Urteil des LSG Sachsen vom 18.08.2008

LSG Fss: wörtliche auslegung, historische auslegung, teleologische auslegung, hauptsache, rechtsmittelbelehrung, auflage, entlastung, vertrauensschutz, niedersachsen, beschwerderecht

Sächsisches Landessozialgericht
Beschluss vom 18.08.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Chemnitz S 12 AS 1343/08
Sächsisches Landessozialgericht L 2 B 411/08 AS-PKH
Die Beschwerde der Kläger gegen den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 21.04.2008 wird verworfen.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das erstinstanzliche Verfahren.
Insbesondere ist jedoch im Beschwerdeverfahren streitig, ob die Beschwerde der Kläger statthaft ist.
Das Sozialgericht Chemnitz (SG) hat den Klägern mit Beschluss vom 21.04.2008 für das erstinstanzliche Verfahren
PKH bewilligt, Rechtsanwalt X beigeordnet und bestimmt, dass Monatsraten in Höhe von 30,00 EUR zu zahlen sind.
Nach der dem Beschluss beigefügten Rechtsmittelbelehrung sei hiergegen die Beschwerde statthaft.
Gegen den, den Prozessbevollmächtigten der Kläger am 23.04.2008 zugestellten Beschluss haben diese am
19.05.2008 beim SG Beschwerde eingelegt, die am 27.05.2008 beim Sächsischen Landessozialgericht eingegangen
ist. Darin begehren sie eine ratenfreie Bewilligung von PKH.
Der Beschwerdegegner ist der Auffassung, ob die Beschwerde – entgegen der Rechtsmittelbelehrung im Beschluss
des SG – wegen des zum 01.04.2008 in Kraft getretenen Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des
Arbeitsgerichtsgesetzes zulässig ist, sei durch den Senat zu entscheiden. § 172 Abs. 3 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz
(SGG) in der ab 01.04.2008 geltenden Fassung bestimme, dass die Beschwerde dann ausgeschlossen ist, wenn die
Ablehnung der PKH ausschließlich wegen der persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse erfolgt ist. Das SG habe
den Klägern – wenngleich nur unter Festsetzung von Raten – PKH bewilligt. Allenfalls liege hier eine Ablehnung
ratenfreier PKH-Bewilligung vor.
Dem Senat liegen die Verfahrensakten beider Instanzen sowie die Verwaltungsakte der Beklagten vor. Ihr Inhalt war
Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung.
II.
Die Beschwerde ist nicht zulässig. Daher war sie zu verwerfen.
Die Beschwerde ist nicht statthaft. Gem. § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des
Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.03.2008 (BGBl. I S. 444) ist die Beschwerde gegen
die Ablehnung von PKH seit 01.04.2008 ausgeschlossen, wenn das Gericht ausschließlich die persönlichen oder
wirtschaftlichen Voraussetzungen für die PKH verneint.
1. Der Inhalt der Norm ist nicht eindeutig. In der Rechtsprechung und der Literatur existieren unterschiedliche
Auffassungen zur Auslegung dieser Norm.
a) Das LSG Rheinland-Pfalz (Beschluss vom 05.06.2008 – L 5 B 138/08 KR –, zitiert nach Juris, Rdnr. 4) ist der
Auffassung, dass die Neufassung des § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG auch Beschwerden gegen eine Bewilligung von PKH
unter Festsetzung von Raten erfasst. Da die Entscheidung des SG eine Teilablehnung der PKH darstelle, lasse der
Wortlaut der Vorschrift eine solche Auslegung zu. Es wäre schwer verständlich, wenn die teilweise Ablehnung der
PKH beschwerdefähig wäre, obwohl die vollständige Ablehnung der PKH nicht mit der Beschwerde angreifbar wäre.
Hierfür spreche auch der Sinn und Zweck der Neuregelung des § 172 SGG im oben genannten Änderungsgesetz, der
auf die Entlastung der Landessozialgerichte abziele (Bundesrats-Drucks 820/07, S. 28). Der Gesetzgeber habe die
Beschwerdemöglichkeit gegen die Ablehnung von PKH insgesamt nicht weiterhin eröffnen wollen, soweit es allein um
die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten gehe. Die Beschwerde habe vielmehr nur noch dann
zulässig sein sollen, wenn das SG die Erfolgsaussichten in der Hauptsache verneint habe (BR-Drucks 820/07, S. 29).
b) Das LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 11.06.2008 – L 19 B 851/08 AS PKH – zitiert nach Juris, Rdnr. 4 ff.;
Beschluss vom 05.06.2008 – L 28 B 852/08 AS PKH –, zitiert nach Juris, Rdnrn. 3 ff.) sieht die Beschwerde im Falle
der ratenweisen Bewilligung durch das SG hingegen als nicht ausgeschlossen an, weil das SG nicht PKH abgelehnt,
sondern – unter Festsetzung von Raten – bewilligt habe. Es fehle somit an der Eingangsvoraussetzung des § 172
Abs. 3 Nr. 2 SGG. Auch die Auslegung der Norm nach ihrer Entstehungsgeschichte, dem Gesamtzusammenhang
und dem Sinn und Zweck führe zu keinem anderen Ergebnis. Nach der Gesetzesbegründung solle die Ablehnung von
PKH nur mit der Beschwerde angefochten werden können, wenn die Erfolgsaussichten in der Hauptsache vom
Gericht verneint wurden (BT-Drucks 16/7716, S. 27). Demnach möge vom Gesetzgeber durchaus gewollt gewesen
sein, dass die Beschwerde in allen Fällen ausgeschlossen sein soll, in denen allein die persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnisse vom SG zu prüfen sind. Für das LSG Berlin-Brandenburg sei jedoch nicht erkennbar, ob
der Gesetzgeber die Fallkonstellation der Bewilligung von PKH unter Festsetzung von Raten bei der Verabschiedung
des § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG bedacht habe. Ein bloß mutmaßlicher Wille des Gesetzgebers sei jedoch schon aufgrund
des Gebots der Rechtsmittelklarheit (BVerfGE 48, 148) für die Auslegung des § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG nicht erheblich.
Im Übrigen stehe die Auslegung nah am Wortlaut in Übereinstimmung mit den Regelungen der Zivilprozessordnung
(ZPO). Auch hier könne gemäß § 127 Abs. 2 ZPO bei der Belastung mit Raten die Beschwerde eingelegt werden.
c) In der Literatur wird – allerdings ohne Begründung – davon ausgegangen, dass auch im Falle der erstinstanzlichen
Bewilligung von PKH unter Festsetzung von Raten die Beschwerde ausgeschlossen ist (Becker, SGb 2008, 267, 270;
Burbiczak, ZFSH/SGB 2008, 323, 330; Gabbert, Kompass 3/4 2008, S. 10, 15; vgl. auch Leitherer, NJW 2008, S.
1261; Tabbara, NZS 2008, S. 8, 16).
2. Unter Berücksichtigung der genannten Auffassungen in Rechtsprechung und Literatur erachtet der Senat im Falle
der erstinstanzlichen Bewilligung von PKH unter Festsetzung von Raten die Beschwerde nach der Neuregelung des §
172 Abs. 3 Nr. 2 SGG für nicht statthaft.
a) Bei der Auslegung der Norm bildet der aus dem allgemeinen Sprachgebrauch, dem besonderen Sprachgebrauch
des Gesetzes und dem allgemeinen juristischen Sprachgebrauch zu entnehmende Wortsinn den Ausgangspunkt und
bestimmt zugleich die Grenze der Auslegung (Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage, S.
163 ff.). Dabei gehen dem allgemeinen Sprachgebrauch der besondere Sprachgebrauch des Gesetzes und der
allgemeine juristische Sprachgebrauch vor (Larenz/Canaris, a.a.O., S. 145, 164).
Zwar lässt die wörtliche Auslegung des § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG zwei Ergebnisse zu. Zum einen kann die Norm nach
dem allgemeinen Sprachgebrauch derart verstanden werden, dass die Beschwerde lediglich gegen die vollständige
Ablehnung von PKH ausgeschlossen ist. Dafür spricht, dass nach allgemeinem Sprachgebrauch das erstinstanzliche
Gericht lediglich in diesem Falle "die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen" für die PKH "verneint".
Andererseits lässt die Wortauslegung zu, dass die Beschwerde gegen die vollständige oder teilweise Ablehnung von
PKH ausgeschlossen ist, wenn das Gericht ausschließlich die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen für
eine dem Antrag des Klägers (der regelmäßig auf ratenfreie Bewilligung von PKH gerichtet ist) entsprechende PKH-
Bewilligung verneint. Hierfür spricht der juristische Sprachgebrauch. Die Formulierung "das Gericht hat ausschließlich
die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Prozesskostenhilfe verneint" findet sich auch in § 127
Abs. 2 Satz 2 ZPO. § 127 Abs. 2 Satz 2 letzte Alternative ZPO räumt im Falle der Ablehnung der Bewilligung von
PKH das Recht zur sofortigen Beschwerde ein. Das gilt lediglich dann nicht, wenn der Streitwert der Hauptsache den
in § 511 ZPO genannten Betrag von 600,00 EUR nicht übersteigt, es sei denn, dass das Gericht ausschließlich die
persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen für die PKH verneint.
In Literatur und Rechtsprechung zur ZPO herrscht Einigkeit, dass der genannte Tatbestand des § 127 Abs. 2 Satz 2
letzte Alternative ZPO erfüllt ist, wenn die persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse für die PKH ganz oder
teilweise verneint werden. Nur wenn die Ablehnung der PKH (auch) auf fehlende Erfolgsaussichten gestützt ist, muss
der Streitwert der Hauptsache über 600,00 EUR liegen (Reichhold, in: Thomas/Putzo, ZPO, 27. Auflage, § 127 Rdnr.
3; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 66. Auflage, § 127 Rdnrn. 35, 38; Philippi, in: Zöller, ZPO, 26.
Auflage, § 127 Rdnr. 10a, jeweils unter Verweis auf die einschlägige Rechtsprechung).
Eine Verneinung der persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen für die PKH wird folglich nach dem sich aus
der Rechtsprechung und Schrifttum zur ZPO übereinstimmend ergebenden juristischen Sprachgebrauch
angenommen, wenn die persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse ganz oder teilweise verneint werden.
b) Die historische Auslegung unter Berücksichtigung der Regelungsabsicht des Gesetzgebers (Larenz/Canaris,
a.a.O., S. 149) spricht für einen Ausschluss der Beschwerde auch im Falle der Bewilligung von PKH unter
Festsetzung von Raten. Der Gesetzgeber beabsichtigte ausweislich des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung (BR-
Drucks 820/07, S. 29), dass ein Beschwerderecht nur noch dann bestehen sollte, wenn die Erfolgsaussichten in der
Hauptsache verneint wurden.
c) Die teleologische Auslegung, nach der Rechtssätze im Rahmen ihres möglichen Wortlautes so auszulegen sind,
dass Wertungswidersprüche vermieden werden, die folglich auf eine ausgewogene Regelung abzielt (Larenz/Canaris,
a.a.O., S. 155), spricht ebenfalls dafür, dass die Beschwerde im Falle einer erstinstanzlichen Bewilligung von PKH
unter Festsetzung von Raten ausgeschlossen ist. Es führte nämlich – wie auch vom LSG Rheinland-Pfalz (Beschluss
vom 05.06.2008, a.a.O.) ausgeführt – zu Wertungswidersprüchen, wenn eine teilweise Ablehnung von PKH im Falle
der Bewilligung unter Festsetzung von Raten beschwerdefähig wäre, obwohl die vollständige Ablehnung von PKH
nicht mit der Beschwerde angefochten werden könnte. Es wäre nicht verständlich, weshalb ein Kläger, dessen Antrag
auf PKH aufgrund seiner persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse teilweise abgelehnt wurde, besser stehen
sollte als einer, der durch die vollständige Ablehnung stärker beschwert ist. Es wäre ferner – angesichts des mit dem
Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes beabsichtigten nachhaltigen
Entlastung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit (Empfehlungen der Ausschüsse zu oben genanntem Gesetz, BR-
Drucks 820/1/07, S. 2; Stellungnahme des Bundesrats zu oben genanntem Gesetz, BR-Drucks 820/07, S. 2;
Gesetzentwurf der Bundesregierung, BR-Drucks 820/07, S. 1, 2) – nicht nachvollziehbar, weshalb den
Beschwerdegerichten der Sozialgerichtsbarkeit eine Prüfung der persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse im
Falle der teilweisen Ablehnung obliegen sollte, obwohl eine solche bei einer vollständigen Ablehnung ausgeschlossen
wäre. Eine spürbare Entlastung der Beschwerdegerichte der Sozialgerichtsbarkeit tritt nur dann ein, wenn eine
Beschwerde nur noch statthaft ist, wenn die Erfolgsaussichten der Hauptsache abgelehnt wurden.
3. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der nach Auffassung des Senats unrichtigen Rechtsmittelbelehrung im
Beschluss des SG. Durch die Rechtsmittelbelehrung allein haben die Kläger keine schützenswerte
verfahrensrechtliche Position erworben. Vertrauensschutz kann lediglich derjenige geltend machen, der bereits vor
Änderung des Verfahrensrechts durch Einlegung einer – damals – statthaften Beschwerde eine gewichtige
verfahrensrechtliche Position erworben hatte (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.05.2008 – L 23 B 89/08
SO; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.06.2008 – L 8 B1/08 KG –, zitiert nach Juris, Rdnr. 5). Es kann
offen bleiben, ob eine veraltete Rechtsmittelbelehrung dann einen derartigen Vertrauensschutz bewirken kann, wenn
der Betroffene, der noch rechtzeitig unter Geltung des alten Rechts das Rechtsmittel hätte einlegen können, auf die
veraltete Rechtsmittelbelehrung der erstinstanzlichen Entscheidung vertraut hat (vgl. hierzu u. a. LSG Berlin-
Brandenburg, Beschluss vom 02.02.2008 – L 32 B 758/08 AS –; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom
26.06.2008 – L 8 B1/08 KG –, zitiert nach Juris, Rdnr. 5).
Die Kläger hatten vorliegend im Zeitpunkt der Rechtsänderung gerade keine schützenswerte verfahrensrechtliche
Position inne, die ihnen mit der Rechtsänderung rückwirkend genommen worden wäre.
Nach alledem war die Beschwerde der Kläger zu verwerfen.
4. Der Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.