Urteil des OLG Düsseldorf vom 11.03.2004

OLG Düsseldorf: haushalt, unterhalt, sozialhilfe, verfügung, volljährigkeit, versorgung, subsidiarität, entlastung, dienstanweisung, unangemessenheit

Oberlandesgericht Düsseldorf, II-8 WF 26/04
Datum:
11.03.2004
Gericht:
Oberlandesgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
8. Senat für Familiensachen
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
II-8 WF 26/04
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird abgeändert:
Dem Kläger wird in vollem Umfange Prozesskostenhilfe unter
Beiordnung von Rechtsanwalt B. in O. bewilligt.
Die Beschwerde hat Erfolg.
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Zu Recht wendet sich der Kläger dagegen, dass das Amtsgericht auf den
Volljährigenunterhalt, den der Beklagte schuldet, das volle Kindergeld angerechnet hat.
Obwohl die Mutter, in dessen Haushalt der Kläger auch nach Vollendung des 18.
Lebensjahres lebt, nicht leistungsfähig ist, Volljährigenunterhalt zu zahlen, bleibt es bei
der in § 1612 b Abs. 1 und 2 vorgesehenen Halbteilung des Kindergeldes. Dies folgt
aus einer entsprechenden Anwendung der zuvor genannten Vorschriften (OLG Hamm
FamRZ 2001, 1728; OLG Celle FamRZ 2001, 47; OLG Brandenburg FamRZ 2002,
1217; OLG Nürnberg OLG-Report Nürnberg 2000, 63; OLG Köln FamRZ 2003, 1408;
OLG Celle FamRZ 2003, 1408).
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Die für die Analogiebildung erforderliche Regelungslücke ist gegeben.
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Eine unmittelbare Anwendung der §§ 1612 b Abs. 1 und 2 BGB scheitert an der
Leistungsunfähigkeit der Kindesmutter. Diese schuldet dem Volljährigen gemäß § 1603
BGB keinen Unterhalt, so dass das Zusammenspiel der Kindergeldanrechnung gemäß
den vorgenannten Regelungen, die eine beiderseitige Barunterhaltsverpflichtung
voraussetzen, ausscheidet.
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§ 1612 b Abs. 3 BGB ist ebenfalls nicht einschlägig. Diese Vorschrift regelt die
Anspruchs- und nicht die Bezugsberechtigung. Die Anspruchsberechtigung ist in §§ 63
in Verbindung mit 32 Abs. 1 EStG geregelt. Dort wird bestimmt, welche Kinder einen
Anspruch auf Kindergeld vermitteln. Danach sind im vorliegenden Fall sowohl der Vater
als auch die Mutter im Hinblick auf den Empfang des Kindergeldes anspruchsberechtigt.
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Die Bezugsberechtigung ergibt sich demgegenüber aus § 64 EStG. Sie betrifft die
Frage, wer bei einer Anspruchskonkurrenz mehrerer Anspruchsberechtigter die
Auszahlung des Kindergeldes verlangen kann. Gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG gilt das
Obhutsprinzip. Danach ist allein die Mutter des Klägers hinsichtlich des Kindergeldes
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bezugsberechtigt, weil der Kläger in ihrem Haushalt lebt, obwohl sie nicht leistungsfähig
ist.
Die für die analoge Anwendung weiterhin erforderliche gleichgelagerte Interessenlage
ist ebenfalls gegeben. Der Normzweck der §§ 1612 b Abs. 1 und 2 BGB gebietet die
entsprechende Anwendung auf den vorliegenden Fall. Auch wenn der Elternteil, in
dessen Haushalt das volljährige Kind lebt, gemäß § 1603 BGB nicht leistungsfähig ist
und deswegen keinen Barunterhalt schuldet, ändert dies nichts daran, dass er dem Kind
Versorgungsleistungen erbringt und dessen Wohnbedarf deckt. Hierbei handelt es sich
um Aufwendungen, die der Zweckbestimmung des Kindergeldbezuges entsprechen.
Das Obhutsprinzip nach § 64 Abs. 2 EStG differenziert nicht danach, ob der Elternteil, in
dessen Haushalt das Kind lebt, leistungsfähig ist oder nicht. Das Gesetz stellt vielmehr
auf die Vermutung ab, dass diesem Kind gegenüber Leistungen erbracht werden, die
die Bezugsberechtigung rechtfertigen. Aus diesem Grunde unterscheidet die Vorschrift
auch nicht zwischen Minderjährigen- und Volljährigenunterhalt. Zwar entfällt der
Betreuungsunterhalt mit der Volljährigkeit des Kindes. Daraus folgt, dass die
Versorgungsleistungen des versorgenden Elternteils keine Unterhaltsleistungen
darstellen, wenn dieser nicht leistungsfähig ist und deswegen keinen Barunterhalt
schuldet. Gleichwohl hat der nicht leistungsfähige Elternteil tatsächliche Aufwendungen
in Höhe der anteiligen Miet- und Verpflegungskosten. Den mit der Versorgung des
Kindes auch nach dessen Volljährigkeit verbundenen finanziellen Aufwand hatte der
Gesetzgeber im Auge, als er die Bezugsberechtigung auch über die Volljährigkeit
hinaus an das Obhutsprinzip anknüpfte. Ferner ist zu berücksichtigen, dass der das
Kind unterstützende Elternteil den barunterhaltspflichtigen Elternteil durch seine
Zuwendungen im Regelfall auch finanziell entlastet. Dadurch, dass er das Kind in
seinem Haushalt aufgenommen hat, bewirkt er, dass sich der Bedarf des Kindes gerade
wegen des Zusammenlebens nach der 4. Altersstufe der Düsseldorfer Tabelle richtet
und nicht mit dem festen Bedarfssatz von 600 EUR anzusetzen ist. Würde der
versorgende Elternteil die Verpflegung und den Wohnbedarf des Kindes nicht
sicherstellen, müsste dieser einen eigenen Hausstand begründen. Dann könnte er den
festen Bedarfssatz von 600 EUR in Anspruch nehmen, den der barunterhaltspflichtige
Elternteil allein aufbringen müsste. Zwar übersteigt der vom Beklagten geschuldete
Tabellenbetrag gemäß der 13. Einkommensgruppe und 4. Altersstufe mit 654 EUR den
festen Bedarfssatz von 600 EUR. Dies entkräftet das vorhergehende Argument jedoch
nicht, da es sich hier um einen typischen Fall handelt, in dem der feste Bedarfssatz bei
eigenem Haushalt des unterhaltsberechtigten Volljährigen angehoben werden müsste.
Dies lässt die Düsseldorfer Tabelle unter A 7. Absatz 2 ausdrücklich zu. Dort heißt es,
dass der feste Bedarfssatz "in der Regel" monatlich 600 EUR beträgt. Eine
angemessene Anhebung wird im Ergebnis dazu führen, dass der allein
barunterhaltspflichtige Beklagte auch bei Anrechnung des vollen Kindergeldes höheren
Barunterhalt zahlen müsste als bei der hälftigen Anrechnung des Kindergeldes bei
Zugrundelegung des Tabellenbetrages der 13. Einkommensgruppe/4. Altersstufe (vgl.
dazu im Einzelnen Soyka FamRZ 2003, 1154).
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Demgegenüber ist damit die Interessenlage, die der Gesetzgeber bei der Fassung des §
1612 b Abs. 3 BGB im Auge hatte, nicht zu vergleichen (anders aber OLG
Braunschweig FamRZ 2000, 1246; OLG Naumburg FamRZ 2002, 1589; OLG
Schleswig FamRZ 2000, 1245; OLG Nürnberg FamRZ 1999, 1452; OLG Brandenburg
FamRZ 2003, 553).
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§ 1612 b Abs. 3 BGB regelt den Fall, dass das Kindergeld an einen Dritten ausgezahlt
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wird, während der barunterhaltspflichtige Elternteil allein anspruchsberechtigt ist. Diese
Fallkonstellation ist z.B. dann gegeben, wenn der andere Elternteil verstorben ist und
entweder das Kind das Kindergeld im Wege der Abzweigung gemäß § 74 Abs. 1 S. 3
EStG erhält oder das Kindergeld gemäß § 74 Abs. 2 S. 4 EStG aufgrund einer
Abzweigung wegen des Sozialhilfebezuges des Kindes an den Träger der Sozialhilfe
ausgezahlt wird. Gewährt das Sozialamt dem Kind Unterhalt, wird die
Unterhaltsverpflichtung des allein barunterhaltspflichtigen Elternteils wegen der
Subsidiarität der Sozialhilfe nach § 2 Abs. 2 BSHG nicht berührt. Vielmehr gehen
gemäß § 91 Abs. 1 S. 1 BSHG Unterhaltsansprüche kraft Gesetzes auf den Träger der
Sozialhilfe für die Zeit und in Höhe der Hilfegewährung über. Hat dieser
Sozialhilfeträger das Kindergeld nach § 74 Abs. 1 S. 4 EStG abgezweigt und nimmt er
den barunterhaltspflichtigen Elternteil aus übergegangenem Recht auf Kindesunterhalt
in Anspruch, ist dieser Elternteil nach § 1612 b Abs. 3 BGB so zu stellen, als hätte er
entsprechend seiner Anspruchsberechtigung das volle Kindergeld bezogen. Dies
stünde ihm zur freien Verfügung. Er müsste zwar den vollen Unterhalt an das Kind
auszahlen, wird aber letztlich nur mit dem Differenzbetrag zwischen Kindergeld und
dem geschuldeten Unterhalt belastet. Aus diesem Grunde wird das Kindergeld im
Sozialhilferecht auch in vollem Umfange auf den geschuldeten Unterhalt angerechnet.
Bei einer Teilanrechnung würde der Träger der Sozialhilfe mehr erhalten als ihm
zustände. Über den Tabellenbetrag hinaus würde ihm nämlich noch ein Teil des
Kindergeldes zur Verfügung stehen.
Gleiches gilt, wenn das Kind selbst das Kindergeld gemäß § 74 Abs. 1 S. 3 EStG
abgezweigt hat. Ohne Anrechnung des vollen Kindergeldes würde das Kind von dem
barunterhaltspflichtigen Elternteil mehr erhalten als es seinem angemessenen Bedarf
entspricht. Zur Bedarfsdeckung stünde ihm nämlich sowohl der volle Barunterhalt als
auch das verbleibende Kindergeld zur Verfügung. Aus diesem Grunde ist es billig, das
Kindergeld dem leistungsfähigen barunterhaltspflichtigen Elternteil zu dessen
unterhaltsrechtlicher Entlastung in vollem Umfange gut zu schreiben. Dem trägt § 1612
b Abs. 3 BGB Rechnung, indem dort geregelt wird, dass der barunterhaltspflichtige
Elternteil nur den um das volle Kindergeld gekürzten Barunterhalt zu zahlen hat.
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Die Unangemessenheit der Anrechnung des vollen Kindergeldes zeigt sich auch bei
dem Übergang vom Minderjährigen- zum Volljährigenunterhalt. Solange das Kind
minderjährig ist, schuldet der Barunterhaltspflichtige den Tabellenbetrag abzüglich des
anteiligen, ab der 6. Einkommensgruppe des hälftigen Kindergeldes. Dies bedeutet für
den letzteren Fall, dass dem anderen Elternteil, der das Kind betreut, der volle
Tabellenunterhalt und das hälftige Kindergeld verbleibt. Wird das Kind bei gleichen
Wohnverhältnissen volljährig, ist nicht einzusehen, dass dem Elternteil, der weiterhin
die Versorgung des Kindes sicherstellt, nunmehr das hälftige Kindergeld entzogen wird.
Dies muss erst recht im Falle seiner Leistungsunfähigkeit gelten, die äußerst beengte
wirtschaftliche Verhältnisse auf seiner Seite voraussetzt. Entzieht man diesem Elternteil
auch noch das hälftige Kindergeld, wird der nicht leistungsfähige Elternteil kaum in der
Lage sein, die Versorgung des Volljährigen wie bisher zu übernehmen.
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Neuerdings wird allerdings die Auffassung vertreten (OLG Brandenburg FamRZ 2003,
553), dass das Kind die Möglichkeit der Abzweigung des Kindergeldes gemäß § 74
EStG hat, so dass aufgrund des sodann bestehenden Eigenbezuges eine ähnliche
Interessenlage gegeben ist wie beim § 1612 b Abs. 3 BGB. Dem ist jedoch
entgegenzuhalten, dass eine Abzweigung an das volljährige Kind nur dann möglich ist,
wenn es sich selbst versorgt. Lebt es im Haushalt eines Elternteils, der dem Kind
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Versorgungsleistungen erbringt und seinen Wohnbedarf sicherstellt, wird die
Abzweigung des Kindergeldes verweigert. Dies entspricht der Dienstanweisung des
Bundesfinanzministeriums an alle Kindergeldauszahlungsstellen (BStBl I 2000, 839;
vgl. dazu auch Littmann/Hellwig, Einkommensteuerrecht, § 74 Rdnr. 26;
Hermann/Heuer, Kommentar zum Einkommensteuergesetz § 74 Rdnr. 9). Damit greift
das Argument einer möglichen Abzweigung nicht, so dass sich auch daraus nicht eine
den § 1612 b Abs. 3 BGB ähnliche Interessenlage herleiten lässt.