Urteil des OLG Frankfurt vom 15.03.2017

OLG Frankfurt: amtliche erläuterung, durchgangsverkehr, grundstück, einfahrt, beschränkung, verordnung, gefahr, empfang, begriff, könig

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Gericht:
OLG Frankfurt
Senat für
Bußgeldsachen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
2 Ss-OWi 164/09, 2
Ss OWi 164/09
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 41 Abs 1 Anl 2 Nr 30.1 Nr 1
Buchst a StVO vom
05.08.2009, § 41 Abs 2 Nr 6 S
5 Buchst a StVO vom
28.11.2007, § 41 Abs 2 Nr 6
Zeichen 253 StVO vom
28.11.2007, § 49 Abs 3 S 4
StVO vom 05.08.2009
Durchgangsverkehrs im Sinne der amtlichen Erläuterung in
der StVO
Zum Begriff des Durchgangsverkehrs im Sinne der
amtlichen Erläuterung Nr. 1a) zur lfd. Nr. 30.1 der Anlage 2
zu § 41 Abs. 1 StVO
Leitsatz
Fahrten, die dem Erreichen oder dem Verlassen eines im Verbotsbereich gelegenen
Grundstückes dienen, sind nach § 41 Abs. 2 Ziffer 6 Satz 5 Buchstabe a) StVO a.F. und
der amtlichen Erläuterung Nr. 1a) zur lfd. Nr. 30.1 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO n.F.
uneingeschränkt privilegiert. Eine einschränkende Auslegung der genannten
Bestimmungen dahingehend, dass die Privilegierung allein dann greift, wenn der
Verkehrsteilnehmer den Verbotsbereich auf dem Weg von oder zu dem Grundstück auf
dem kürzest möglichen Weg passiert, kommt nicht in Betracht.
Tenor
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben.
Der Betroffene wird freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des
Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe
I.
Nach den Feststellungen des Amtsgerichtes fuhr der Betroffene am Morgen des
...04.2008 von O1 kommend mit dem Lkw mit dem amtlichen Kennzeichen … über
die Bundesstraße … nach O2. Das bezeichnete Kraftfahrzeug verfügte über ein
zulässiges Gesamtgewicht von mehr als 12 Tonnen. In O2 hielt der Betroffene, um
Leergut zu entladen, Frachtpapiere abzugeben und solche in Empfang zu nehmen.
Sodann fuhr er weiter auf der Bundesstraße … und nachfolgend auf der
Bundesstraße … in Richtung Osten mit Ziel O3. Gegen 10:10 Uhr wurde er auf der
Bundesstraße … in Höhe O4 von Polizeibeamten angehalten. Der gesamte Verlauf
der Bundesstraßen … und … ist ab O1 durch das Zeichen 253 mit Zusatz
„Durchgangsverkehr“, „12 t“ gekennzeichnet. Dies war dem Betroffenen bekannt.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen auf der Grundlage dieser Feststellungen der
vorsätzlichen Benutzung eines durch das Verkehrszeichen 253 gesperrten
Verkehrsbereiches mit einem Kraftfahrzeug im Sinne des § 3 Abs. 3 Nr. 2 a) oder
b) StVO für schuldig befunden (§ 49 Abs. 3 Ziffer 4 StVO). Die Weiterfahrt des
Betroffenen nach dem Halt in O2 sei als Durchgangsverkehr einzuordnen und
damit unzulässig. Sie unterfalle keiner der in § 41 Abs. 2 StVO aufgeführten
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damit unzulässig. Sie unterfalle keiner der in § 41 Abs. 2 StVO aufgeführten
Ausnahmetatbestände. § 41 Abs. 2 Nr. 6 b) StVO greife nicht, da das Fahrtziel O3
außerhalb des privilegierten 75-Kilometerkreises um O5 gelegen habe. § 41 Abs. 2
Nr. 6 a) StVO sei nicht einschlägig, da die maßgebliche Fahrt nicht dazu gedient
habe, den Verbotsbereich zu erreichen oder zu verlassen. Zwar habe der
Betroffene in O5 unwiderlegt geladen (wohl: entladen). Nach Sinn und Zweck des
Gesetzes (Anwohnerschutz) habe er den gesperrten Bereich sodann aber auf
kürzestem Wege wieder verlassen müssen. Dies sei dem Betroffenen ohne
weiteres durch die Rückfahrt nach O1 möglich gewesen, von wo aus er sein
Fahrtziel über die BAB … und ab O6 über die BAB … habe erreichen können.
Hiergegen wendet sich die Zulassungsrechtsbeschwerde des Betroffenen. Dieser
rügt die Verletzung materiellen Rechtes. Der Einzelrichter hat die
Rechtsbeschwerde durch Beschluss des vom 16.11.2009 zur Fortbildung des
Rechtes zugelassen und die Sache dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit 3
Richtern zur Entscheidung übertragen.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet.
Der Betroffene ist freizusprechen, da er sich nach den Feststellungen keiner
Verkehrsordnungswidrigkeit im Sinne des § 49 Abs. 3 Ziffer 4 StVO a.F. schuldig
gemacht hat. Nach § 49 Abs. 3 Ziffer 4 StVO in seiner bei Tatbegehung gültigen
Fassung vom 11.05.2006 handelt ordnungswidrig, wer vorsätzlich oder fahrlässig
entgegen § 41 StVO eine durch ein Vorschriftzeichen gegebene Anordnung nicht
befolgt. Die genannte Fassung ist nach § 4 Abs. 1 OWiG maßgeblich. Denn die ab
dem 01.09.2009 gültige Neufassung dieser Vorschrift stellt im Verhältnis zur
genannten älteren Fassung nicht das mildere Gesetz im Sinne des § 4 Abs. 3
OWiG dar. Vielmehr wurde hierdurch allein der am 01.09.2009 in Kraft getretenen
Neugestaltung des § 41 StVO Rechnung getragen, durch welche die zuvor in § 41
Abs. 2 StVO aufgeführten Vorschriftzeichen in die Anlage 2 zu § 41 StVO n.F.
überführt wurden.
Der Betroffene hat weder durch die Fahrt nach O2, noch durch die spätere
Weiterfahrt mit Ziel O3 gegen die Anordnung des Vorschriftzeichens 253 in
Verbindung mit den Zusatzzeichen „Durchgangsverkehr“ und „12 t“ verstoßen.
Das im Zeichen 253 verkörperte Verbot für Kraftfahrzeugen mit einem zulässigen
Gesamtgewicht von mehr als 3,5 Tonnen wird durch die erwähnten Zusatzzeichen
beschränkt auf den Durchgangsverkehr mit Nutzfahrzeugen mit einem zulässigen
Gesamtgewicht von mehr als 12 Tonnen. Diese durch die 15. Verordnung zur
Änderung der Straßenverkehrsordnung vom 22.12.2005 (BGBl. I S. 3714)
eingeführte Zeichenkombination dient dem Schutz der Wohnbevölkerung vor den
Immissionen des sogenannten Mautausweichverkehrs und der Verbesserung des
Verkehrsablaufes im nachgeordneten Straßennetz (vgl. amtliche Begründung; BR-
Drucksache 824/05, 37f; Hentschel/König/Dauer - Straßenverkehrsrecht 40. Aufl. §
41 StVO Rdnr. 248f).
Keine der festgestellten Fahrten stellt sich als unzulässiger Durchgangsverkehr im
Sinne dieser Vorschrift dar.
Nach § 41 Abs. 2 Ziffer 6 Satz 5 Buchstabe a) StVO a.F. (gleichlautend nunmehr:
amtliche Erläuterung Nr. 1a) zur lfd. Nr. 30.1 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO
n.F.) liegt Durchgangsverkehr nicht vor, wenn die jeweilige Fahrt dazu dient, ein
Grundstück, welches an der vom Verkehrsverbot betroffenen Straße liegt oder
allein über ein solche erschlossen ist, zu erreichen oder zu verlassen.
Sowohl die Einfahrt des Betroffenen in den beschränkten Bereich mit Zielrichtung
O2 wie auch die nachfolgende Weiterfahrt des Betroffenen in Richtung Osten
unterfallen dieser Ausnahmeregelung:
Das Amtsgericht hat zutreffend angenommen, dass die Fahrt des Betroffenen
nach O2 in der unwiderlegten und vorgefaßten Absicht, bei einem dort gelegenen
Gewerbebetrieb Leergut zu entladen, Frachtpapiere abzugeben und solche in
Empfang zu nehmen dem Erreichen eines im Verbotsgebiet gelegenen
Grundstückes diente und damit nach obiger Definition nicht als
Durchgangsverkehr zu bewerten war.
Letzteres gilt jedoch - abweichend von der Ansicht des Amtsgerichtes - auch für
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Letzteres gilt jedoch - abweichend von der Ansicht des Amtsgerichtes - auch für
die spätere Weiterfahrt des Betroffenen von O2 in Richtung Osten. Diese Fahrt
diente im Sinne des genannten Ausnahmetatbestandes dazu, ein im
Verbotsgebiet gelegenes Grundstück zu verlassen, und stellt daher keinen
verbotenen Durchgangsverkehr dar. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass der
Betroffene das Verbotsgebiet hierbei nicht auf dem kürzesten Weg verließ,
sondern den größeren Teil des Verbotsbereiches erst während der Weiterfahrt in
Richtung Osten passierte.
Fahrten, die dem Erreichen oder dem Verlassen eines im Verbotsbereich
gelegenen Grundstückes dienen, sind nach § 41 Abs. 2 Ziffer 6 Satz 5 Buchstabe
a) StVO a.F. und der amtlichen Erläuterung Nr. 1a) zur lfd. Nr. 30.1 der Anlage 2 zu
§ 41 Abs. 1 StVO n.F. uneingeschränkt privilegiert. Eine einschränkende Auslegung
der genannten Bestimmungen dahingehend, dass die Privilegierung allein dann
greift, wenn der Verkehrsteilnehmer den Verbotsbereich auf dem Weg von oder zu
dem Grundstück auf dem kürzest möglichen Weg passiert, kommt nicht in
Betracht.
Nach Ansicht des Senates ist die vom Amtsgericht zumindest im Hinblick auf das
Verlassen des Verbotsbereiches vertretene abweichende Auslegung bereits weder
aus dem Wortlaut der Vorschrift noch dem oben bezeichneten Regelungsziel des
Verordnungsgebers abzuleiten.
Die vom Amtsgericht erwogene Beschränkung des Ausnahmetatbestandes ist zur
Vermeidung des Mautausweichverkehrs und der mit ihm einhergehenden
Immissionsbelastungen der Straßenanlieger auch nicht erforderlich. Denn
derjenige, der sich vor Beginn der Ausfahrt aus dem Verbotsbereich entweder als
Anlieger oder - nach berechtigter Einfahrt zur Erreichung eines Grundstückes -
gleichfalls befugt in diesem aufhält, handelt in der Regel nicht mit dem Ziel der
Mautvermeidung. Der Gefahr der massenhaften missbräuchlichen Berufung auf
den Privilegierungstatbestand etwa durch die unwahre Behauptung eines im
Rahmen einer Verkehrskontrolle angehaltenen „Mautvermeiders“, seine Fahrt
diene dem Verlassen eines im Verbotsbereich gelegenen und zuvor berechtigt
angefahrenen Grundstückes, dürfte entgegenstehen, dass die entsprechenden
Angaben in der Regel einer zeitnahen Überprüfung auf ihren Wahrheitsgehalt
zugänglich sein werden. Sie wird ferner dadurch eingeschränkt, dass der Wille, ein
bestimmtes im Verbotsbereich gelegenes Grundstück zu erreichen, bereits vor
Einfahrt in den Wirkbereich des Verbotszeichens vorhanden und eigentlicher
Beweggrund der Fahrt gewesen sein muss (so bereits OLG Schleswig a.a.O. zur
Frage des berechtigten Anliegerverkehrs).
Es besteht keine Veranlassung, bei der Auslegung von den zum Regelungsgehalt
des Verkehrszeichens 250 mit Zusatzschild „Anlieger frei“ - und damit einer ganz
ähnlichen Fragestellung -entwickelten und gefestigten Rechtsprechungsgrundsätze
abzuweichen. Hiernach wird demjenigen, der in den betroffenen Sperrbereich
zunächst befugt eingefahren ist, gerade nicht auferlegt, diesen anschließend auf
kürzestem Wege zu verlassen (vgl. OLG Düsseldorf NZV 1992, 85 – zitiert aus
juris, m.N.; OLG Bremen DAR 1960, 268; OLG Schleswig VRS 9, 58). Die
Generalstaatsanwaltschaft weist zutreffend darauf hin, dass beide
Verbotsregelungen zuvorderst dem Anwohnerschutz dienen. Schon die nahezu
deckungsgleichen Regelungsziele beider Zeichen sprechen gegen eine
divergierende Auslegung.
Hätte der Verordnungsgeber bei Erlass der Verordnung vom 22.05.2005 die
Privilegierung des ein- und ausfahrenden Verkehrs auf die kürzest mögliche
Strecke beschränken wollen, so hätte gerade angesichts der oben erwähnten
abweichenden Rechtsprechungsgrundsätze eine ausdrücklich begrenzende
Wortfassung nahegelegen. Auch das Unterbleiben einer solchen ausdrücklichen
Beschränkung spricht hiernach bereits gegen eine entsprechende Intention des
Verordnungsgebers.
Schließlich spricht auch die mangelnde Praktikabilität gegen die Auslegung des
Amtsgerichtes. Denn diese führte zu einer erheblichen Einschränkung der
Bewegungsfreiheit der ortsansässigen Gewerbetreibenden im Güterverkehr, die
wiederum allein durch eine unterschiedliche Auslegung des Begriffe der Einfahrt
und des Verlassens für die vor Ort ansässigen Anlieger einerseits und die
sonstigen berechtigt Anwesenden andererseits zu umgehen wäre. Denn bei
uneingeschränkter Anwendung wären auch die im Verbotsgebiet ansässigen
Gewerbetreibenden unabhängig vom Ziel einer anstehenden Transportfahrt
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Gewerbetreibenden unabhängig vom Ziel einer anstehenden Transportfahrt
dauerhaft gezwungen, den Verbotsbereich ausschließlich auf der kürzesten
Strecke zu verlassen. Gleiches würde auch für Fahrten in den Verbotsbereich zur
Erreichung des eigenen Gewerbegeländes gelten. Auch diese wären hiernach allein
auf dem kürzesten Wege zulässig, was - je nachdem von welcher Richtung aus sich
der Betroffene dem Verbotsgebiet nähert - zu erheblichen Umwegen nötigte.
Angesichts der oftmals - wie auch im hier zu beurteilenden Fall - erheblichen Länge
der Verbotsstrecke bedingte diese Auslegung für die ortsansässige Wirtschaft im
Hinblick auf Fahrten jenseits des gesondert privilegierten regionalen Güterverkehrs
erhebliche Umwege und hiermit verbundene zusätzliche Aufwendungen. Dies
führte bei lebensnaher Betrachtung zu erheblichen Wettbewerbsnachteilen für
Gewerbeniederlassungen in oftmals ohnehin ungünstiger Lage abseits der
Fernstraßen und verstärkte die Gefahr des Abwanderns des Wirtschaftslebens aus
der Fläche. Dies wiederum stünde dem ersichtlichen Ziel des Verordnungsgebers,
Mautausweichversuchen des überregionalen Schwerlastverkehrs unter möglichster
Wahrung der Belange des regionalen Wirtschaftslebens entgegenzuwirken,
diametral entgegen.
Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des
Betroffenen waren angesichts des Freispruches in der Sache gemäß §§ 46 Abs. 1
OWiG, 467 Abs. 1 StPO der Staatskasse aufzuerlegen.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.