Urteil des OLG Hamm vom 01.04.2004

OLG Hamm: eingriff in grundrechtspositionen, verschlechterung des gesundheitszustandes, bluttransfusion, hauptsache, rechtsschutzinteresse, patientenverfügung, datum, einwilligung, operation

Oberlandesgericht Hamm, 15 W 74/04
Datum:
01.04.2004
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
15. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
15 W 74/04
Vorinstanz:
Landgericht Dortmund, 9 T 527/03
Tenor:
Die weitere Beschwerde wird zurückgewiesen.
G r ü n d e :
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I.
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Die Betroffene gehört seit ihrer Kindheit der Glaubensgemeinschaft der A an. Ende Juni
2003 begab sie sich zur Durchführung einer Hüftpfannenwechseloperation in die T in H.
Bei ihrer Aufnahme legte sie eine von ihr unter dem Datum vom 26.05.2003 durch
Ausfüllen eines Vordrucks errichtete und notariell beglaubigte Patientenverfügung vor,
in der sie ihrer Glaubensüberzeugung folgend Transfusionen von Vollblut oder
irgendeinem der Hauptbestandteile des Blutes ausschloß. Ferner errichtete sie am
22.06.2003 ebenfalls unter Verwendung eines Vordrucks eine schriftliche
Patientenverfügung mit Betreuungsvollmacht, in der sie die derselben
Glaubensgemeinschaft angehörenden Herren G und X in H zur Wahrnehmung der
Gesundheitsfürsorge für den Fall bevollmächtigte, daß sie zur Wahrnehmung ihres
Selbstbestimmungsrechts selbst nicht mehr in der Lage sein sollte, und zwar u.a. mit der
Maßgabe, daß die Bevollmächtigten für die Beachtung ihrer Anweisungen
entsprechend ihren Glaubensüberzeugungen durch Ärzte und medizinisches Personal
Sorge tragen sollten. Schließlich erklärte die Betroffene in dem vor der Operation
durchgeführten Aufklärungsgespräch am 25.06.2003, das schriftlich dokumentiert
wurde, auf keinen Fall - auch nicht im Notfall - eine Übertragung von Blut bzw.
Blutbestandteilen zu wünschen; erlaubt sei lediglich das sog. Cell-Saver-Verfahren.
Wegen der weiteren Einzelheiten der Erklärungen der Betroffenen wird auf die zu den
Akten gelangten Kopien Bezug genommen.
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Nach Durchführung der Operation kam es bei der Betroffenen zu Komplikationen, die
aus ärztlicher Sicht Bluttransfusionen dringend angezeigt erscheinen ließen. Die
Betroffene wurde in ein künstliches Koma versetzt und beatmet, um den
Sauerstoffverbrauch gering zu halten. Der behandelnde Arzt Dr. T teilte am 30.06.2003
telefonisch dem Amtsgericht mit, eine Behandlung mit Ersatzstoffen sei nicht mehr
ausreichend, spätestens am 01.07.2003 müsse darüber entschieden werden, ob eine
Bluttransfusion vorgenommen werde, ohne die aus medizinischer Sicht eine
Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Betroffenen bis zum Tod
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wahrscheinlich sei.
Das Amtsgericht hat am 01.07.2003 den behandelnden Arzt, die für die Betroffene zur
Verfahrenspflegerin bestellte Rechtsanwältin G, die für die Gesundheitsfürsorge
bevollmächtigten Herren G und X sowie den Ehemann und die Kinder der Betroffenen
angehört. Die Bevollmächtigten haben sich gegen die Durchführung von
Bluttransfusionen ausgesprochen. Durch Beschluß vom 01.07.2003 hat das Amtsgericht
den "Antrag der Vorsorgebevollmächtigten G und X auf vormundschaftsgerichtliche
Genehmigung der Verweigerung einer Bluttransfusion durch die behandelnden Ärzte
der T zurückgewiesen" und "klargestellt, daß damit die zur Durchführung der
Bluttransfusion erforderliche Einwilligung als erteilt gilt." Die Formulierung des
Beschlußtenors beruht auf den Grundsätzen des Beschlusses des BGH vom
17.03.2003 (u.a. veröffentlicht in NJW 2003, 1588), die das Amtsgericht auch auf den
vorliegenden Fall für anwendbar gehalten hat.
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In den folgenden Tagen verbesserte sich der Gesundheitszustand der Betroffenen in der
Weise, daß eine Bluttransfusion nicht durchgeführt worden ist.
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Gegen den Beschluß des Amtsgerichts haben die Betroffene sowie die
Bevollmächtigten G und X mit Schriftsatz ihres Verfahrensbevollmächtigten vom
11.07.2003 Beschwerde eingelegt. Nach entsprechendem Hinweis haben sie geltend
gemacht, auch nach Eintritt der Erledigung der Hauptsache müsse ein
Rechtsschutzinteresse zur Überprüfung der amtsgerichtlichen Entscheidung bejaht
werden.
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Das Landgericht hat durch Beschluß vom 03.12.2003 das Rechtsmittel aller drei
Beschwerdeführer als unzulässig verworfen.
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Gegen diese Entscheidung richtet sich die weitere Beschwerde der Beteiligten zu 1), die
sie mit Schriftsatz ihres Verfahrensbevollmächtigten vom 06.02.2004 bei dem
Oberlandesgericht eingelegt hat. Sie rügt die Verwerfung ihrer Erstbeschwerde als
unzulässig und beantragt die Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
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II.
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Die weitere Beschwerde ist nach den §§ 27, 29 FGG statthaft sowie formgerecht. Die
Beschwerdebefugnis der Beteiligten folgt bereits daraus, daß das Landgericht ihre erste
Beschwerde als unzulässig verworfen hat.
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In der Sache ist das Rechtsmittel unbegründet, weil das Landgericht die erste
Beschwerde der Betroffenen zu Recht als unzulässig erachtet hat.
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Bereits die erste Beschwerde der Betroffenen ist zu einem Zeitpunkt eingelegt, nachdem
aus medizinischer Sicht eine Bluttransfusion nicht mehr erforderlich war, die dann auch
nicht mehr durchgeführt worden ist. Das Rechtsmittel konnte danach weder der
Beendigung einer bereits durchgeführten noch der Abwehr einer bevorstehenden
Bluttransfusion dienen, die durch die Entscheidung des Amtsgerichts ermöglicht worden
ist. Die betreuungsrechtliche Maßnahme ist dadurch zu keinem Zeitpunkt wirksam
geworden und kann auch nicht mehr wirksam werden. Eine Sachentscheidung des
Beschwerdegerichts, die in irgendeiner Weise die Wirksamkeit der
betreuungsrechtlichen Maßnahme beeinflussen könnte, kann deshalb nicht mehr
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ergehen; es ist eine Erledigung der Hauptsache eingetreten. Davon geht auch die
Betroffene selbst aus. Nach herkömmlicher Rechtsprechung schließt im Verfahren der
freiwilligen Gerichtsbarkeit der Eintritt der Erledigung der Hauptsache eine
Sachentscheidung aus. Die Fortsetzung des Verfahrens zum Zwecke der Feststellung
der Rechtswidrigkeit der getroffenen Maßnahme ist ausgeschlossen. Ein nach Eintritt
der Erledigung der Hauptsache eingelegtes Rechtsmittel ist als unzulässig zu verwerfen
(vgl. Keidel/Kahl, FG, 15. Aufl., § 19 Rdnr. 85 f., m.w.N.).
Das BVerfG hat in einer Reihe jüngerer Entscheidungen (NJW 1997, 2163; 1998, 2131;
1998, 2432) unter gleichzeitiger Aufgabe seiner früheren gegenteiligen Rechtsprechung
hervorgehoben: "Die in Art. 19 IV GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes verbietet
es den Rechtsmittelgerichten, ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes
Rechtsmittel ineffektiv zu machen und für den Beschwerdeführer "leerlaufen" zu lassen.
Hiervon muß sich das Rechtsmittelgericht bei der Antwort auf die Frage leiten lassen, ob
im jeweiligen Einzelfall für ein nach der Prozeßordnung statthaftes Rechtsmittel ein
Rechtsschutzinteresse besteht. Mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu
gewährleisten, ist es zwar grundsätzlich vereinbar, wenn die Gerichte ein
Rechtsschutzinteresse nur solange als gegeben ansehen, als ein gerichtliches
Verfahren dazu dienen kann, eine gegenwärtige Beschwer auszuräumen, einer
Wiederholungsgefahr zu begegnen oder eine fortwirkende Beeinträchtigung durch
einen an sich beendeten Eingriff zu beseitigen. Darüber hinaus ist ein
Rechtsschutzinteresse aber auch in Fällen tiefgreifender Grundrechtseingriffe gegeben,
in denen die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem
typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene
die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozeßordnung gegebenen Instanz kaum
erlangen kann. Effektiver Grundrechtsschutz gebietet es in diesen Fällen, daß der
Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung des schwerwiegenden - wenn auch
tatsächlich nicht mehr fortwirkenden - Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen."
Das BVerfG hat diese Rechtsprechung fortgeführt, indem es bei Freiheitsentziehungen
in der Form der Abschiebungshaft (§ 57 AuslG) einen Anspruch des Betroffenen auf
eine nachträglich feststellende Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Maßnahme
auch aus seinem Rehabilitierungsinteresse abgeleitet hat (NJW 2002, 2456).
Schließlich hat das BVerfG (NJW 2002, 206) das Interesse einer der
Glaubensgemeinschaft der A angehörenden Betroffenen an einer nachträglichen
Überprüfung einer Bestellung ihres Ehemannes zum vorläufigen Betreuer bejaht, in
deren Folge es aufgrund der durch den Betreuer erklärten Einwilligung zu mehreren
Bluttransfusionen gekommen war.
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Im vorliegenden Fall liegt indessen keine Konstellation vor, in der das Gebot der
Gewährung effektiven Rechtsschutzes die Bejahung eines Rechtsschutzinteresses der
Betroffenen an einer nachträglichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der
betreuungsrechtlichen Maßnahme gebietet. Entgegen der Auffassung der weiteren
Beschwerde hat ein tiefgreifender Eingriff in Grundrechtspositionen der Betroffenen
nicht stattgefunden. Dieser ergibt sich nicht allein daraus, daß das Amtsgericht am
01.07.2003 eine betreuungsrechtliche Maßnahme erlassen hat, die im Ergebnis darauf
abzielt, eine rechtliche Grundlage für die Durchführung von Bluttransfusionen bei der
Betroffenen zu schaffen. Denn nicht bereits der Erlaß dieser Entscheidung allein greift in
die Grundrechte der Betroffene ein, weil diese sich in ihren beabsichtigten rechtlichen
Wirkungen auf eine Ermächtigung beschränkt, bei der Betroffenen Bluttransfusionen als
medizinische Behandlungsmaßnahme durchzuführen. Deshalb beeinträchtigt erst die
tatsächliche Durchführung von Bluttransfusionen Grundrechtspositionen der
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Betroffenen, also die Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts auf der Grundlage ihrer
religiösen Glaubensüberzeugung.
In der genannten Rechtsprechung des BVerfG ist bislang ein aus dem Gebot der
Gewährung effektiven Rechtsschutzes abgeleitetes besonderes Feststellungsinteresse
des Betroffenen jeweils nur in Fällen bejaht worden, in denen Maßnahmen mit
Eingriffscharakter tatsächlich durchgeführt worden waren, also etwa eine
Wohnungsdurchsuchung vorgenommen (NJW 1997, 2163; NJW 1998, 2131), eine
freiheitsentziehende Unterbringung bzw. Haftanordnung vollzogen (NJW 1998, 2432;
NJW 2002, 2456) oder auf betreuungsrechtlicher Grundlage eine Bluttransfusion
tatsächlich durchgeführt worden war (NJW 2002, 206). Nach Auffassung des Senats
muß das Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes eine Entsprechung finden in
einer effektiven Grundrechtsbeeinträchtigung des Betroffenen. Solange eine gerichtliche
Maßnahme keine nachteilige Wirkung auf Grundrechtspositionen des Betroffenen
erlangt hat und auch nicht mehr erlangen kann, besteht kein durch Art. 19 Abs. 4 GG
zwingend vorgegebenes Bedürfnis, über bisher anerkannte Verfahrensgrundsätze
hinausgehend ein Rechtsschutzbedürfnis für eine weitergehende gerichtlichen
Überprüfung bereits erledigter Maßnahmen zu bejahen. Dementsprechend kann auch
der Versuch der weiteren Beschwerde darzulegen, die vom Amtsgericht angeordnete
Betreuungsmaßnahme stelle sich in der Sache als rechtswidriger Eingriff in das
Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen dar, den im Gesetz nicht vorgesehenen
Rechtsmittelzug nicht eröffnen, solange eine effektive Beeinträchtigung einer
Grundrechtsposition der Betroffenen nicht erfolgt ist.
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Die vom Amtsgericht getroffene betreuungsrechtliche Maßnahme hat ausschließlich
fürsorgenden, jedoch keinerlei Sanktionscharakter. Einem Rehabilitierungsinteresse,
das nach Auffassung des BVerfG bei einem Freiheitsverlust durch Inhaftierung indiziert
wird (NJW 2002, 2456, 2457), kommt deshalb in dem hier vorliegenden Zusammenhang
keine Bedeutung zu. Darüber hinaus hat das Landgericht auch eine greifbare
Wiederholungsgefahr mit der Erwägung verneint, es bestünden keine Anhaltspunkte
dafür, daß die Betroffene in absehbarer Zeit aufgrund im Wesentlichen unveränderter
tatsächlicher und rechtlicher Verhältnisse in eine Lebenssituation geraten könne, in der
sie wiederum mit einer gleichartigen Maßnahme rechnen müsse. Der Senat hält diese
Erwägung, die auch von der weiteren Beschwerde nicht angegriffen wird, für zutreffend.
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Diese Beurteilung des Rechtsschutzinteresses entspricht inhaltlich derjenigen, die der
Senat anderweitig bereits in einer Abschiebungshaftsache (Beschluß vom 22.12.2003 -
15 W 437/03 -) vorgenommen hat. Dort hat er die Zulässigkeit eines Rechtsmittels
verneint, das sich gegen eine über den Abschiebungstermin hinausgehenden
Haftzeitbestimmung richtete, nachdem im Hinblick auf die tatsächlich erfolgte
Abschiebung die Haft über diesen Termin hinaus nicht vollzogen worden und insoweit
ein Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen nicht erfolgt war.
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Es bleibt daher bei der Unzulässigkeit der ersten Beschwerde der Betroffenen. Dies
führt dazu, daß sich der Senat einer sachlichen Überprüfung der Entscheidung des
Amtsgerichts zu enthalten hat.
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Eine Wertfestsetzung für das Verfahren der weiteren Beschwerde ist im Hinblick auf §
131 Abs. 3 KostO nicht veranlaßt.
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