Urteil des OLG Frankfurt vom 18.03.2011

OLG Frankfurt: schulpflicht, recht auf bildung, wohl des kindes, eltern, elterliche sorge, schule, konkretisierung, sicherstellung, legitimation, bewährung

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Gericht:
OLG Frankfurt 2.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
2 Ss 413/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 182 SchulG HE
Hessisches Schulgesetz: Schulpflicht
Leitsatz
Zur Strafbarkeit der Eltern bei Verstößen gegen die Schulpflicht
Anmerkung
Der Beschluss ist nicht anfechtbar.
Zu dieser Entscheidung gibt es eine Pressemitteilung auf der Homepage des
Oberlandesgerichts (www.olg-frankfurt.justiz.hessen.de).
Tenor
Die Revision wird auf Kosten der Angeklagten als unbegründet verworfen, weil die
Überprüfung des angefochtenen Urteils auf das Revisionsvorbringen hin keinen
Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben hat.
Der Schuldspruch wird aus Klarstellungsgründen allerdings wie folgt neu gefasst:
Die Angeklagte wird wegen vorsätzlichen hartnäckigen Entziehens ihres Kindes von
der Schulpflicht in 37 tateinheitlichen Fällen (zu einer Freiheitsstrafe von 6
Monaten) verurteilt.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Lampertheim hatte die wegen des gleichen Delikts bereits zu
Geld- und Freiheitsstrafe verurteilte Angeklagte erneut wegen hartnäckigen
Entziehens ihres jüngsten Sohnes von der Schulpflicht zu einer Freiheitsstrafe von
6 Monaten ohne Bewährung verurteilt. Das Landgericht hatte ihre hiergegen
eingelegte Berufung verworfen.
Die Revision der Angeklagten, mit der sie den Verstoß gegen materielles Rechts
rügt, bleibt ohne Erfolg.
Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte die von ihrem Ehemann getrennt
lebende Angeklagte ihren zur Tatzeit minderjährigen schulpflichtigen jüngsten
Sohn an insgesamt 37 einzelnen Tagen im Zeitraum vom ….2008 bis ….2009
(erneut) vorsätzlich nicht zur Schule geschickt. Zum Zeitpunkt des Urteils stand
der Sohn auf dem Wissensstand eines Sonderschülers der 4. Klasse, obwohl er
altersgemäß die 9. Klasse hätte besuchen müssen.
Vorausgegangen war, dass es ab 2004/2005 bei dem jüngsten Sohn der
Angeklagten vermehrt zu unentschuldigten Fehlzeiten kam. Wenn der Sohn in der
Schule war, störte er permanent den Unterricht, provozierte die Mitschüler und
beleidigte die Lehrer. Die Angeklagte und ihr Ehemann lehnten Gespräche mit der
Schule und Unterstützungen des Jugendamtes grundsätzlich ab. Ab 2007
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Schule und Unterstützungen des Jugendamtes grundsätzlich ab. Ab 2007
besuchte der jüngste Sohn die meiste Zeit die Schule nicht mehr. Es folgten
Verurteilungen der Angeklagten zunächst zu Geldstrafen und schließlich mit Urteil
vom 25. September 2008 zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung, ohne dass dies
zu einer Verhaltensänderung bei der Angeklagten führte. 2009 war ein anderer
Sohn der Angeklagten, bei dem sie in ähnlicher Weise ihre erzieherischen
Verpflichtungen vernachlässigt hatte, wegen zahlreicher Straftaten zu einer nicht
mehr bewährungsfähigen Jugendstrafe verurteilt worden. Im gleichen Jahr wurde
auch gegen den jüngsten Sohn Anklage wegen Raubes erhoben.
Mit Beschluss des Jugendamtes vom 29. März 2010 wurden der Angeklagten und
ihrem Ehemann in Teilen die elterliche Sorge hinsichtlich des jüngsten Sohnes
entzogen. Seit dem 13. September 2010 ist nach Angabe der Angeklagten der
Sohn von zuhause „abgehauen“ und seitdem unbekannten Aufenthalts.
II.
Die rechtliche Würdigung dieses Sachverhalts als eine Tat des vorsätzlichen
Vergehens nach § 182 Hessisches Schulgesetz (HSchG) ist vorliegend rechtlich
nicht zu beanstanden.
Es bedarf jedoch der Klarstellung des Schuldgehaltes im Tenor, dass die an sich 37
selbstständigen Einzeltaten nur im vorliegenden Fall bei natürlicher
Betrachtungsweise als einheitliches zusammengefasstes Tun erscheinen.
Wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 04. Dezember 2008 und erneut
in seiner Entscheidung vom 12. Oktober 2010 (Az.: 2 Ss 77/10) ausgeführt hat,
dient die allgemeine Schulpflicht (§ 56 HSchG) dem Schutz des Kindes und seinem
Recht auf Bildung und auf die Heranbildung zu einem verantwortlichen
Staatsbürger, um in verantwortungsbewusster Weise an den demokratischen
Prozessen einer pluralistischen Gesellschaft teilnehmen zu können (vgl. BVerfG
Beschl. v. 31.05.2006 - Az.: 2 BvR 1693/04 m.w.N.). Dieser Schutzauftrag wird in
Deutschland durch den staatlichen Erziehungsauftrag gewährleistet, durch den
das elterliche Erziehungsrecht durch die zur Konkretisierung dieses staatlichen
Auftrags erlassene allgemeine Schulpflicht in grundsätzlich zulässiger Weise eine
Beschränkung erfährt (vgl. Art. 55 und 56 HessVerfassung; vgl. auch BVerfG [2.
Kammer des Ersten Senats], Beschl. v. 21. 4. 1989 – 1 BvR 235/89).
§ 182 HSchG normiert dieses Recht des Kindes zur Teilnahme an den
Bildungsmöglichkeiten, die der Staat zur Verfügung stellt, um die Möglichkeit zu
erhalten, entsprechend seiner Begabung durch Erwerb der notwendigen
Kenntnisse und sozialen Verhaltensweisen im Sinne einer selbstbestimmten
Persönlichkeitsentwicklung ein vollwertiges Mitglied der pluralistischen Gesellschaft
werden zu können, als eine strafbewehrte Pflicht der Eltern dafür Sorge zu tragen,
dass ihre Kinder an einer derartigen Entwicklungsmöglichkeit teilnehmen können (§
67 Abs. 1 HSchG).
Die Strafbestimmung ist in Fortführung des § 24 des früheren Schulpflichtgesetzes
allerdings in restriktiver Anwendung nur für besonders schwere Verstöße gegen die
Schulpflicht vorgesehen und zieht ihre Legitimation zu einer strafrechtlichen
Sanktionierbarkeit aus den schweren Folgen, die Kinder dadurch erleiden können,
dass ihnen ihre Eltern die Teilnahme an den genannten Entwicklungsmöglichkeiten
vorenthalten und dadurch die Kinder langfristig und nachhaltig in ihrer freien
Persönlichkeitsentwicklung gehindert werden. Bereits mit der Änderung des
Schulpflichtgesetzes vom 10. Oktober 1980 (GVBl. I S. 393) hat der
Landesgesetzgeber auf die noch in § 24 HessSchulpflG i.d.F. vom 30. Mai 1969
(GVBl.I S. 104, 108) normierte Möglichkeit, auch die Schüler/innen für
Schulpflichtverletzungen zu bestrafen, verzichtet, auch wenn er insoweit
inkonsequent an einer Ahndung als Ordnungswidrigkeit bis jetzt festgehalten hat (§
181 Abs. 1 HSchG).
Ausgehend von der rechtlichen Legitimation der Schulpflicht ergibt sich, dass
dieses höchstpersönliche Recht jedes einzelnen Kindes an jedem einzelnen
Schultag neu entsteht, womit die Schulpflicht der Eltern jeden Tag, an dem Schule
angeboten wird, neu begründet wird. Versagen die Eltern ihrem Kind die Teilnahme
an der Schule, verstoßen sie aktiv gegen die Schulpflicht. § 182 HSchG ist trotz
seiner im Übrigen unglücklichen tautologischen Formulierung ein Erfolgsdelikt. Die
Eltern schulden aus ihrem Erziehungsrecht dem Kind die Teilnahme an der Schule,
das bedeutet, sie haben alle Handlungen durchzuführen, die bis zur Übergabe des
Kindes in schulische Obhut notwendig sind. Dabei spielt es für die Erfüllung des
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Kindes in schulische Obhut notwendig sind. Dabei spielt es für die Erfüllung des
Tatbestandes keine Rolle, aus welchen Gründen die Eltern dies unterlassen.
Die Motivlage kann allerdings ebenso wie der Grad der Gefahr für das Wohl des
Kindes bei der Bestimmung des Schuldgehalts und damit der angemessenen
Rechtsfolge eine Rolle spielen. Dem hat der Gesetzgeber auch insoweit Rechnung
getragen, dass er bereits im Vorfeld durch das Antragserfordernis und die
Rücknahmemöglichkeit des Strafantrags in § 182 Abs. 2 HSchG den
Schulaufsichtsbehörden die Möglichkeit, aber auch die aus dem ultima ratio Prinzip
des Strafrechts folgende Verpflichtung eingeräumt hat, nur die Fälle einer
strafrechtlichen Ahndung zuzuführen, bei denen das Wohl der Kinder durch das
Verhalten der Eltern nachhaltig gefährdet ist (vgl. BGH, Beschluß vom 11. 9. 2007
- XII ZB 41/07). Bei der Bestimmung der angemessenen Rechtsfolge kann daher
auch Berücksichtigung finden, inwieweit im Vorfeld mildere, zielorientiertere
und/oder flankierende Maßnahmen zur Sicherstellung der Teilnahme am
Schulunterricht wie z.B. die zwangsweise Zuführung (§ 68 HSchG), die Möglichkeit
der Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts, des teilweisen
Sorgerechtsentzugs und der Anordnung der Pflegschaft (vgl. BGH, Beschluß vom
11. 9. 2007 - XII ZB 41/07; OLG Hamm, Beschluß vom 25. 8. 2005 - 6 WF 297/05 =
NJW 2006, 237) versucht worden sind und mit welchem Ergebnis.
Nach den Feststellungen sind derartige Maßnahmen im vorliegenden Fall versucht
worden, ohne dass dies zu einer Änderung des Verhaltens der Angeklagten und zu
einer Sicherstellung der Teilnahme am Schulunterricht des Sohnes geführt hätte.
Die Verhängung der gesetzlich möglichen Höchststrafe durch das Landgericht ist
vor dem festgestellten Sachverhalt daher rechtlich nicht zu beanstanden.
Aus der dargelegten Dogmatik des § 182 HSchG folgt in Konsequenz, dass die
Eltern verpflichtet sind, an jedem einzelnen Tag bei jedem einzelnen Kind neu zu
entscheiden, wie sie der Schulpflicht genüge tun, so dass bei mehreren Verstößen
grundsätzlich Tatmehrheit anzunehmen ist (unter Aufgabe von OLG Ffm NStZ-RR
2001, 25 allerdings zu § 181 HSchG).
Es ist allerdings wie vorliegend rechtlich nicht zu beanstanden, wenn sich die
einzelnen Verstöße unter Berücksichtigung, dass die Angeklagte sich entgegen
ihrer Verpflichtungen, zumindest was die Schulpflicht angeht, ihre Kinder sich
selbst überlässt, bei natürlicher Betrachtungsweise als ein einheitliches (Nichts-
)Tun darstellen und das Landgericht sie deswegen als natürliche Handlungseinheit
zu einer Tat zusammenfasst. Zu Klarstellung bedarf es insoweit einer
entsprechend vorgenommenen Konkretisierung im Tenor, ohne dass die
konkurrenzrechtliche Bewertung Auswirkung auf den Schuldgehalt hat.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.