Urteil des OLG Hamm vom 02.01.2007

OLG Hamm: eingriff in grundrechtspositionen, abschiebung, sicherungshaft, auskunft, ausländer, beweiswert, asylbewerber, haftgrund, schlepper, behörde

Oberlandesgericht Hamm, 15 W 22/06
Datum:
02.01.2007
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
15. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
15 W 22/06
Vorinstanz:
Landgericht Paderborn, 2 T 119/05
Tenor:
Die sofortige weitere Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antrag auf die Anordnung der Erstattung außergerichtlicher Kosten
wird zurückgewiesen.
G r ü n d e :
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I.
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Der Betroffene reiste erstmals Ende 1994 in das Bundesgebiet ein und stellte einen
Asylantrag. Nachdem er zu seiner Anhörung nicht erschienen war, wurde sein Antrag
durch Bescheid vom 06.01.1995 als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Nachdem er
zum Zwecke der Abschiebungsvorbereitung im Juli 1998 der indischen Botschaft
vorgeführt worden war und ein weiterer Vorführungstermin anstand, tauchte er unter.
Nach seinen eigenen Angaben begab er sich nach Italien, wo er sich erfolglos um einen
Pass bemüht haben will.
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Am 26.08.2005 wurde der Betroffene von Polizeibeamten in D festgenommen. Das
Amtsgericht Dortmund ordnete gegen den Betroffenen durch Beschluss vom 27.08.2005
Sicherungshaft für zunächst zwei Monate an.
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Am 17.10.2005 beantragte der Beteiligte zu 2) bei dem nunmehr örtlich zuständigen
Amtsgericht Paderborn die Verlängerung der Sicherungshaft um drei Monate. Zur
Begründung führte er aus, dass eine Passersatzbeschaffung bislang gescheitert sei. Bei
seiner erneuten Botschaftsvorführung am 23.09.2005 habe der Betroffene Angaben zu
seinem Wohnort gemacht, die von den früheren Angaben abwichen, weshalb es
nunmehr zu einer erneuten Überprüfung in Indien komme.
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Das Amtsgericht Paderborn hörte den Betroffenen im Beisein eines Übersetzers am
26.10.2005 persönlich an. Durch Beschluss vom 27.10.2005 verlängerte das
Amtsgericht die Sicherungshaft um drei Monate. Hiergegen erhob der Betroffene
sofortige Beschwerde, mit der er im Wesentlichen geltend machte, seine Abschiebung
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werde auch in der verlängerten Haftzeit unmöglich sein, da die indischen Behörden
innerhalb dieses Haftzeitraums kein Passersatzpapier ausstellen würden. Das
Landgericht hat die sofortige Beschwerde unter Verwertung verschiedener Auskünfte
der ZAB L durch Beschluss vom 13.12.2005 zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich
der Betroffene mit der sofortigen weiteren Beschwerde.
II.
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Die sofortige weitere Beschwerde ist nach den §§ 106 Abs. 2 S.1 AufenthG, 7 Abs. 1, 3
S. 2 FEVG, 27, 29 FGG statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt. Die
Beschwerdebefugnis des Betroffenen ergibt sich bereits daraus, dass seine
Erstbeschwerde ohne Erfolg geblieben ist.
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Der Zulässigkeit des Rechtsmittels steht nicht entgegen, dass sich die Hauptsache
mittlerweile durch Zeitablauf erledigt hat. Vielmehr ist im Hinblick auf den mit der
Freiheitsentziehung verbundenen Eingriff in Grundrechtspositionen des Betroffenen
sein Rechtsschutzinteresse mit dem Ziel der Feststellung der Rechtswidrigkeit des
angefochtenen Beschlusses des Landgerichts zu bejahen (BGH NJW 2002, 1801 unter
Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG). Einen entsprechenden Antrag hat der
Betroffene auch gestellt.
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In der Sache ist die weitere Beschwerde unbegründet, da die Entscheidung des
Landgerichts nicht auf einer Verletzung des Rechts beruht, § 27 FGG.
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Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht den Haftgrund des § 62 Abs.2 S.1 Nr.5
AufenthG bejaht. Da die sofortige weitere Beschwerde hiergegen keine Einwendungen
erhebt, verweist der Senat auf die rechtsfehlerfreien Ausführungen des Landgerichts in
dem angefochtenen Beschluss.
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Auch die Annahme des Landgerichts, dass § 62 Abs.2 S.4 AufenthG der
Haftverlängerung nicht entgegenstehe, da der Betroffene die Verzögerung seiner
Abschiebung zu vertreten habe und sich vorausschauend nicht feststellen lasse, dass
die Abschiebung innerhalb des gesamten Haftzeitraums von hier fünf Monaten nicht
möglich sein werde, erweist sich als frei von Rechtsfehlern.
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Im Sinne des § 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG hat der Betroffene alle Umstände zu vertreten,
die von ihm zurechenbar veranlasst sind und dazu geführt haben, dass ein
Abschiebehindernis eingetreten ist. Nach der Rechtsprechung des BGH (NJW 1996,
2796, 2797) zu der gleichlautenden Vorgängerregelung in § 57 Abs. 2 S. 4 AuslG muss
bei der Anwendung der Vorschrift deren Zweck Rechnung getragen werden, dass im
Regelfall die Dauer von drei Monaten Haft nicht überschritten werden soll und eine
Haftdauer von sechs Monaten nicht ohne weiteres als verhältnismäßig angesehen
werden darf. Daraus muss die Schlussfolgerung gezogen werden, dass auch die
Verlängerung einer Haftanordnung über drei Monate des insgesamt angeordneten
Haftzeitraumes hinaus unzulässig ist, wenn die Abschiebung während der ersten drei
Monate aus Gründen unterblieben ist, die von dem Ausländer nicht zu vertreten sind.
Dementsprechend darf die Haft für einen Zeitraum von insgesamt sechs Monaten nur
verlängert werden, wenn die Verzögerung der Abschiebung von dem Betroffenen im
Sinne des § 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG zu vertreten ist. Es handelt sich um eine Frage der
Zurechnung, die nicht generell-abstrakt beantwortet werden kann, sondern unter
Würdigung der gesamten Umstände zu entscheiden ist (BGH NJW a.a.O.).
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Für den vorliegenden Fall kann offen bleiben, ob – wie der Senat entschieden hat
(FGPrax 1997, 77) – bereits der Umstand allein, dass der Betroffene sich ohne
Nationalpass im Bundesgebiet aufgehalten hat, als Zurechnungsgrund in diesem Sinne
ausreicht. Teilweise wird insoweit bezogen auf die Verhältnisse abgelehnter
Asylbewerber die Auffassung vertreten, nur wenn festgestellt werden könne, dass der
Betroffene seinen vorhandenen Nationalpass bei seiner Einreise schuldhaft (etwa an
einen Schlepper) weggegeben habe, liege ein zurechenbares Verhalten vor (vgl. etwa
OLG Düsseldorf, Beschl. v. 03.11.2003 – I-3 Wx 275/03 -; OLG Köln, Beschl. v.
13.10.2004 – 16 Wx 194/04 -). Auch nach dieser einschränkenden Auffassung hat der
Betroffene die Verzögerung infolge der Notwendigkeit der Passersatzbeschaffung
jedoch zu vertreten, da er, wie das Landgericht rechtsfehlerfrei festgestellt hat, eben dies
nach seinen eigenen Angaben getan hat.
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Das Vertretenmüssen im Sinne des § 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG erstreckt sich auf die
Verzögerung der Abschiebung, die dadurch entsteht, dass die Behörden des
Heimatstaates des Betroffenen um die Erteilung ein Passersatzpapiers ersucht werden
müssen. In den dem Betroffenen zuzurechnenden und von ihm daher hinzunehmenden
Zeitraum fällt deshalb in den Grenzen der gesetzlichen Vorschrift auch das
Prüfungsverfahren, das die Heimatbehörden des Betroffenen bis zur positiven
Bescheidung des Antrags auf Erteilung eines Passersatzpapiers für sich in Anspruch
nehmen.
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Auch der Umstand, dass das Landgericht seine Prognoseentscheidung, es stehe nicht
vorausschauend fest, dass eine Abschiebung nicht innerhalb des verlängerten
Haftzeitraums möglich sein werde, ohne weitere Ermittlungen auf die Auskünfte der ZAB
L gestützt hat, hält der allein möglichen rechtlichen Prüfung stand. Im Verfahren der
Rechtsbeschwerde ist die Tatsachenwürdigung des Beschwerdegerichts nur darauf
nachprüfbar, ob der Tatrichter den maßgebenden Sachverhalt ausreichend ermittelt,
sich mit allen wesentlichen Umständen auseinandergesetzt und hierbei nicht gegen
gesetzliche Beweisregeln und Verfahrensvorschriften sowie gegen Denkgesetze,
zwingende Erfahrungssätze oder den allgemeinen Sprachgebrauch verstoßen hat
(Keidel/Meyer-Holz, FG, 15.Aufl. § 27 FGG Rdn.42).
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Nicht zu beanstanden ist danach zunächst, dass das Landgericht davon abgesehen hat,
sich, wie von dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen verlangt, eine
Gesamtstatistik vorlegen zu lassen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats
(vgl. etwa Beschluss vom 11.09.2003 – 15 W 346/03-), die dem
Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen hinreichend bekannt ist, kann der
Tatrichter seine Überzeugung, die Undurchführbarkeit der Abschiebung innerhalb des
maßgebenden Zeitraums könne nicht festgestellt werden, rechtsfehlerfrei darauf stützen,
dass in Einzelfällen eine solche Abschiebung hat durchgeführt werden können. Diese
Sichtweise entspricht der insoweit eindeutigen gesetzlichen Regelung, nach der die
Haftanordnung nur zu unterbleiben hat, wenn feststeht, dass die Abschiebung nicht
möglich sein wird.
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Auch in dem Umstand, dass die Kammer die Auskünfte der ZAB L ohne weitere
Ermittlungen als glaubhaft erachtet hat, begründet keinen Verstoß gegen § 12 FGG. Es
ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung unbestritten, dass bei der Prüfung,
innerhalb welches Zeitraums eine Abschiebung möglich erscheint, zuvörderst auf die
Erfahrungen der (zentralen) Ausländerbehörden zurückzugreifen ist (OLG Düsseldorf,
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Beschl. vom 05.06.2002 –3 Wx 152/02-; OLG Köln, Beschl. vom 23.11.2001 –16 Wx
253/01-). Dabei teilt der Senat die Auffassung, dass der Haftrichter den Angaben einer
antragstellenden Behörde nicht blind vertrauen darf, sondern diese aus gegebenem
Anlass auch überprüfen muss. Darum geht es vorliegend jedoch nicht. Die ZAB L ist bei
ihrer Auskunft vom 16.11.2005 als Clearingstelle tätig geworden. Bereits dies lässt der
Auskunft einen anderen Beweiswert zukommen. Die Kammer konnte weiter ihre
eigenen Erfahrungen aus Einzelfällen (vgl. hierzu den o.a. Senatsbeschluss)
berücksichtigen, zu denen die Auskünfte der ZAB widerspruchsfrei passen. In dieselbe
Richtung weist schließlich auch das Schreiben des Innenministeriums NW vom
21.06.2005, mag dieses für sich auch wenig aussagekräftig sein. Bei
zusammenfassender Würdigung ist die Überzeugungsbildung aus Rechtsgründen nicht
zu beanstanden.
Dies gilt auch unter Berücksichtigung der mit der sofortigen Beschwerde erhobenen
Rügen gegen das Zahlenmaterial der ZAB. Die dort angesprochene Rechtsprechung
des Kammergerichts bezieht sich ausdrücklich nur auf tatsächliche Erfahrungen aus
dem Bereich C. Die angeblich für die Haftanstalten C3 und N bestehenden
Erfahrungswerte können letztlich auch nur einen zeitlich und räumlich begrenzten
Bereich erfassen, der im Hinblick auf den o.g. rechtlichen Ausgangspunkt, dass nämlich
feststehen muss, dass die Abschiebung undurchführbar ist, nicht maßgebend sein kann.
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Da die Anordnung der Haft somit zu Recht erfolgt ist, ist der Tatbestand des § 16 FEVG
ersichtlich nicht erfüllt, so dass eine Kostenerstattung ausscheidet.
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