bart nicht verdeckte Mundpartie, die seinen
Gesichtsausdruck auf allen Fotos einheitlich prägend kennzeichnet, zudem ist die
Überzeugung gestützt auf seine breite Nasenspitze, die ausgeprägten Augenbrauen
und seine ovale Gesichtsform. Die sich so zusammenfügenden Einzelfaktoren unter
Hervorhebung der Mundpartie und des beschriebenen Bartes und der der wörtlichen
Beschreibung weniger zugängliche prägende Gesamteindruck der Physiognomie des
Betroffenen gewährleisten seine sichere Überführung. Diese Überzeugungsbildung
wird unterstützt durch die zugestandenen Tatsachen, dass das Tatfahrzeug dem
Betroffenen als Niederlassungsleiter in erster Linie zugeteilt ist und von ihm ganz
überwiegend benutzt wird, wie es von ihm auch am 17.03.2004 auf der
Bundesautobahn A5 benutzt worden war, und dass demgegenüber Mitarbeiter eher
nur ausnahmsweise das Fahrzeug führen und der Betroffene selbst seine Täterschaft
jedenfalls nicht ausschließt."
Das AG hat prozessordnungsgemäß auf das bei der Akte befindliche Beweisfoto gemäß
§ 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG sowie auf das Beweisfoto von dem
Verkehrsverstoß vom 17. März 2004 verwiesen (vgl. dazu BGHSt 41, 376 und zuletzt
Senat in VRS 108, 27 = DAR 2005, 165 mit weiteren Nachweisen aus der
obergerichtlichen Rechtsprechung; siehe auch OLG Hamm 4 Ss OWi 68/05 mit weiteren
Nachweisen). Damit kann der Senat aus eigener Anschauung die zum Inhalt der
Urteilsurkunde gemachten Lichtbilder würdigen und beurteilen, ob das Tatgericht
zutreffend die Identität des Betroffenen mit der auf dem Lichtbild abgebildeten Person
festgestellt hat. Bestehen Zweifel an der Eignung des Lichtbildes als Grundlage für eine
Identifizierung des Fahrers muss der Tatrichter im Urteil nähere Angaben zur
Feststellung der Identität machen (ständige Rechtsprechung der Bußgeldsenate des
OLG Hamm, vgl. u.a. OLG Hamm NZV 2003, 101 = VD 2003, 85 = zfs 2003, 154 = VA
2003, 12; NZV 1996, 466; so auch OLG Dresden DAR 2000, 279) und vor allem auch
darlegen, warum er trotz der schlechten Qualität des Lichtbildes den Betroffenen hat als
Fahrer identifizieren können.
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Nach Auffassung des Senats ist das von dem Verkehrsverstoß vom 3. April 2004
vorliegende Lichtbild nicht als Grundlage für eine Identifizierung des Betroffenen
geeignet. Mit dem Amtsgericht ist der Senat der Auffassung, dass der Lichtbild einen
Grauschleier aufweist und die Konturen "leicht verwischt" sind. Zudem wird der
Haaransatz durch den Innenspiegel verdeckt. Darüber hinaus ist der Senat der
Auffassung, dass das Lichtbild insgesamt unscharf und so kontrastarm ist, dass weder
die Haartracht noch die Gesichtszüge der am Steuer des Pkw sitzenden Person
hinreichend deutlich zu erkennen sind. Dem Senat ist es bei dieser schlechten Qualität
der Fotos unerklärlich, wie der Tatrichter darauf ein markant leicht abstehendes linkes
Ohr, das nicht von Haaren verdeckt ist, eine den Betroffenen kennzeichnende starke
Unterlippe und die vom Bart nicht verdeckte Mundpartie, eine breite Nasenspitze, die
ausgeprägten Augenbrauen und eine ovale Gesichtsform erkannt haben will. Die Nase
und der Mund der abgebildeten Person lassen sich vielmehr überhaupt nicht erkennen,
das linke Ohr ebenso wie die Augenbrauen nur schemenhaft und auch de Frage, ob der
Betroffene einen Backenbart trägt, lässt sich anhand des Lichtbildes nicht entscheiden.
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Zwar hat das Amtsgericht, wie es aufgrund der schlechten Qualität der Beweisfotos
erforderlich war (OLG Hamm NZV 2003, 101 = VD 2003, 85 = zfs 2003, 154 = VA 2003,
12), Ausführungen dazu gemacht, warum der Tatrichter dennoch den Betroffenen als
Fahrer des Pkw erkannt hat. Diese reichen jedoch nicht aus, um den Betroffenen als
Täter zum Vorfallszeitpunkt zu identifizieren. Dabei kann dahinstehen, ob der Vergleich
mit dem bei den Akten befindlichen Passfoto des Betroffenen überhaupt zulässig war
(vgl. dazu verneinend mit beachtlichen Gründen AG Stuttgart zfs 2002, 355; vgl. auch
Nobis DAR 2002, 299; Steffens StraFo 2002, 222; bejahend OLG Stuttgart NZV 2002,
574 = StraFo 2003, 16; OLG Brandenburg VA 2004, 56; OLG Rostock, Beschl. v. 29. 11.
2004, 2 Ss (OWi) 302/04 I 178/04). Jedenfalls hat der Betroffene in der
Hauptverhandlung der Verwertung dieses Lichtbildes nicht widersprochen (vgl. BGHSt
38, 214). Denn selbst wenn man die Einbeziehung des Passfotos in die
Beweiswürdigung als zulässig ansieht, reichen die Ausführungen des Amtsgerichts
nicht aus, den Betroffenen als Fahrer zum Vorfallszeitpunkt zu identifizieren. Das
Amtsgericht nimmt nämlich eine konkrete Beschreibung des Betroffenen und einen
Vergleich des Betroffenen mit dem auf dem von dem Verkehrsverstoß gefertigten
Lichtbild abgebildeten Fahrer nicht vor. Es wird lediglich auf den "äußeren
Gesamteindruck" und auf den "der wörtlichen Beschreibung weniger zugängliche
prägende Gesamteindruck der Physiognomie des Betroffenen" verwiesen. Hinzu
kommt, dass die vom Amtsgericht angeführten Merkmale wenn überhaupt nur relativ
wenig Aussagekraft hinsichtlich der Identität des Betroffenen bzw. des Fahrers haben.
Soweit das Amtsgericht auf das von dem am 17. März 2004 begangenen
Verkehrsverstoß gefertigte Lichtbild verweist, führt auch dies nicht zur Feststellung der
Täterschaft des Betroffenen. Auf dem Lichtbild ist nämlich das linke Ohr des Betroffenen
nicht erkennbar, da es vom Seitenholm des gefahrenen Pkws verdeckt wird und auch
nicht die Augenbrauen, die von einer vom Betroffenen getragenen Sonnebrille bedeckt
sind. Auch lässt sich eine starke Unterlippe auf dem ebenfalls unscharfen Bild nicht
erkennen. Damit fallen zumindest drei der Merkmale, die das AG als wesentlich für die
Überführung des Betroffenen angeführt hat, weg. Bei dieser Sachlage haben dann aber
auch die restlichen Umstände, nämlich dass es sich bei dem auf dem Lichtbild
abgebildeten Pkw um den dem Betroffenen zugewiesenen Pkw gehandelt hat und der
Betroffene seine Täterschaft selbst "nur" bezweifelt und nicht bestritten hat, nur noch
geringes Gewicht und können zur Überführung des Betroffenen kaum noch beitragen.
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Der Senat hat von der ihm in § 79 Abs. 6 OWiG eingeräumten Möglichkeit, selbst in der
Sache zu entscheiden, Gebrauch gemacht und den Betroffenen frei gesprochen. Das
von dem Verkehrsverstoß gefertigte Lichtbild ist nach Überzeugung des Senats so
schlecht, dass eine Identifizierung des Betroffenen auf der Grundlage dieses Bildes
ausgeschlossen ist.
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III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 467 Abs. 1
StPO.
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