Urteil des OLG Dresden vom 02.02.2010

OLG Dresden: eingriff in grundrechte, beweisverwertungsverbot, rechtsgrundlage, messung, aufzeichnung, ordnungswidrigkeit, pass, toleranz, straftat, anweisung

Zum Beweisverwertungsverbot bei Videoaufzeichnungen
OLG Dresden, 3. Strafsenat – Senat für Bußgeldsachen, Be-
schluss vom 02.02.2010, Az.: Ss OWi 788/09
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Oberlandesgericht
Dresden
Senat für Bußgeldsachen
-
Der Einzelrichter –
Aktenzeichen: Ss (OWi) 788/09
13 OWi 705 Js 54110/08 AG Meißen
26 OWi Ss 788/09 GenStA Dresden
Beschluss
vom 02. Februar 2010
in der Bußgeldsache gegen
V
geboren am
wohnhaft
Verteidiger: Rechtsanwalt K K
wegen Verkehrsordnungswidrigkeit
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Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft
wird der Beschluss des Amtsgerichts Meißen vom
02. Oktober 2009 mit den zugrundeliegenden Fest-
stellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kos-
ten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht
Meißen zurückverwiesen.
G r ü n d e :
I.
Das Amtsgericht Meißen hat den Betroffenen mit gemäß § 72
OWiG ergangenem Beschluss vom 02. Oktober 2009 freigespro-
chen und die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Aus-
lagen des Betroffenen der Staatskasse auferlegt. Zur Be-
gründung führte das Amtsgericht aus, dass die vorgeworfene
Ordnungswidrigkeit dem Betroffenen nicht nachzuweisen sei.
Er habe keine Angaben zur Sache gemacht und auch die Fah-
rereigenschaft nicht zugestanden. Eine Verwertung des Tat-
videos sei nicht in Betracht gekommen; es bestehe ein Be-
weisverwertungsverbot, da es ohne geeignete Rechtsgrundlage
gefertigt worden sei (Beweiserhebungsverbot) und somit ei-
nen ungerechtfertigten Eingriff in das Verfassungsrang be-
sitzende Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Be-
troffenen darstelle ...
II.
Die zulässige und gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG
statthafte Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft hat auf
die Sachrüge hin - zumindest vorläufig - Erfolg und führt
zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses ...
III.
Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes
hin:
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1. Das Amtsgericht hat festgestellt, dass bei der durchge-
führten Verkehrsüberwachung das System VKS 3.01 der Fir-
ma VIDIT verwendet wurde. Im Grundsatz zu Recht geht
das Amtsgericht hierbei unter Bezugnahme auf die Ent-
scheidung
des
Bundesverfassungsgerichts
vom
11. August 2009 (2 BvR 941/08) davon aus, dass die mit-
tels einer Videoaufzeichnung vorgenommene Geschwindig-
keitsmessung eine Erhebung von Daten über persönliche
Lebenssachverhalte, über deren Offenbarung der einzelne
grundsätzlich selbst zu entscheiden hat, und damit einen
Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestim-
mung darstellt.
Hierbei ist von folgenden Grundsätzen auszugehen:
Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung kann
im überwiegenden Allgemeininteresse eingeschränkt wer-
den, wobei eine solche Einschränkung einer gesetzlichen
Grundlage bedarf, die dem rechtsstaatlichen Gebot der
Normenklarheit entsprechen und verhältnismäßig sein
muss. Hierbei müssen Anlass, Zweck und Grenzen des Ein-
griffs in der Ermächtigung bereichsspezifisch, präzise
und normenklar festgelegt werden. Als Rechtsgrundlage
für einen derartigen Eingriff in Grundrechte kommt der
bloße Erlass eines Ministeriums, gestützt auf § 4 StVO,
nicht in Betracht, da ein solcher Erlass eine Verwal-
tungsvorschrift und damit eine verwaltungsinterne Anwei-
sung, aber kein Gesetz im Sinne des Art. 20 Abs. 3 sowie
des Art. 97 Abs. 1 GG darstellt und deshalb nur Gegens-
tand, nicht Maßstab der richterlichen Kontrolle sein
kann. Eine Verwaltungsvorschrift kann für sich auch kei-
nen Eingriff in das Grundrecht der informationellen
Selbstbestimmung rechtfertigen, da dieser einer formell
gesetzlichen Grundlage bedarf. Soweit danach keine die-
sen Vorgaben entsprechende Rechtsgrundlage vorhanden
ist, folgt für so gewonnene Messergebnisse ein Beweiser-
hebungsverbot und regelmäßig auch ein Beweisverwertungs-
verbot (vgl. unten Ziff. 3 a. E.).
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2. Rechtsgrundlage für die vorliegende Videoaufzeichnung
kann § 100 h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1
OWiG sein, wenn diese Aufzeichnung anlassbezogen und le-
diglich zur Identifizierung des Betroffenen als Verdäch-
tigen erfolgte. Mit dieser Eingriffsbefugnis dürfen ohne
Wissen des Betroffenen außerhalb von Wohnungen Bildauf-
nahmen hergestellt werden. Zulässig ist damit neben der
Herstellung normaler (auch digitaler) Lichtbilder vor
allem auch die Anfertigung von Video- und Filmaufnahmen.
Sie ist, im Gegensatz zu § 100 h Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
StPO, nicht auf Observationszwecke beschränkt. Damit ist
ein solcher Eingriff zulässig, wenn ein entsprechender
Anfangsverdacht für die Begehung einer Straftat oder
Ordnungswidrigkeit besteht und - entsprechend der Subsi-
diaritätsklausel des § 100 h Abs. 1 2. Halbsatz StPO -
die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des
Aufenthaltsortes eines Beschuldigten auf andere Weise
weniger erfolgversprechend oder erschwert wäre. Im Ge-
gensatz zum eingriffsintensiveren Einsatz sonstiger Ob-
servationsmittel nach § 100 h Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO
erfordert die Herstellung von Bildaufzeichnungen gerade
nicht das Vorliegen einer Straftat von erheblicher Be-
deutung (OLG Bamberg, Beschluss vom 16. November 2009,
2 Ss OWi 1215/09).
3. Wie der Senat bereits mit Beschluss vom 08. Juli 2005
(DAR 2005, 637) ausgeführt hat, stellt sich die Funkti-
onsweise des Systems VKS 3.01 der Firma VIDIT als stan-
dardisiertes Abstandsmessverfahren wie folgt dar:
"Das von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt
zur Eichung zugelassene Gerät VKS 3.01 ermöglicht es,
aus einer Videoaufzeichnung Geschwindigkeiten von
Fahrzeugen und deren Abstände zu vorausfahrenden
Fahrzeugen zu bestimmen. Während der Messung werden
in der Regel mindestens zwei Videoaufzeichnungen vor-
genommen. Mit der Tatvideoaufzeichnung wird die Ab-
stands- und Geschwindigkeitsmessung durchgeführt. Die
Fahrervideoaufzeichnung dient der Fahreridentifizie-
rung und der Kennzeichenerfassung. Die Messung und
die Auswertung des Tatvideos werden dabei wie folgt
durchgeführt:
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Der auflaufende Verkehr wird in einem bestimmten
Fahrbahnabschnitt mit einer Videokamera von einem
festen, mindestens drei Meter über der Fahrbahnober-
fläche liegenden Kamerastandpunkt aufgenommen. Wäh-
rend der Aufnahme wird das Videosignal kodiert. Der
Kodierer zählt in dem Videosignal die einzelnen Vi-
deobilder (Voll- und Halbbild). Der zeitliche Abstand
von zwei aufeinanderfolgenden Videohalbbildern be-
trägt 1/50 Sekunde. Die Auswertung des so kodierten
Videobandes wird mittels eines Computersystems durch-
geführt. Dabei wird die Perspektive im Videobild be-
rechnet
und
eine
perspektivische
Transformation
durchgeführt. Auf diese Weise können beliebige Punkte
auf der Fahrbahnoberfläche digitalisiert und der zu-
rückgelegte Weg eines Fahrzeuges sowie im Zusammen-
hang mit der Kodierung die Geschwindigkeit des Fahr-
zeuges berechnet werden.
Die Messung ist nur auf dafür eingerichteten Fahr-
bahnabschnitten möglich. Dabei werden auf der Fahr-
bahnoberfläche vier Punkte (Passpunkte) markiert, die
ein Viereck aufspannen. Zusätzlich werden zwei Kon-
trollpunkte markiert. Die Pass- und Kontrollpunkte
werden mit einem geeichten Längenmessgerät oder einem
elektrooptischen Tachymeter vermessen. Beim Einrich-
ten der Messstelle wird ein Referenzvideo aufgezeich-
net. Die Aufstellhöhe der Kamera bei Erstellung des
Referenzvideos wird dokumentiert und darf bei den
späteren Tatvideoaufzeichnungen nicht unterschritten
werden.
Das Tatvideo wird mit Hilfe eines Computerprogramms
ausgewertet. Dabei wird zunächst die in der beschrie-
benen Weise eingerichtete Messstelle ausgewählt. Von
der auswertenden Person werden sodann die Pass- und
Kontrollpunkte der Messstelle mit Hilfe eines Faden-
kreuzes im Tatvideobild anvisiert und digitalisiert.
Das Programm berechnet die Perspektive und nimmt da-
bei eine interne Genauigkeitsberechnung vor. Erst
wenn die zulässigen Toleranzen eingehalten sind,
lässt das Programm eine weitere Auswertung der Video-
aufzeichnung zu.
Die Abstands- und Geschwindigkeitsmessungen werden im
Tatvideo mit einer Messlinie durchgeführt. Die Mess-
linie ist eine in das Videobild gerechnete, quer zur
Fahrbahn gelegte Linie. Sie lässt sich durch die aus-
wertende Person auf dem Videomonitor dem Straßenver-
lauf folgend bewegen. Dabei werden die perspektivi-
sche Vorder- und Hinterkante der Messlinie bezogen
auf eine Nullposition angezeigt. Für Berechnungen
wird der jeweils für den Betroffenen günstigere Wert
verwendet.
Für die konkrete Abstands- und Geschwindigkeitsmes-
sung wird das Videobild angehalten und mit Hilfe der
Messlinie der Aufsetzpunkt der Vorderachse des Fahr-
zeuges des Betroffenen auf der Fahrbahnoberfläche di-
gitalisiert. Anschließend wird in demselben Videobild
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mit Hilfe der Messlinie der Aufstandspunkt der Vor-
derachse des vorausfahrenden Fahrzeugs digitalisiert.
Das System errechnet den für den Betroffenen güns-
tigsten Wert der Differenz zwischen den beiden Fahr-
zeugpositionen. Die Wiedergabe des Videobandes wird
fortgesetzt, bis die Fahrzeuge eine Strecke von min-
destens 25 Metern durchfahren haben. Nach erneutem
Anhalten des Videobandes wird mit der Messlinie eine
weitere Abstandsmessung durch Digitalisieren der Auf-
setzpunkte der Vorderachsen durchgeführt. Nach dieser
zweiten Abstandsmessung berechnet das System mit Hil-
fe des durch die Kodierung bekannten Zeitunterschie-
des der beiden Messungen die Geschwindigkeit des
Fahrzeugs des Betroffenen. Von der gemessenen Ge-
schwindigkeit wird bei einem Wert von unter 100 km/h
eine Toleranz von 3 km/h und bei einem Wert von über
100 km/h eine Toleranz in Höhe von drei Prozent des
Wertes abgezogen.
Schließlich wird die Fahrzeuglänge des vorausfahren-
den Fahrzeuges dadurch festgestellt, dass mit der
Messlinie die Hinterachse des vorausfahrenden Fahr-
zeuges digitalisiert wird.
Durch die jeweilige Digitalisierung der Aufsetzpunkte
der Reifen auf der Fahrbahnoberfläche werden Abstände
errechnet, die sich für den Betroffenen günstig aus-
wirken, weil keine weiteren Abzüge für die Überhänge
der Fahrzeuge vorgenommen werden. Aus der toleranzbe-
reinigten Geschwindigkeit und dem für den Betroffenen
günstigsten Abstandswert errechnet das System den dem
Betroffenen vorzuwerfenden Wert."
Mit dieser Beschreibung der Funktionsweise des vorlie-
genden Videomessverfahrens ist indes nichts darüber aus-
gesagt, ob eine verdachtsbezogene Anwendung möglich und
diese auch tatsächlich durchgeführt worden ist.
Die Verwaltungsvorschrift des Sächsischen Staatsministe-
riums des Innern zur Überwachung des Straßenverkehrs vom
01. April 1998
in
der
Fassung
der
VwV
vom
20. August 2003, Az.: 31-1132-10/66 sieht insoweit vor
(vgl. Anlage 4 "Überwachung des Sicherheitsabstandes zu
vorausfahrenden Fahrzeugen", Ziff. 2 "Einsatz von Ab-
standsmesstechnik/Allgemeine Regelungen"):
"Der Einsatz von Abstandsmesstechnik erfolgt grund-
sätzlich zur Überwachung des Verkehrs auf Bundesauto-
bahnen. Da auch eine Überschreitung der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit des zu messenden Fahrzeuges re-
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levant sein kann (z. B. auch in Tateinheit mit einem
Abstandsverstoß), ist vor und nach jedem Messeinsatz
zu prüfen, ob die gegebenenfalls vorhandenen ge-
schwindigkeitsregelnden Verkehrszeichen ordnungsgemäß
aufgestellt und zweifelsfrei erkennbar sind. Die in
den Bedienungsanleitungen der Hersteller von den Zu-
lassungsscheinen der Physikalisch-Technischen Bundes-
anstalt genannten Voraussetzungen (z. B. Einsatzgren-
zen und Toleranzwerte) sind beim Einsatz von Ab-
Bei
zu ahndender Verstöße ist aus
Gründen darauf zu achten,
quenz möglichst bereits
dung eines Abstands-
erforderlichen
ununterbrochene
ist zu vermeiden
nat).
Aus dieser Anweisung ergibt sich, dass der jeweilige
Messbeamte bei jeder Messung gehalten ist, das zur Ver-
fügung gestellte Gerät nur dann zu aktivieren, wenn ein
konkreter Anfangsverdacht, der sich insbesondere aus der
visuellen Beobachtung des Straßenverkehrs ergeben kann,
besteht. Nur wenn dies der Fall ist, also der Messbeamte
nach Beobachtung des Straßenverkehrs die Videoaufzeich-
nung ausschließlich dann aktiviert, wenn ein Verkehrs-
vorgang vorliegt, der den Verdacht einer Abstandsunter-
scheidung schon visuell beinhaltet, kommt § 100 h Abs. 1
Satz 1 Ziff. 1 StPO als Rechtsgrundlage in Betracht. Et-
was anderes würde nach obigen Grundsätzen gelten, wenn
der Messbeamte die Videoaufzeichnung ununterbrochen
durchlaufen ließe, so dass auch eine Vielzahl von sich
verkehrsgerecht verhaltenden Fahrern erfasst würde, um
dann diejenigen herauszufiltern, die verdächtig sind,
eine Ordnungswidrigkeit begangen zu haben. In diesem
Fall wäre ein Beweiserhebungsverbot gegeben, das in die-
ser Konstellation zwingend ein Beweisverwertungsverbot
zur Folge hätte. Der Senat folgt hierbei der Auffassung
des Oberlandesgerichts Oldenburg (Beschluss vom 27. No-
vember 2009, SsBs 186/09), dass in diesem Fall der Ver-
fahrensverstoß, der mit einem systematisch angelegten
Eingriff in die Grundrechte einer Vielzahl von Personen
verbunden wäre, sich als so schwerwiegend darstellen
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würde, dass hieraus auch ein Beweisverwertungsverbot
folgen würde.
Die Sache war an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Die-
ses wird zu klären haben, wie die Messung konkret durch-
geführt wurde. Von dieser Beweisaufnahme wird es abhän-
gen, ob § 100 h Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO i. V. m. § 46
Abs. 1 OWiG als Rechtsgrundlage für die Verkehrsüberwa-
chungsmaßnahme herangezogen werden kann oder ob ein Be-
weiserhebungsverbot anzunehmen ist, das zu einem Beweis-
verwertungsverbot führt.
(Denk) Denk
Richter
am Oberlandesgericht