Urteil des OLG Hamburg vom 03.12.2013

OLG Hamburg: Eine EMR-konventionsfreundliche Auslegung des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO dahin

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Eine EMR-konventionsfreundliche Auslegung des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO dahin, dass bei Anwesenheit
eines vertretungsbereiten und mit schriftlicher Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidigers eine
sofortige Verwerfung der Berufung des ohne Entschuldigung ausgebliebenen Angeklagten nicht erfolgen
kann, ist angesichts der vom Gesetzgeber vorgegebenen Systematik des deutschen Strafprozessrechts
nicht möglich.
Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg 1. Strafsenat, Beschluss vom 03.12.2013, 1 - 25/13 (REV), 1 - 25/13
(REV) - 1 Ss 68/13
§ 329 Abs 1 S 1 StPO, Art 6 Abs 1 MRK, Art 6 Abs 3 Buchst c MRK
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg, Kleine Strafkammer, vom … wird
auf Kosten des Angeklagten als unbegründet verworfen.
Gründe
Die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg hat in ihrer Antragsschrift vom 5. Juni 2013 ausgeführt:
„I.
Der Angeklagte … wurde mit Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Harburg vom 09.11.2012 wegen Diebstahls zu
einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt (Bl. 100 ff. d.A.). Auf seine rechtzeitig eingelegte, auf das
Strafmaß beschränkte Berufung gegen dieses Urteil (BI. 97 d.A.) bestimmte das Landgericht Hamburg,
Kleine Strafkammer 4, Termin zur Verhandlung über die Berufung auf den 01.03.2013 (Bl. 141 d.A). Zu
diesem Termin erschien der sich in … aufhaltende Angeklagte nicht, sondern lediglich seine (ebenfalls
geladene) Verteidigerin, Rechtsanwältin …. Diese legte eine vom Angeklagten unterzeichnete Verteidigungs-
und Vertretungsvollmacht vom 27.02.2013 vor, die zur Akte genommen wurde (Bl. 151 d.A.), und erklärte, zur
Vertretung und Verteidigung in der Hauptverhandlung bereit zu sein. Das Landgericht verwarf die Berufung
durch das angefochtene Urteil nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO (Bl. 153-156 d.A.). Gegen dieses Urteil des
Landgerichts Hamburg, Kleine Strafkammer 4, hat die Verteidigerin mit am 06.03.2013 eingegangenen
Schriftsatz Revision eingelegt (Bl. 157 d.A.) und diese – nach Zustellung des schriftlichen Urteils an sie am
14.03.2013 (Bl. 158 f. d.A.) – mit am 15.04.2013 (Montag) eingegangenem Schriftsatz mit einer
Verfahrensrüge fristgerecht (§ 345 StPO) begründet (Bl. 165-167, 168-170 d.A.).
II.
Die Überprüfung des ausführlich begründeten Urteils aufgrund des Revisionsvorbringens hat keinen
Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 337 StPO). Die von der Revision ausschließlich
erhobene Verfahrensrüge bleibt erfolglos.
1.
Der Revisionsführer rügt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. c MRK durch die Verwerfung seiner
Berufung gemäß § 329 Abs. 1 S. 1 StPO.
Er ist der Auffassung, das Gericht habe seine Berufung trotz seines Fernbleibens nicht verwerfen dürfen, da
seine schriftlich bevollmächtigte Verteidigerin in der Berufungshauptverhandlung anwesend und zur
Vertretung des Angeklagten berechtigt und zur Verteidigung bereit gewesen sei. Sein Anspruch auf ein faires
Verfahren und insbesondere auf eine effektive Verteidigung (Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. c MRK) sei dadurch
verletzt. Hierzu beruft er sich auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
(EGMR) vom 08.11.2012 (Beschwerde Nr. 30804/07 - Neziraj v. Deutschland).
2.
Es kann dahinstehen, ob die Rüge und damit die Revision – insbesondere im Hinblick auf den nicht
mitgeteilten Inhalt der Verteidigungs- und Vertretungsvollmacht vom 27.02.2013 – gemäß § 344 Abs. 2 S. 2
StPO zulässig erhoben ist, denn jedenfalls ist sie unbegründet.
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3.
aa)
Die Annahme des Vorliegens der Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 StPO (Ausbleiben des Angeklagten
ohne genügende Entschuldigung) durch die Kammer wird von der Revision nicht beanstandet. Ein
Ausnahmefall, in dem eine Vertretung des Angeklagten nach den Vorschriften der Strafprozessordnung
zulässig ist, lag nicht vor. Das Gericht hatte die Berufung daher gemäß § 329 Abs. 1 StPO zu verwerfen,
unabhängig davon, ob eine verteidigungsbereite Rechtsanwältin mit schriftlicher Vertretungsvollmacht (§ 234
StPO) anwesend war oder nicht.
bb)
Die vorbezeichnete Entscheidung des EGMR vom 08.11.2012 kann hier nicht zu einer anderen Entscheidung
führen.
(1)
Mit der vom Angeklagten angeführten Entscheidung (Urteil vom 08.11.2012, Beschwerde Nr. 30804/07,
Neziraj gegen Deutschland, - zitiert nach juris -) hat der EGMR in einem Verfahren gegen Deutschland in
einem vergleichbaren Fall allerdings tatsächlich entschieden, dass die Anwendung von § 329 Abs. 1 S. 1
StPO mit Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. b MRK nicht vereinbar ist, wenn der nicht erschienene Angeklagte in der
(Berufungs-)Verhandlung verteidigt ist (vgl. zu früheren Entscheidungen in diese Richtung: EGMR, Urteil vom
21.01.1999, Beschwerde Nr. 26103/95, Van Geyseghem gegen Belgien, in NJW 1999, 2353; EGMR, Urteil
vom 22.09.2009, Beschwerde Nr. 13566/06, Pietiläinen gegen Finnland, in HRRS 2009 Nr. 981). Begründet
wird das mit dem Recht auf Verteidigung, welches zu den tragenden Grundlagen eines fairen Verfahrens
gehöre und welches der Angeklagte auch nicht allein dadurch verliere, dass er zur Verhandlung nicht
erscheine.
Das OLG München (Beschluss vom 17.01.2013, Az.: 4 StRR (A) 18/12, - zitiert nach juris -) hat zwar im
Hinblick auf das genannte Urteil des EGMR „ernsthafte Zweifel" daran geäußert, ob die entsprechende
Handhabung des § 329 Abs. 1 StPO durch die deutschen Gerichte tatsächlich einen Verstoß gegen Art. 6
MRK darstelle, und zur Begründung darauf hingewiesen, dass bereits das Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) im Beschluss vom 27.12.2006 (Az.: 2 BvR 535/04, - zitiert nach juris -) ausgeführt habe, dass das
alleinige Abstellen auf das Recht des Angeklagten zur effektiven Verteidigung das Regelungsgefüge des §
329 StPO verkenne (vgl. auch OLG Hamburg, Beschluss vom 18.11.2011, Az.: 1 Ss 6/12).
Aus Sicht der Generalstaatsanwaltschaft ist auf Grundlage der Begründung der Entscheidung des EGMR
vom 08.11.2012 gleichwohl davon auszugehen, dass der EGMR die Handhabung des § 329 Abs. 1 S. 1
StPO auch im vorliegenden Fall als konventionswidrig ansehen würde.
(2)
Einer Umsetzung der Entscheidung des EGMR durch die deutschen Strafgerichte steht jedoch der nicht
auslegungsfähige Wortlaut der Vorschrift des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO entgegen, zu deren Anwendung diese
aufgrund ihrer Bindung an die geltenden Gesetze (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG) verpflichtet sind (OLG
München, Beschluss vom 17.01.2013, Az.: 4 StRR (A) 18/12, - zitiert nach juris -).
Die Bundesrepublik Deutschland ist als Vertragspartner der Menschenrechtskonvention nicht nur verpflichtet,
das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache, in der sie Partei ist, zu befolgen (Art. 46 Abs. 1 MRK). Sie
muss darüber hinaus die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention, die innerstaatlich
im Rang eines Bundesgesetzes (vgl. Art. 59 Abs. 2 GG) steht, in ihrer Auslegung durch den EGMR auch in
allen anderen Fällen berücksichtigen (BVerfG, Beschluss vom 14.10.2044, Az.: 2 BvR 1481/04, - zitiert nach
juris -). Insoweit ist die Konvention als Auslegungshilfe bei der Auslegung der Grundrechte und
rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes sowie des einfachen Rechtes heranzuziehen. In diesem
Rahmen sind die staatlichen Organe grundsätzlich insbesondere auch verpflichtet zu verhindern, dass es in
Parallelfällen zu weiteren Verletzungen der Konvention kommt (vgl. BGH, Beschluss vom 17.02.2011, Az.: 3
ARs 35/10, - zitiert nach juris -).
Die Heranziehung als Auslegungshilfe verlangt allerdings keine schematische Parallelisierung der Aussagen
des Grundgesetzes mit denen der Europäischen Menschenrechtskonvention, sondern ein Aufnehmen von
deren Wertungen, soweit dies methodisch vertretbar und mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar ist
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(vgl. zuletzt etwa BVerfG, Beschluss vom 20.06.2012, Az.: 2 BvR 1048/11, - zitiert nach juris -). Da die
Fachgerichte innerhalb der staatlichen Kompetenzordnung als Teil der rechtsprechenden Gewalt gemäß Art.
20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden sind und die Konvention im Range eines Bundesgesetzes
steht, ist der entsprechende Spielraum der Fachgerichte durch diese Rangzuweisung dahingehend begrenzt,
dass sie die Konvention wie anderes Bundesrecht im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung der
bundesdeutschen Gesetze zu beachten und anzuwenden haben (BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004, Az.: 2
BvR 1481/04; BGH, Beschluss vom 22.12.2010, Az.: 2 ARs 456/10, - jeweils zitiert nach juris -). Aus
Gründen der Gesetzesbindung muss daher eine konventionsfreundliche Auslegung dort enden, wo diese nach
den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar
erscheint (BVerfG, Urteil vom 04.05.2011, Az.: 2 BvR 2333/08, - zitiert nach juris -), der Wille des nationalen
Gesetzgebers in der Gestalt von bestehendem Gesetzesrecht entgegensteht (BGH, Beschluss vom
09.11.2010, Az.: 5 StR 394/10, - zitiert nach juris -) bzw. der gegenteilige Wille des nationalen Gesetzgebers
deutlich erkennbar wird und eine Auslegung im Sinne der Konvention gegen Wortlaut oder Regelungszweck
der Norm erfolgen müsste (BGH, Beschluss vom 22.12.2010, Az.: 2 ARs 456/10, - zitiert nach juris -). Dies
entspricht auch der Rechtsprechung zur vergleichbaren Problematik der Bindung an Richtlinien der EU und
der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Insoweit findet nach der ständigen Rechtsprechung des
BVerfG (vgl. etwa zuletzt Beschluss vom 26.09.2011, Az.: 2 BvR 2216/06, - zitiert nach juris -) die Pflicht zur
Verwirklichung des Richtlinienziels im Auslegungswege ihre Grenzen an dem nach innerstaatlicher
Rechtstradition methodisch Erlaubten. Auch der Europäische Gerichtshof hat hierzu entschieden, dass die
Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung insbesondere im Grundsatz der Rechtssicherheit ihre
Schranken findet und daher nicht als Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem
dienen darf (EuGH, Urteil vom 16.07.2009, Az.: C-12/08 (Mono Car Styling), - zitiert nach juris -).
(3)
Nach diesen Grundsätzen ist eine konventionsfreundliche Auslegung des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO im Sinne
der Entscheidung des EGMR vom 08.11.2012 nicht möglich, da die Vorschrift angesichts der vom
Gesetzgeber vorgegebenen Systematik des deutschen Strafprozessrechts nicht auslegungsfähig ist.
Dem deutschen Strafprozessrecht ist eine Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers gegen eine
Abwesenheitsverhandlung zu entnehmen (vgl. §§ 230 Abs. 1, 285 Abs. 1 S. 1 StPO), die nur von sehr
wenigen, genau umrissenen Ausnahmen durchbrochen wird (§§ 231 Abs. 2, 231a, 231b, 232, 233, 247, 329
Abs. 2, 350 Abs. 2, 387 Abs. 1, 411 Abs. 2 StPO). Die durch § 329 Abs. 1 S. 1 StPO festgelegte Pflicht des
Angeklagten zur persönlichen Anwesenheit (auf welche nebst den Folgen des Ausbleibens bereits in der
Ladung hingewiesen wird) dient nicht nur seiner effektiven Verteidigung, sondern auch der Wahrheitsfindung,
und ist somit eine Ausprägung der Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit, über die der Angeklagte
nicht disponieren kann (vgl. § 338 Nr. 5 StPO). Die Vorschrift baut auf dem Gedanken auf, dass ein Gericht
seiner Pflicht zur Erforschung der Wahrheit und zu einer gerechten Strafzumessung nur dann genügen kann,
wenn es den Angeklagten vor sich gesehen und ihn mit seiner Verteidigung gehört hat. Für die
Wahrheitsfindung können dabei das Auftreten und die Einlassungen des Angeklagten sowie selbst sein
Schweigen dienlich sein.
Zudem wird im deutschen Strafprozessrecht streng zwischen der Verteidigung des Angeklagten und seiner
Vertretung unterschieden. Anders als in vielen anderen europäischen Rechtsordnungen ist der Verteidiger
gerade nicht ohne weiteres der Vertreter des Angeklagten, der dessen Anwesenheit in der Hauptverhandlung
entbehrlich macht, wie bereits § 234 StPO zeigt; gemäß § 302 Abs. 2 StPO bedarf er etwa auch für die
Rücknahme von Rechtsmitteln einer gesonderten Ermächtigung des Angeklagten (OLG München, Beschluss
vom 17.01 2013, Az.: 4 StRR (A) 18/12, - zitiert nach juris -).
Demgegenüber hat der EGMR das Recht auf Verteidigung gemäß Ar1 6 Abs. 3 lit. c MRK uminterpretiert in
ein Recht auf Abwesenheit des Angeklagten und Vertretung durch einen Verteidiger. Die Richterinnen Power-
Forde und Nussberger halten es in ihrem Sondervotum (Abweichende Meinung zum Urteil vom 08.11.2012,
Beschwerde Nr. 30804/07, Neziraj gegen Deutschland, - zitiert nach juris -) für angebracht, die Auslegung des
EGMR zu diesem Punkt zu überdenken. Sie führen dazu zutreffend aus, dass die bisherige Auslegung durch
den EGMR im Hinblick auf Rechtsordnungen, in denen das Strafprozessrecht Verfahren in Abwesenheit
zulässt und folglich dem Angeklagten nicht das Recht auf rechtliches Gehör zusichert, vertretbar sein möge,
dieser Ansatz aber nicht auf Rechtsordnungen übertragen werden könne, die Verfahren in Abwesenheit nicht
zulassen, aber die unentschuldigte Abwesenheit eines Angeklagten bei Verfahren zweiter Instanz mit
bestimmten Konsequenzen oder Sanktionen verknüpfen, nachdem die Rechtssache vor dem
erstinstanzlichen Gericht bereits umfassend verhandelt worden ist. Treffender kann man die Unvereinbarkeit
der (derzeitigen) Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 MRK mit den Grundsätzen des deutschen
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Strafprozessrechts kaum zum Ausdruck bringen.
Vor dem Hintergrund der genannten gesetzgeberischen Strukturprinzipien des deutschen Strafprozessrechts
lässt sich danach im Rahmen der systematischen Auslegung keine Konkordanz zwischen § 329 Abs. 1 S. 1
StPO und Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. c MRK (in der Auslegung des EGMR) herstellen. Eine schonende
Einpassung der Rechtsprechung des EGMR in das innerstaatliche Recht ist ohne Verstoß gegen die gängige
Methodik nicht machbar (vgl. Peglau, jurisPR-StrafR 5/2013, Anm. 3; ebenso vor dem neuesten EGMR-Urteil
auch: OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27.02.2012, Az.: 2 RVs 11/12; OLG Hamm, Beschluss vom
14.06.2012, Az.: 1 RVs 41/12, - jeweils zitiert nach juris). Dies gilt auch für eine Interpretation des
Erscheinens eines verteidigungsbereiten und mit schriftlicher Vertretungsvollmacht ausgestatteten
Verteidigers als Fall zulässiger Vertretung im Sinne des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO, da damit die
gesetzgeberisch gewollte Struktur des Berufungsverfahrens obsolet würde.
Raum für eine konventionsfreundliche Auslegung bleibt danach nur insoweit, als es im Rahmen des § 329
Abs. 1 StPO nicht um eine ,,Verhandlung zur Sache" geht. So können (und müssen) mit dem Verteidiger auf
dessen Wunsch in Abwesenheit des Angeklagten Rechtsfragen erörtert werden, wie beispielsweise fehlende
Prozessvoraussetzungen, vorliegende Verfahrenshindernisse oder fehlende Voraussetzungen für eine
Verwerfung.
cc)
Angesichts dessen kann § 329 Abs. 1 S. 1 StPO auch im vorliegenden Fall nicht entgegen seinem vor dem
dargestellten Regelungszusammenhang eindeutigen Wortlaut ausgelegt werden. Ein Fall zulässiger
Vertretung des Angeklagten durch die Verteidigerin gemäß § 411 Abs. 2 S. 1 StPO liegt hier nicht vor. Die
Berufung war daher zu verwerfen.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 S. 1 StPO.“
Diesen ausführlichen zutreffenden Erwägungen der Generalstaatsanwaltschaft tritt der Senat mit der
Einschränkung bei, dass zwar nicht der Wortlaut, wohl aber die systematische und teleologische Auslegung
des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO einer Umsetzung der Entscheidung des EGMR entgegensteht (vgl. HansOLG
Bremen, Beschl. v. 10.6.2013 – Az.: 2Ss 11/13 – , zitiert nach juris, dort Rn. 11 ff.).
Ergänzend führt der Senat aus:
Es bestehen bereits ganz erhebliche Zweifel an der Zulässigkeit der allein auf die Verletzung einer
Rechtsnorm über das Verfahren gestützten Rüge; denn der Vortrag zur schriftlichen Vertretungsvollmacht
dürfte unzureichend sein, da der entscheidungserhebliche Inhalt dieser Urkunde nicht mitgeteilt worden ist,
sodass nicht feststeht, worauf sich die Ermächtigung zur Vertretung erstreckt. Insoweit heißt es in der
Revisionsbegründung (auf S. 2) lediglich: „Die in der Berufungshauptverhandlung anwesende und
verteidigungsbereite (Anm. des Senats: nicht etwa: „vertretungsbereite“) Verteidigerin legte in der
Berufungshauptverhandlung eine schriftliche Vertretungsvollmacht vor.“ Daraus geht nicht eindeutig hervor,
für welchen Fall die Verteidigerin berechtigt sein sollte, den Angeklagten zu vertreten. Es bleibt unklar, ob es
sich um das allgemeine Vollmachtsformular handelt, demzufolge üblicherweise nur für bestimmte dort
abschließend aufgeführte Fallkonstellationen eine Vertretung des Angeklagten zulässig ist.
Jedenfalls aber ist die Revision aus den vorstehenden Gründen unbegründet i.S.d. § 349 Abs. 2 StPO. Dies
entspricht auch den bisher veröffentlichten – bereits zitierten – Entscheidungen der Obergerichte.
Zwar trifft es zu, wenn der die Gegenmeinung vertretende Esser (StV 2013, 331, 338 ff.) in seiner Anmerkung
zu OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27.02.2013, III-2 RVs 11/12 und zu EGMR, Neziraj v. Deutschland, Urt. v.
8.11.2012 ausführt, der Wortlaut des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO stehe einer Vertretung des Angeklagten durch
seinen Verteidiger nicht entgegen, weil die Norm zwar nicht explizit die Durchführung einer Hauptverhandlung
in Gegenwart eines für den abwesenden Angeklagten erschienen Verteidigers verlange, dies jedoch implizit in
allen Fällen gebiete, „in denen dies [ = das Erscheinen eines Vertreters und die anschließende Vertretung]
zulässig ist“. Zu Recht weist er überdies darauf hin, dass diese Norm nicht einmal den einschränkenden
Zusatz „nach diesem Gesetz“ enthalte. Dies ändert indes – wie oben dargelegt – nichts an dem eindeutig
zum Ausdruck gekommenen gegenteiligen Willen des Gesetzgebers (siehe zu diesem auch: BVerfG, Beschl.
v. 27.12.2006 – 2 BvR 535/04 – , zitiert nach juris). Die vom EGMR geforderte Auslegung des § 329 Abs. 1
S. 1 StPO, wonach sich der Angeklagte als Berufungsführer in der von ihm herbeigeführten zweiten
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Tatsacheninstanz durch einen Verteidiger vertreten lassen kann, würde einen Verstoß gegen
Strukturprinzipien der Strafprozessordnung darstellen. Einen derartigen Systembruch mit tragenden
strafprozessualen Strukturprinzipien kann nur der Gesetzgeber durch eine Änderung der Vorschrift
vornehmen (so Mosbacher, Straßburg locuta - § 329 I StPO finita? in NStZ 2013, 312, 314; ähnlich: Peglau,
jurisPR-StrafR 5/2013 Anm. 3 unter D).
Nach der gegenwärtigen Gesetzeslage hat das Landgericht Hamburg die Berufung des unentschuldigt
ausgebliebenen Beschwerdeführers zu Recht nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO verworfen.