Urteil des LSG Sachsen-Anhalt vom 10.08.2010

LSG San: verrechnung, hauptsache, nachzahlung, notlage, rechtsschutz, entlastung, beschränkung, niedersachsen, verfahrensmangel, geldleistung

Landessozialgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss vom 10.08.2010 (rechtskräftig)
Sozialgericht Magdeburg S 23 AS 2225/08 ER
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt L 5 B 584/08 AS ER
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten noch über eine Nachzahlung wegen der Kosten der Unterkunft (KdU) iHv 117,71 EUR, über
eine Verpflichtung der Antragsgegnerin, eine Bescheinigung zum Nachweis der Hilfebedürftigkeit des Antragstellers zu
1. zu fertigen und zusätzlich im Beschwerdeverfahren über die Nichtzahlung eines monatlichen "Überhangs" iHv
180,61 EUR.
Der Antragsteller zu 1. bezieht mindestens seit dem Jahr 2000 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit iHv rund 800
EUR. Im Mai 2007 wies die Deutsche Rentenversicherung Bund den Antragsteller zu 1. darauf hin, dass monatlich
100,00 EUR mit Beitragsforderungen der AOK verrechnet würden, da trotz mehrfacher Aufklärung und Anforderungen
nicht nachgewiesen worden sei, dass er durch die Verrechnung hilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des Zwölften
Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) oder des Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) werde. Soweit er bereits
aktuell Hilfe zum Lebensunterhalt oder Grundsicherungsleistungen beziehe, werde um Vorlage eines aktuellen
Leistungsbescheides gebeten. Sofern er erst durch die Verrechnung hilfebedürftig werde, sei dies durch eine aktuelle
Bedarfsbescheinigung des Sozialhilfeträgers nachzuweisen.
Die Antragstellerinnen zu 2. und 3. beziehen seit dem 1. Januar 2005 Leistungen nach dem SGB II. Im Oktober 2007
zogen die Antragsteller zusammen. Mit Änderungsbescheid vom 4. März 2008 bewilligte die Antragsgegnerin den
Antragstellern zu 2. und 3. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes einschließlich Leistungen für die KdU.
Sie ging dabei von dem Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft ab Januar 2008 aus und verteilte das Einkommen des
Antragstellers zu 1. aus der Rente auf alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft, wobei sie nicht den Zahlbetrag,
sondern den Rentenanspruch vor der Verrechnung zugrunde legte. In dem als Anlage beigefügten Berechnungsbogen
wird der Antragsteller zu 1. als Partner aufgeführt. In allen Feldern der tabellarischen Berechnung findet sich jedoch
bei dem Antragsteller zu 1. stets der Eintrag 0,00 EUR (sowohl bei den Leistungen als auch bei dem zu
berücksichtigendem Einkommen).
Am 17. März 2008 legte die Antragstellerin zu 2. Widerspruch ein und kritisierte zum einen die fehlerhafte Berechnung
der KdU sowie die Berücksichtigung der Rentenzahlungen an den Antragsteller zu 1. iHv 100,37 EUR als sonstiges
Einkommen. Es liege keine Bedarfsgemeinschaft vor. Ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren der Antragstellerin zu
2. vor dem Sozialgericht Magdeburg (SG) unter anderem wegen der KdU und eines "nachvollziehbaren
Bewilligungsbescheides" endete im April 2008 durch Rücknahme. Mit weiteren Bescheiden vom 23. Mai 2008, 3. Juni
2008 und 25. Juni 2008 berechnete die Antragsgegnerin die Leistungen für Februar 2008 und den Zeitraum vom 1. Mai
bis 31. Juli 2008 neu, ohne die Einwendungen zu berücksichtigen.
Am 5. August 2008 haben die Antragsteller bei dem SG im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens
beantragt, die Antragsgegnerin zu einer korrekten Ausfüllung der Berechnungsbögen für die Bedarfsgemeinschaft zu
verurteilen. Ferner seien die KdU falsch berechnet. Beigefügt haben sie eine Bescheinigung der Deutschen
Rentenversicherung Bund, wonach der Antragsteller zu 1. eine Rente zuzüglich Zuschusses zur Krankenversicherung
iHv 810,44 EUR bezogen hat. Im Laufe des Verfahrens hat der Antragsteller zu 1. Vollmachten vorgelegt, wonach er
berechtigt sei, die rechtlichen Interessen der Antragstellerinnen zu 2. und 3. in diesem Verfahren wahrzunehmen.
Mit Bescheid vom 15. August 2008 hat die Antragsgegnerin den Antragstellern insgesamt Leistungen iHv monatlich
320,55 EUR für den Zeitraum vom 1. September 2008 bis 28. Februar 2009 bewilligt.
Unter dem 10. Oktober 2008 hat die Antragsgegnerin die Leistungen u.a. ab dem 1. September 2008 bis 28. Februar
2009 neu berechnet. Es ergaben sich Gesamtleistungen iHv monatlich 399,71 EUR bzw. 390,55 EUR. Die
Antragsteller haben daraufhin mitgeteilt, dass die Berechnung zwar korrekt sei; sie vermissten aber eine Nachzahlung
bezüglich der KdU in den Monaten Juni und Juli 2008 iHv insgesamt 117,71 EUR. Ferner fehle weiterhin ein
nachvollziehbarer Berechnungsbogen. Es würden weiterhin 100,00 EUR von der Rentenkasse abgezogen, da kein
Nachweis der Hilfebedürftigkeit des Antragstellers zu 1. geführt werden könne.
Mit Beschluss vom 18. November 2008 hat das SG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung als
unzulässig verworfen und zur Begründung ausgeführt, es fehle an einem Rechtsschutzbedürfnis. Sinn eines
einstweiligen Rechtsschutzverfahrens sei es, eine gegenwärtige Notlage zu beseitigen. Die noch streitigen Zeiträume
bezüglich der Kosten der KdU lägen vor dem Zeitpunkt, zu dem der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz anhängig
gemacht worden sei. Eine aktuelle, gegenwärtige Notlage liege nicht vor.
Am 8. Dezember 2008 haben die Antragsteller hiergegen Beschwerde eingelegt und vorgetragen, es handele sich
nicht lediglich um die KdU für Juni und Juli 2008. Vielmehr gehe es hier auch um einen Betrag iHv 100,00 EUR, der
bis zur Tilgung von der Rente einbehalten würde. Unter dem 3. Februar 2009 hat die damalige Berichterstatterin darauf
hingewiesen, dass die Beschwerde unzulässig sei, da der Beschwerdewert 750,00 EUR nicht übersteige. Daraufhin
haben die Antragsteller erstmals vorgetragen, dass die Antragsgegnerin bis Juni 2009 einen unterschiedlichen
monatlichen "Überhang" einbehalten habe. Von Januar 2008 bis Juni 2009 seien ihnen so 1.391,90 EUR vorenthalten
worden. Auf weitere Nachfrage hat der Antragsteller zu 1. angegeben, er habe eigentlich nicht vor, mit der erstrebten
Bescheinigung eine Überprüfung der Rentenzahlung bei dem Rentenversicherungsträger zu beantragen.
Die Antragsteller beantragen,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache • einen Betrag von
1.391,90 EUR für den Zeitraum Januar 2008 bis Juni 2009 zu leisten, • 117,71 EUR Nachzahlung für die Kosten der
Unterkunft und Heizung für den Zeitraum Juni und Juli 2008 zu leisten und • eine nachvollziehbaren Berechnung zu
erstellen, die den Anforderungen der Rentenversicherung entspricht.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie verweist auf den Beschluss des Sozialgerichts.
Mit Bescheid vom 18. Juni 2010 hat die Deutsche Rentenversicherung Bund die Verrechnung der Rente des
Antragstellers zu 1. mit den Beitragsschulden auf monatlich 65,49 EUR herabgesetzt. Zur Begründung heißt es, die
Antragsgegnerin habe mitgeteilt, dass bei einer Minderung der Rente auf einen Betrag von unter 765,09 EUR/Monat
Hilfebedürftigkeit eintrete. Daher werde der Verrechnungsbetrag neu festgestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen
Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin ergänzend Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des SG vom 18. November 2008 ist ausgeschlossen und daher zu verwerfen.
Nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG in der hier maßgeblichen, seit dem 1. April 2008 gültigen Fassung ist die Beschwerde
in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ausgeschlossen, wenn in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig
wäre. Die ohne Übergangsregelung in Kraft getretene Ausschlussregelung ist auf das vorliegende Verfahren, welches
erst im August 2008 rechtshängig geworden ist, anzuwenden.
Die nach ihrem Wortlaut nicht völlig eindeutige Regelung des § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ist nach ihrer Systematik
dahingehend zu verstehen, dass die Beschwerde dann ausgeschlossen – und damit unzulässig – ist, wenn die
Berufung in der Hauptsache nicht Kraft Gesetzes ohne Weiteres zulässig wäre, sondern erst noch der Zulassung
bedürfte (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Beschluss vom 25. November 2008, Az.: L 5 B 341/08 AS ER;
so auch: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29. September 2008, Az. L 8 SO 80/08 ER; LSG Hamburg,
Beschluss vom 1. September 2008, Az. L 5 AS 79/08 NZB; Hessisches LSG, Beschluss vom 1. Juli 2008, Az. L 7
SO 59/08 AS ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 2. Juli 2008, Az. L 7 B 192/08 AS ER; alle zitiert nach
juris; ebenso: 4. Senat des LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 10. Oktober 2008, Az. L 4 B 17/08 KR ER).
Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers ist die zum 1. April 2008 in Kraft getretene Beschränkung der
Beschwerdemöglichkeit im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zur Entlastung der Landessozialgerichte erfolgt.
Dieser Zweck sollte durch die Anhebung des Schwellenwertes auf 750,00 EUR und durch die Einschränkung der
Beschwerde in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erreicht werden. Es entspräche daher dem
Entlastungswillen des Gesetzgebers nicht, wenn man eine fiktive Prüfung möglicher Zulassungsgründe und eine
hierauf gestützte Zulassung der Beschwerde durch die Sozialgerichte oder eine Nichtzulassungsbeschwerde, über
deren Zulässigkeit dann die Landessozialgerichte zu befinden hätten, unter Geltung des neuen Rechts anerkennen
würde. Der erstrebte Entlastungseffekt wird nur dann erreicht, wenn sich die Zulässigkeit der Beschwerde im
einstweiligen Rechtsschutzverfahren ohne weiteres aus dem Beschwerdewert oder der Art und Dauer der im Streit
stehenden Leistungen ergibt (§ 144 Abs. 1 SGG). Hinzu kommt, dass die in § 144 Abs. 2 SGG aufgeführten
Zulassungsgründe erkennbar auf das Hauptsacheverfahren zugeschnitten und auf das Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes nicht übertragbar sind. Eine fiktive Prüfung ist schon deshalb nicht sinnvoll, weil nicht klar ist, ob es
ein Hauptsacheverfahren geben und wie dieses ggf. entschieden werden wird. Die Prüfung der Zulassungsgründe
Divergenz (§ 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG) und Verfahrensmangel (§ 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG) sind bereits tatsächlich nicht
möglich. Auch eine fiktive Prüfung der grundsätzlichen Bedeutung der Hauptsache (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG) ist
wegen der unterschiedlichen Funktion von Hauptsache- und Eilverfahren nicht sachgerecht, denn die Entscheidungen
sind weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht deckungsgleich. Da es im einstweiligen Rechtsschutz
maßgeblich darum geht, "vorläufige" Regelungen zu treffen, werden Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung
gerade nicht abschließend beantwortet. Schließlich wird in der Regelung des § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG nicht auf die
Zulassungsbedürftigkeit der Berufung oder die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde (§§ 144, 145 SGG)
verwiesen, was auch regelungssystematisch gegen deren Anwendbarkeit spricht.
Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG ist die Berufung zulässig bei einer Klage, die eine Geldleistung oder einen
hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 EUR übersteigt. Wie
den Antragstellern mitgeteilt wurde, beträgt der Beschwerdewert hier maximal 717,72 EUR (Nachzahlung iHv 117,72
EUR zuzüglich der wirtschaftlichen Folgen der fehlenden Bescheinigung für die Verrechnung bei der Deutschen
Rentenversicherung Bund iHv 100,00 EUR für einen Zeitraum von maximal sechs Monaten).
Der Wert des Beschwerdegegenstandes ist danach zu bestimmen, welche der beantragten Leistungen das SG dem
Rechtsmittelführer versagt hat und was von diesem mit seinen Beschwerdeanträgen noch weiterverfolgt wird (vgl.
Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer: SGG, 9. Aufl. 2008, § 144 RN 14). Maßgeblicher Zeitpunkt ist der der
Einlegung des Rechtsmittels. Ein späteres Sinken oder eine spätere Erhöhung des Beschwerdewerts sind bei der
Prüfung der Wertgrenze nicht zu berücksichtigen (vgl. Leitherer, a.a.O. RN 19, 20). Der angebliche monatliche
"Überhang" mit einem geltend gemachten Zahlungsanspruch iHv 1391,90 EUR kann daher nicht berücksichtigt
werden. Diesen haben die Antragsteller erstmals im Beschwerdeverfahren erwähnt, so dass es sich um eine spätere
Erweiterung des ursprünglichen Streitgegenstandes handelt.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes "Erstellung einer korrekten Bescheinigung" ist trotz seiner Dauerwirkung auf
maximal 600 EUR begrenzt. Die Leistungen nach dem SGB II sind keine wiederkehrenden oder laufende Leistungen
iSv § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG. Die einzelnen Bewilligungsabschnitte bilden selbstständige prozessuale Ansprüche mit
der Folge, dass grundsätzlich für jeden einzelnen Anspruch die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Berufung
gegeben sein müssen (vgl. BSG, Urteil vom 7. November 2006, B 7b AS 14/06 R, juris). Sie fließen zwar aus einem
einheitlichen Rechtsverhältnis und kehren in regelmäßigen Abständen wieder (vgl. Leitherer, a.a.O., § 144, RN 22,
23). Sie beruhen aber nicht auf einem einheitlichen Stammrecht. Bei der Zeitberechnung kommt es jedoch auf den
Bestimmungszeitraum, nicht auf den Zahlungszeitraum an (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., § 144, RN 24).
Ansprüche ergeben sich jeweils nach einer gesonderten Prüfung der Voraussetzungen zu Beginn eines jeweiligen
Bewilligungsabschnitts. Diese Bewilligungsabschnitte beruhen nicht auf demselben Entstehungsgrund i.S. eines
Stammrechts. Vielmehr sind alle Voraussetzungen der Ansprüche in jedem Bewilligungsabschnitt voneinander
unabhängig neu zu prüfen. Der Anspruch entsteht jeweils neu. Er richtet sich nicht nach den Voraussetzungen, die zu
Beginn des erstmaligen Leistungsbezugs gegeben waren (vgl. z. Vorstehenden: Beschluss des Senats vom 13. Mai
2009, Az.: L 5 AS 17/09 B juris). Selbst wenn man hier auf einen Zeitraum von sechs Monaten abstellen würde,
ergäbe sich nur ein Wert von insgesamt 600 EUR.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Dieser Beschluss kann
nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).