Urteil des OLG Düsseldorf vom 18.09.2008

OLG Düsseldorf: verfassungskonforme auslegung, existenzminimum, leistungsfähigkeit, erwerbstätigkeit, selbstbehalt, vergleich, eltern, entlastung, abschlussprüfung, sicherstellung

Oberlandesgericht Düsseldorf, II-7 UF 33/08
Datum:
18.09.2008
Gericht:
Oberlandesgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
7. Senat für Familiensachen
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
II-7 UF 33/08
Schlagworte:
§§ 1612 b BGB n.F.: Vorabzug des Kindesunterhalts in Höhe des
Tabellenbetrages bei Berechnung des Ehegattenunterhaltsanspruchs.
Normen:
§§ 1612 b n.F., 1361, 1570 ff BGB
Leitsätze:
Der Vorabzug des Kindesunterhalts von dem Einkommen des
barunterhaltspflichti-gen Elternteils hat für die Berechnung des
Ehegattenunterhalts in Höhe der Tabellen- und nicht der Zahlbeträge zu
erfolgen. Eine Vorlage an das BVerfG kommt nicht in Betracht; § 1612 b
BGB ist verfassungskonform auszulegen.
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts vom 25.
Januar 2008 unter Zurückweisung des weiter gehenden Rechtsmittels
teilweise abgeän-dert und wie folgt neu gefasst:
Der vor dem Amtsgericht am 07.11.2005 geschlossene Vergleich – 37 F
63/04 – wird dahin gehend abgeändert, dass der Kläger für den Zeitraum
von Januar 2008 bis 14. Juni 2008 nicht verpflichtet ist, an die Beklagte
monatlichen Nach-scheidungsunterhalt zu zahlen; für den Zeitraum ab
15. Juni 2008 ist der Kläger verpflichtet, monatlichen
Nachscheidungsunterhalt von 73 € an die Beklagte zu zahlen.
Die weitergehende Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen tragen der Kläger zu
40 % und die Beklagte zu 60 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können jeweils die
Vollstre-ckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils
vollstreckbaren Betrages anwenden, wenn nicht die vollstreckende
Partei zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Entscheidungsgründe (gemäß § 540 ZPO):
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I.
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Der Kläger begehrt die Abänderung eines Unterhaltsvergleichs ab September 2007.
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Der am ... 1970 geborene Kläger und die am ... 1977 geborene Beklagte heirateten am
... 2002; am ....2003 wurde die Tochter L. geboren, welche seit der im Februar 2004
erfolgten Trennung der Parteien bei der Beklagten lebt. Mit Urteil vom 07.11.2005 –
rechtskräftig seitdem – hat das Amtsgericht die Ehe der Parteien geschieden (Bl. 82
GA).
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Mit Vergleich vom 07.11.2005 (37 F 63/04) hat sich der Kläger zur Zahlung eines
Nachscheidungsunterhalts von monatlich 219 € an die Beklagte ab Rechtskraft der
Ehescheidung verpflichtet (Bl. 7 GA). Außerdem zahlt der Beklagte mit
Teilanerkenntnisurteil des Amtsgerichts vom 16.09.2004 (37 F 296/04, Bl. 53 GA)
titulierten monatlichen Kindesunterhalt in Höhe von 192 €.
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Für die Zeit ab Februar 2008 ließ die Beklagte den Kläger zur Zahlung eines um 10 €
erhöhten Kindesunterhalts auffordern (Bl. 83, 104 GA); daraufhin hat der Kläger eine
Jugendamtsurkunde erstellen lassen, mit welcher er sich zur Zahlung von 100 % des
jeweiligen Mindestunterhalts der jeweiligen Altersstufe ab März 2008 verpflichtete (Bl.
106 GA).
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Sein früherer Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zum
31.07.2007; in einem anschließenden Arbeitsgerichtsprozess schlossen die dortigen
Parteien einen Vergleich, wonach das Arbeitsverhältnis zum 31.08.2007 endete (Bl. 4
GA). Seitdem ist der Beklagte arbeitssuchend und erhält ein monatliches
Arbeitslosengeld von 1.022,70 €. Von Anfang Dezember 2007 bis 11.06.2008
absolvierte er eine von der Agentur für Arbeit finanzierte Qualifizierungsmaßnahme,
wobei die Abschlussprüfung noch aussteht.
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Mit dem Urteil vom 25.01.2008 hat das Amtsgericht unter Abweisung der weiter
gehenden Klage den Vergleich dahin gehend abgeändert, dass der Kläger für den
Zeitraum von September bis Dezember 2007 nur noch zur Zahlung von monatlich 145 €
und ab Januar 2008 nicht mehr zur Zahlung von Nachscheidungsunterhalt verpflichtet
ist. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Abänderungsklage sei zum Teil begründet,
da der Kläger auch unter Berücksichtigung eines fiktiven Zusatzeinkommens nur
teilweise bzw. unter Ansatz eines höheren Selbstbehalts nicht mehr leistungsfähig sei.
Bei einem Selbstbehalt von 850 € bis Ende 2007 und von 1.000 € ab Januar 2008 seit
er daher nur teilweise bzw. seit Jahresbeginn gänzlich nicht mehr leistungsfähig. Auf die
Frage, ob die Beklagte verpflichtet sei, ihre Erwerbstätigkeit auszuweiten, komme es
daher nicht an.
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Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung. Nachdem sie zunächst die
gänzliche Abweisung der Klage begehrt hat, verfolgt sie ihr Anliegen nunmehr im
Rahmen der bewilligten Prozesskostenhilfe. Sie trägt vor, nach Hinweisen auf eine
geringe Erfolgsaussicht der Abänderungsklage habe das Amtsgericht dieser
überraschend überwiegend stattgegeben. Sie sei bedürftig und auch nicht gehalten, ihre
seit Januar in einen Geringverdienerjob umgewandelte Teilzeittätigkeit auszuweiten;
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wegen der Kindesbetreuung könne sie nachmittags nicht arbeiten. Der Kläger müsse
sich zur Beurteilung seiner Leistungsfähigkeit so behandeln lassen, als ob er ein
Einkommen im bisherigen Rahmen erzielte. Er hätte sich bereits seit Februar 2007
intensiv um eine neue Arbeitsstelle bemühen müssen; dies habe er verabsäumt – seine
Bewerbungsbemühungen seien nicht hinreichend. Die Qualifizierungsmaßnahme hätte
auch bereits im September 2007 abgeschlossen werden können. Zudem sei die
Steuererstattung unberücksichtigt geblieben. Schließlich sei die Frage zu klären, ob das
Einkommen des Klägers um den Tabellenunterhalt oder um den Zahlbetrag zu
bereinigen sei.
Sie beantragt sinngemäß,
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unter teilweiser Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen, soweit
der Kläger eine Herabsetzung auf unter monatlich 219 € für den Zeitraum
September bis Dezember 2007 und auf unter 150 € für den Zeitraum ab 15. Juni
2008 begehrt.
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Dem ist der Kläger entgegen getreten. Er beantragt,
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die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
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Hierzu trägt er vor, zu einem Betreuungsunterhaltsanspruch gemäß § 1570 Abs. 1 S. 2
BGB fehlten zureichende Anhaltspunkte; der Beklagten stehe auch kein
Aufstockungsunterhalt zu. Es fehle an Beschäftigungsmöglichkeiten für ihn auf dem
Arbeitsmarkt. Er habe eine von der Agentur für Arbeit im November 2007 angebotene
und finanzierte Qualifizierungsmaßnahme aufgenommen, um seine
Beschäftigungschancen zu verbessern; die Abschlussprüfung folge im Winter
2008/2009. Diese Maßnahme habe er nicht früher beginnen können, weil sein
Arbeitsverhältnis erst zum 31.08.2007 geendet habe und bis dahin keine Qualifizierung
bezahlt würde; dies hätte er aus eigenen Mitteln nicht leisten können. In den Jahren
2006 und 2007 habe er keine Steuererstattungen erhalten. Das Finanzamt würde
überdies wegen seiner im Jahre 2004 nach Steuerforderungen angemeldeten und im
Jahre 2005 beschlossenen Privatinsolvenz keine zuviel gezahlten Steuern erstatten.
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Der Senat hat mit terminsvorbereitendem Beschluss vom 18. August 2008 auf die Sach-
und Rechtslage hingewiesen und diese mit den Parteien in der mündlichen
Verhandlung erörtert.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die angefochtene Entscheidung und auf den
vorgetragenen Akteninhalt Bezug genommen.
16
II.
17
Die zulässige Berufung hat in der Sache teilweise Erfolg.
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Die Abänderungsklage ist gemäß § 323 Abs. 1 ZPO zulässig. In der Sache beurteilt sich
die vom Kläger begehrte Herabsetzung bzw. der gänzliche Wegfall der im Wege des
Prozessvergleichs titulierten Unterhaltsverpflichtung nach § 313 Abs. 1 BGB, weil der
Kläger sich auf eine nachträgliche Änderung stützt.
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Gemäß § 313 Abs. 1 BGB kann, wenn sich die Umstände, welche zur Grundlage des
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Vertrags geworden sind, nach Vertragsabschluss schwerwiegend verändert haben und
die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten, wenn sie
diese Veränderung vorausgesehen hätten, die Anpassung des Vertrages verlangt
werden, soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls,
insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am
unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann.
Als Grundlage des Vertrages haben die Parteien seinerzeit bei Vergleichsabschluss ein
bereinigtes Einkommen des Klägers von monatlich 1.309,70 € angenommen und ein
Einkommen der Beklagten von 600,18 €; und zwar unter Berücksichtigung von 150 € als
Betreuungsbonus auf Seiten der Beklagten sowie der Kindesunterhaltsverpflichtung des
Klägers von 192 €, wobei die Beklagte von dessen Erhöhung um monatlich 7 € wegen
der Nachscheidungsunterhaltsverpflichtung absehen wollte (Bl. 7 GA).
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Ein Betreuungsunterhaltsanspruch gemäß § 1570 BGB a.F., § 1570 Abs. 1 S. 2 BGB n.
F. steht der Beklagten auch weiterhin zu (s.u.).
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Tatsächlich verfügte der Kläger demgegenüber ab September 2007 über Einkünfte von
monatlich 1.022,70 € Arbeitslosengeld (Bl. 13 GA) – damit wäre er unter
Berücksichtigung des Kindesunterhalts nur bis Ende 2007 teilweise leistungsfähig, und
zwar auch dann, wenn ihm zusätzlich ein fiktives anrechnungsfreies
Nebenerwerbsentgelt von monatlich rund 165 € zugerechnet würde: 1.022,70 € + 165 €
= 1.187,70 € - 199 € = 988,70 €. Leistungsfähigkeit bestünde in Höhe von monatlich 89
€ bis Ende 2007; denn der gegenüber dem Ehegatten erhöhte Selbstbehalt kommt hier
noch nicht zur Anwendung, weil neben dem Ehegattenunterhalt auch Kindesunterhalt
geschuldet ist und bei dieser Berechnung nach ständiger Handhabung des Senats nur
einheitlich 900 € als Selbstbehalt berücksichtigt werden. Der Kindesunterhalt ist nämlich
teilweise aus der Differenz zwischen dem notwendigen und dem erhöhten Selbstbehalt
zu leisten, so dass infolgedessen wiederum ein um 100 € erhöhter Betrag für den
Nachscheidungsunterhalt zur Verfügung steht.
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Dem Kläger ist schon im Hinblick auf die zwischenzeitlich belegte Privatinsolvenz keine
– für 2006 auch nicht ausgezahlte und damit vom ihm nicht vereinnahmte -
Steuererstattung zuzurechnen, welche auch die Leistungsfähigkeit nur unerheblich
steigerte. Allerdings sind ihm in voller Höhe bis August 2007 gezahlte und auf zwölf
Monate umzulegende Urlaubs- und Weihnachtsgelder anteilig auch für die Zeit von
September bis Dezember 2007 zuzurechnen. Diese Umrechnung ist auch angesichts
der Pfändungsfreigrenzen möglich wie zumutbar. Über die Höhe dieser Gelder ist im
Einzelnen nichts bekannt; indes ist der Kläger, der den der rechtlichen Beurteilung
zugrunde liegenden Annahmen nach erteilten Hinweisen nicht hinreichend entgegen
getreten ist, für seine eingeschränkte Leistungsfähigkeit darlegungs- und
beweisbelastet.
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Mithin ist der Kläger für den Zeitraum
bis Ende Dezember 2007
leistungsfähig zu behandeln.
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Für den Zeitraum
ab Januar 2008
und demnach
bis Mitte Juni 2008
des Klägers, da ihm Bestandteile seines früheren Gehalts nun nicht mehr zugerechnet
werden können und aufgrund der geänderten Rangfolge gemäß § 1669 Nr. 1 und 2
BGB n. F. der erhöhte Selbstbehalt von monatlich 1.000 € zu beachten ist.
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BGB n. F. der erhöhte Selbstbehalt von monatlich 1.000 € zu beachten ist.
Die Aufnahme der von der Agentur geförderten Qualifizierungsmaßnahme muss die
Beklagte unterhaltsrechtlich hinnehmen; sie mag bedenken, dass ihr gegenüber keine
gesteigerte Erwerbsobliegenheit und daraus resultierende verschärfte
Unterhaltsverpflichtung besteht und es sich unstreitig um eine sog. Erstausbildung
handelt. Selbst aber bei gesteigerter Erwerbsobliegenheit hat der Bundesgerichtshof die
Aufnahme einer Erstausbildung nach Verlust des bisherigen Arbeitsplatzes aufgrund
betriebsbedingter Kündigung nicht für vorwerfbar gehalten (BGH FamRZ 1994, 372,
375). Dem schließt sich der Senat auch für diesen zur Beurteilung anstehenden
Sachverhalt an: Der Arbeitsplatzverlust, dessen finanzielle Folgen im Rahmen eines
Prozessvergleichs noch erheblich abgemildert worden sind, ist unterhaltsrechtlich dem
Kläger nicht vorwerfbar. Zweifel hieran sind allenfalls theoretischer Natur. Der Kläger
mag zwar frühere Ausbildungsversuche abgebrochen haben; gleichwohl darf es ihm
nach Überzeugung des Senats mit einem Alter von rund 27 Jahren unterhaltsrechtlich
nicht verwehrt werden, eine Qualifizierung, die zeitlich einen wesentlich geringeren
Umfang in Anspruch nimmt als eine "normale" Erstausbildung und finanziell zudem
zumindest teilweise, nämlich bis Ende 2007, für die Beklagte im Hinblick auf ihren
Unterhaltsanspruch keine Auswirkungen hatte. Schließlich weist der Senat nochmals
vorsorglich darauf hin, dass sich nach endgültigem Abschluss die Anforderungen an
den Kläger im Hinblick auf seine Bewerbungsbemühungen wieder deutlich verschärfen.
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Auch kann dem Kläger eine verspätete Aufnahme der Qualifizierungsmaßnahme nicht
vorgeworfen werden, da eine für die Beklagte unzumutbare Verzögerung nicht vorliegt.
Die Arbeitsagentur nach den Erfahrungen des Senats wird regelmäßig erst dann tätig,
wenn jemand arbeitssuchend ist und das dem vorher gehende Arbeitsverhältnis des
Klägers endete aufgrund des vor dem Arbeitsgericht geschlossenen Vergleichs erst zum
31.08.2007 endete und die Zeit bis zum Beginn der Maßnahme betrug sodann nur
wenige Monate.
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Für den Zeitraum ab März 2008 verschärft sich die finanzielle Situation noch, da die
geänderte Kindesunterhaltsregelung zu beachten ist. Seit März 2008 zahlt der Kläger
einen höheren Kindesunterhalt von 279 € - 77 € Kindergeldanteil = 202 € gemäß der
Jugendamtsurkunde, wobei der Senat vorsorglich darauf hinweist, dass der titulierte
Betrag sich wohl auf die Übergangsregelung des § 36 Nr. 3 EGZPO bezieht,
wenngleich sich dies nicht direkt aus dem Urkundentext ergibt. Wegen der
einvernehmlichen tatsächlichen Handhabung der Parteien war dem nicht weiter
nachzugehen.
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Insoweit kommt es jedoch entscheidend – bereits für den Unterhaltszeitraum ab Januar
2008 - darauf an, ob bei der Einkommensberechnung auf Seiten des Klägers der
Tabellenbetrag oder der Zahlbetrag abzuziehen ist. Bisher hat der Senat in ständiger
Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass (auch unter dem Einfluss des neuen
Unterhaltsrechts weiterhin) der Tabellenbetrag, in dem das hälftige Kindergeld enthalten
ist, zu berücksichtigen ist. Auch nach Erörterung in der mündlichen Verhandlung hält er
hieran fest – wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieser Frage sowie dem Erfordernis
einer einheitlichen Rechtsprechung lässt er allerdings die Revision gemäß § 543 Abs. 1
Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 2 ZPO zu.
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Der Abzug des Tabellenbetrages beruht auf folgenden Erwägungen:
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Ob die Zahl- oder die Tabellenbeträge bei der Beurteilung der ehelichen
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Lebensverhältnisse von dem Einkommen des barunterhaltspflichtigen Elternteils in
Abzug zu bringen sind, ergibt sich zunächst nicht aus dem Gesetz. Zwar ist nach § 1612
b BGB das Kindergeld auf den Bedarf anzurechnen. Dies zwingt aber nicht zum Abzug
der Zahlbeträge. Bis zum Kindschaftsreformgesetz, das zum 01.07.1998 in Kraft trat,
wurde das Kindergeld ebenfalls auf den Bedarf angerechnet. Die Rechtslage ist also
nicht neu. Damals bestand Einigkeit darüber, dass bei der Berechnung des
Ehegattenunterhalts nicht die Zahlbeträge, sondern die Tabellenbeträge in Abzug zu
bringen sind (BGH FamRZ 1997, 806). Der BGH hat darauf hingewiesen, dass das
Kindergeld den Eltern in dem Maße zusteht, in dem sie sich nach Maßgabe des § 1606
Abs. 3 BGB am Unterhalt des Kindes beteiligen. Da Betreuungs- und Barunterhalt
gleichrangig sind, sollte das Kindergeld bei minderjährigen Kindern in der Regel hälftig
zwischen den Eltern aufgeteilt werden. Auf den Gedanken, das Kindergeld als
Einkommen des Kindes anzusehen, ist bei der damaligen Rechtslage niemand
gekommen.
Nunmehr wird allerdings vertreten, die Zahlbeträge in Abzug zu bringen (Dose FamRZ
2007, 1289; Klinkhammer FamRZ 2008, 199; Gerhardt FamRZ 2007, 945;
Gerhardt/Gutdeutsch FamRZ 2007, 748; Scholz FamRZ 2007, 2028). Dies entspricht
auch dem Regierungsentwurf (BT-Dr. 16/1830 S. 29). Diese Auffassung stützt sich
darauf , dass das Kindergeld durch die Anrechnung auf den Bedarf gemäß § 1612 BGB
als anrechnungsfähiges Einkommen des Kindes anzusehen und damit genauso zu
behandeln ist, wie eine Ausbildungsvergütung.
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Dieser Auslegung, die zwangsläufig zum Abzug der Zahlbeträge führen muss, vermag
sich der Senat aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht anzuschließen. Der Senat
sieht darin einen Verstoß gegen Art. 3 GG, weil insoweit der barunterhaltspflichtige
Elternteil gegenüber dem Elternteil, der den Betreuungsunterhalt leistet, benachteiligt
wird, so dass die Gleichwertigkeit gemäß § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB nicht mehr gewahrt
ist. Das Kindergeld hat eine zweifache Zweckbestimmung. Zum einen ist es eine
familienfördernde Sozialleistung und dient dazu, das Existenzminimum des Kindes
sicherzustellen, zum anderen dient es im Rahmen des Familienleistungsausgleich
gemäß § 31 S. 2 EStG dazu, die barunterhaltspfichtigen Eltern von ihren Belastungen
durch ihre Leistungen gegenüber den Kindern steuerlich frei zu stellen. Nach § 1612 b
Abs. 5 BGB (a. F.) wurde das Kindergeld gemäß diesen Zweckbestimmungen
eingesetzt. Es stand den barunterhaltspflichtigen Elternteil erst dann zur Hälfte zu, wenn
er das Existenzminimum des Kindes sichergestellt hat. Solange diesem die
Sicherstellung des Existenzminimums aufgrund seines Einkommens nicht möglich war,
wurde das Kindergeld dazu eingesetzt. Aus diesem Grunde sah das Gesetz eine
Halbanrechnung des Kindergeldes erst ab der Sicherstellung von 135 % des
Regelbetrages, dem damaligen Existenzminimum vor. Diese Beurteilung hat das
Bundesverfassungsgericht gebilligt (Beschluss vom 09.04.2003 – 1 BvL 1/01- FamRZ
2003, 1370). Dabei hat das BVerfG darauf abgestellt, dass der Steuerausgleich der
Freistellung des Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsbedarfs eines Kindes dient,
also auch des Bedarfs, der die Existenz des Kindes sicherstellt. Soweit dieser Bedarf
vom Unterhaltspflichtigen mit seinen Unterhaltszahlungen in der Höhe des notwendigen
Minimums nicht abgedeckt werde, könne das Kindergeld nicht die Funktion einer
steuerlichen Entlastung haben. Eine Belastung, die insoweit nicht vorhanden sei, sei
auch nicht steuerlich auszugleichen. Daraus zieht der Senat den Umkehrschluss, dass
dann, wenn das Existenzminimum des Kindes durch den Barunterhalt sichergestellt
wird, dem Unterhaltspflichtigen das halbe Kindergeld zu Gute kommen muss, wie es
auch der dem Betreuungsunterhalt leistenden Elternteil für sich beanspruchen kann. Es
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besteht bei Sicherstellung des Existenzminimums nur noch die Zweckbestimmung der
steuerlichen Entlastung, die beiden Eltern in gleicher Weise zu Gute kommen muss.
Den Vorrang der familienrechtlichen Zweckbestimmung hat das BVerfG nur dann
vorgesehen, wenn das Existenzminimum durch den Barunterhalt nicht sichergestellt
wird. Daraus folgt, dass jede andere Bewertung einen Verstoß gegen Art. 3 GG darstellt.
Beim Abzug der Zahlbeträge wird nämlich dieser hälftige Ausgleich des Kindergeldes
gemäß der vom BVerfG hervorgehobenen Zweckbestimmung über den
Ehegattenunterhalt zu Lasten des Barunterhaltspflichtigen verändert. Werden nämlich
die Zahlbeträge abgezogen, führt dies zu einem Ehegattenunterhalt, der bei einem
minderjährigen, von dem bedürftigen Ehegatten betreuten Kind um 33 € höher ist, als
bei Abzug der Tabellenbeträge. Wird als Vorwegabzug lediglich der Zahlbetrag
berücksichtigt, erhöht sich das Einkommen für den barunterhaltspflichtigen Elternteils
um das hälftige Kindergeld, also um 77 €, so dass der den Betreuungsunterhalt
leistende bedürftige Ehegatte davon 3/7, also 33 € über den Ehegatten für sich
abzweigt. Da die Vertreter der Auffassung für den Abzug der Zahlbeträge davon
ausgehen, dass das Kindergeld Einkommen des Kindes ist, führt dies sogar noch zu der
misslichen Situation, dass die andere Hälfte des Kindergeldes bei dem bedürftigen
Ehegatten, der die Betreuung des Kindes leistet, nicht in Ansatz zu bringen ist, da der
Betreuungsunterhalt nicht zu monetarisieren ist und daher bei der Unterhaltsberechnung
unberücksichtigt zu bleiben hat. Es erhöht sich also ausschließlich das Einkommen des
barunterhaltspflichtigen Elternteils. Damit verschlechtert sich die Lage für den
unterhaltspflichtigen Elternteil, der Ehegattenunterhalt zu zahlen hat, sogar noch
gegenüber der früher vertretenen Auffassung, das Kindergeld als Einkommen der Eltern
anzusehen. In diesem Falle müsste es nämlich sowohl beim unterhaltsberechtigten als
auch beim unterhaltsverpflichteten Ehegatten jeweils zur Hälfte in Ansatz gebracht
werden, so dass sich die Berücksichtigung im Regelfall neutralisiert. Die Behandlung
als Einkommen des Kindes führt also dazu, dass sich ausschließlich das Einkommen
des barunterhaltspflichtigen Elternteils erhöht. Dies hat zur Folge, dass ihm ein
Teilbetrag von 33 € von der ihm zustehenden steuerlichen Entlastung im Wege des
Ehegattenunterhalts wieder abgenommen und an den anderen Ehegatten weitergeleitet
wird, der diesen Betrag neben der ihm zustehenden Hälfte des Kindergeldes erhält.
Damit wachsen dem betreuenden Elternteil nicht 77 €, also die Hälfte des Kindergeldes,
sondern 110 € zu. Dies stellt nach Auffassung des Senats einen Verstoß gegen Art. 3
GG dar, weil nicht einzusehen ist, dass der steuerliche Ausgleich auf diesem Wege
zugunsten dieses Elternteils verfälscht wird, zumal der barunterhaltspflichtige Elternteil
das Existenzminimum des Kindes sicherstellt‚ dies entspricht nämlich nunmehr dem
Mindestbedarf, der immer befriedigt ist, wenn es um Ehegattenunterhalt geht. Dies ergibt
sich aus den Rangfolgen gemäß § 1609 Nr. 1 und Nr. 2 BGB von minderjährigen
Kindern und Ehegatten. Das bedeutet also, dass die vorrangige Zweckbestimmung des
Kindergeldes als familienfördernde Sozialleistung wegen der Rangverhältnisse auf
jeden Fall erfüllt ist, wenn Ehegattenunterhalt in Frage steht. Folgt man den
Erwägungen des BVerfG dürfte es beim Ehegattenunterhalt damit nur noch um die
weitere Zweckbestimmung, nämlich der Entlastungsfunktion des Kindergeldes gehen,
die im Steuerrecht verankert ist und die durch die Anrechnung der Zahlbeträge beim
Ehegattenunterhalt nicht mehr zu einer hälftigen Entlastung der Eltern führt.
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Die Ungleichbehandlung wird noch offensichtlicher, wenn die Leistungsfähigkeit des
Unterhaltspflichtigen für die Zahlung von Ehegattenunterhalt aufgrund des
Ehegattenselbstbehalts infrage steht. In diesem Falle wird über den Ehegattenunterhalt
das hälftige Kindergeld in voller Höhe an den betreuenden Ehegatten weiter geleitet.
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Verbleiben dem Pflichtigen nach Abzug des Zahlbetrages bei einem Kind 1.077 €, ist er
wegen des Kindergeldes in Höhe von 77 € leistungsfähig, Ehegattenunterhalt in Höhe
von 77 € zu zahlen. In diesen Fällen verbleibt ihm das Kindergeld zu seiner Entlastung
noch nicht einmal teilweise, obwohl er das Existenzminimum des Kindes durch den
Kindesunterhalt sicherstellt. Ansonsten käme es – wie bereits ausgeführt – gar nicht
zum Ehegattenunterhalt. Die Weiterleitung des hälftigen Kindergeldes in voller Höhe an
den unterhaltsberechtigten Ehegatten dürfte sich auch nach den Ausführungen des
BVerfG vor allem nicht damit begründen lassen, dass der Unterhaltspflichtige nicht
leistungsfähig ist, Ehegattenunterhalt zu zahlen. Die familienfördernde
Zweckbestimmung betrifft ausdrücklich nur das Existenzminimum des Kindes. Im
Übrigen sieht der Senat bei diesem Ergebnis auch einen Widerspruch darin, dass
gegenüber dem Ehegattenunterhalt ein höherer Selbstbehalt gilt, als gegenüber
Kindern, da durch den Abzug der Zahlbeträge die zu Recht bestehende Differenzierung
aufgehoben wird.
Noch krasser wirkt sich der Abzug der Zahlbeträge aus, wenn der unterhaltsberechtigte
Ehegatte auch noch den Betreuungsunterhalt leistet. Trennt sich die Ehefrau von dem
Ehemann, belässt sie die beiden aus der Ehe stammenden minderjährigen Kinder in
dessen Haushalt und verlangt Ehegattenunterhalt, müsste der Ehemann, wenn sie
aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen nicht in der Lage ist, Kindesunterhalt zu
zahlen, das hälftige Kindergeld über den Ehegattenunterhalt an sie weiterleiten, wenn
ihm nach Abzug der Zahlbeträge für die beiden bei ihm lebenden Kinder lediglich 1.154
€ verbleiben. In diesem Falle müsste er also 154 € Ehegattenunterhalt bezahlen. Es
liegt auf der Hand, dass es sich dabei um das jeweils hälftige Kindergeld für die beiden
bei ihm lebenden Kinder handelt, die er nicht nur betreut, sondern deren
Naturalunterhalt er auch sicherstellt, weil die Ehefrau sich daran aufgrund ihrer
Leistungsunfähigkeit nicht zu beteiligen vermag. Dies bedeutet, dass die Mutter, obwohl
sie nichts aber auch rein gar nichts zum Unterhalt der Kinder beiträgt, über den
Ehegattenunterhalt das halbe Kindergeld für sich beanspruchen kann. Dieses Ergebnis
dürfte krass gegen die Auffassung des BVerfG verstoßen, nach der ein Anspruch eines
Elternteils auf das hälftige Kindergeld erst dann besteht, wenn er das Existenzminimum
des Kindes sicherzustellen vermag, und insoweit die familienfördernde
Zweckbestimmung im Vordergrund steht. Dem Ehegatten der sowohl den Betreuungs-
als auch den Naturalunterhalt leistet, verbleibt in diesen Fällen nur das hälftige
Kindergeld, obwohl es ihm in voller Höhe zur Verfügung stehen müsste.
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Zu einem ebenso unangemessenen Ergebnis führt der Abzug der Zahlbeträge bei nicht
gemeinsamen Kindern. Ist der vom geschiedenen Ehegatten auf Ehegattenunterhalt in
Anspruch genommene Ehegatte wieder verheiratet, sind aus der neuen Ehe z. B. zwei
Kinder hervorgegangen, ist der zweite Ehegatte wegen Erwerbstätigkeit nicht
unterhaltsbedürftig und verbleiben dem Ehemann nach Abzug des Zahlbetrages 1.154
€, muss er das für die nicht gemeinsamen Kinder bezogene Kindergeld zur Hälfte im
Wege des Ehegattenunterhalts an den geschiedenen Ehegatten weiterleiten, der mit
den Kindern überhaupt nichts zu tun hat.
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Aufgrund der aufgezeigten verfassungsrechtlichen Bedenken vermag sich der Senat
nicht der Auslegung anzuschließen, nach der die Kindergeldanrechnung auf den Bedarf
gemäß § 1612 b BGB bei der Berechnung des Ehegattenunterhalts zum Abzug der
Zahlbeträge führen muss. Entgegen der Auffassung von Scholz (Wendl/Staudigl 7. Aufl.,
§ 2 Rdnr. 510) sieht sich der Senat nicht verpflichtet, das konkrete Normen-
Kontrollverfahren gemäß Art. 100 GG durchzuführen und die Sache dem
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Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Eine Vorlage kommt dann nicht in Betracht,
wenn die Verfassungswidrigkeit durch eine verfassungskonforme Auslegung beseitigt
werden kann (BVerfGE 32, 383; 48, 215; 64; 242; von Münch/Kunig GG, 5. Aufl., Art.
100, Rdnr. 66; Leibholz/Rück GG Art. 100 Rdnr. 42). Da nach Auffassung des Senats
nicht der § 1612 b und die Kindergeldanrechnung auf den Bedarf des Kindes
verfassungswidrig ist, sondern lediglich die daraus gezogene Schlussfolgerung, dass
demgemäß bei der Berechnung des Ehegattenunterhalts die Zahl- und nicht die
Tabellenbeträge abzuziehen sind, besteht die Möglichkeit durch eine
verfassungskonforme Auslegung und den Abzug der Tabellenbeträge ein
verfassungswidriges Ergebnis zu vermeiden. Damit verbietet sich eine Vorlage gemäß
Art. 100 GG.
Ab Mitte Juni 2008
die Abschlussprüfung steht noch aus – ist der Kläger allerdings wieder als (indes jetzt
nur teilweise) leistungsfähig zu behandeln.
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Auch sind insoweit von ihm wegen der zeitlichen Absehbarkeit bereits rechtzeitig zuvor
einsetzende Bewerbungsbemühungen zu verlangen; diesen Anforderungen genügen
die vorgelegten Bewerbungsunterlagen ersichtlich bei weitem nicht.
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Nach den für 2006 vorgelegten Verdienstunterlagen (Bl. 46 GA) erzielte der Kläger im
Jahre 2006 im Durchschnitt ein bereinigtes Nettoeinkommen von monatlich rund 1.352
€, unter Vorabzug des Kindesunterhaltstabellenbetrag von monatlich 279 € verbleibt
eine Restleistungsfähigkeit von monatlich 73 €. Es ist an das früher tatsächlich erzielte
Einkommen aus dieser Erwerbstätigkeit anzuknüpfen, weil die Abschlussprüfung noch
aussteht und ein evtl. mit der Qualifizierung einher gehender möglicher höherer
Verdienst bislang noch nicht realisierbar bzw. zu unterstellen ist.
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Entgegen der Ansicht des Klägers beeinflusst das von der Beklagten erzielte
Einkommen dieses Ergebnis nicht, da es allein auf seine Leistungsfähigkeit ankommt:
Die Beklagte müsste schon über monatlich netto bereinigt 900 € als Arzthelferin
verdienen, damit ihr Bedarf sich verringerte; ein solches Einkommen erzielt sie nicht und
es ist ihr auch ein diese Größenordnung deutlich übersteigender Betrag nicht fiktiv
zuzurechnen. Hierbei bedarf nicht einmal die Frage einer Entscheidung, ob der
Beklagten weiterhin wie im Vergleich ein Betreuungsbonus auch nach neuem Recht
weiterhin gutzubringen ist. Die gemeinsame Tochter L. ist erst 5 Jahre alt; angesichts
dieses Kindesalters ist die Beklagte nicht darauf zu verweisen, sie könne ihren Bedarf
gänzlich durch eigene Erwerbstätigkeit verdienen. Mehr als eine etwa halbschichtige
Tätigkeit ist unter Berücksichtigung der Kindesinteressen nicht zumutbar. Von der
Gegenseite bestrittene Angaben des Klägers zu einer umfänglichen Erwerbstätigkeit der
Beklagten mit einem entscheidungsrelevanten Einkommen sind ersichtlich ins Blaue
hinein erfolgt und entbehren einer hinreichenden Substanz. Die Beklagte hat ihre
zwischenzeitlich reduzierte Erwerbstätigkeit lediglich wieder auf einen gut
halbschichtigen Umfang ausgeweitet (als Rezeptionsmitarbeiterin mit einer Vergütung
von 10,50 €/Stunde), wie sie durch Vorlage des entsprechenden Arbeitsvertrages auch
belegt hat (Bl. 186 f. GA).
43
Nur für den Zeitraum ab Januar 2008 (ab 15. Juni 2008 teilweise) ist die
Geschäftsgrundlage der früheren Vereinbarung gestört und ein Festhalten des Klägers
hieran für ihn nicht zumutbar; damit ist der Vergleich für die Zeit ab Januar 2008 in dem
vorbezeichneten Umfang abzuändern.
44
Im Ergebnis ist die Berufung teilweise begründet.
45
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung
über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 708 Nr. 10 ZPO.
46