Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 31.08.2006

LSG NRW: behandlung im ausland, innere medizin, rechtliches gehör, körperliche untersuchung, ärztliches gutachten, krankenkasse, russland, therapie, reisekosten, krankheit

Landessozialgericht NRW, L 16 (5,2) KR 74/02
Datum:
31.08.2006
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 16 (5,2) KR 74/02
Vorinstanz:
Sozialgericht Münster, S 8 (2) KR 5/01
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 1 KR 131/06 B
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster
vom 11. März 2002 wird zurückgewiesen. Die Klage bezüglich der
Kostenerstattung für die Behandlung von September / Oktober 2002
(nebst Reisekosten) wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Kosten dreier
Elektrostimulationstherapie-Einheiten einschließlich Reisekosten. Der Kläger hat sich in
der Zeit vom 05.06.2001 bis zum 03.07.2001, vom 14.01.2002 bis zum 14.02.2002
sowie vom 19.09.2002 bis zum 09.10.2002 im staatlichen Rehabilitationszentrum in N /
Russland durch Prof. B W behandeln lassen. Bei der Elektrostimulationstherapie wird
bei Querschnittgelähmten und anderen Gehbehinderten mit Hilfe eines kurzen
Stromimpulses eine Muskelzuckung ausgelöst, die bei einer hohen Wiederholungsrate
zu einer Dauerkontraktion des Muskels führt. Dadurch sollen die verloren gegangenen
Funktionen des Stehens, Gehens und Laufens wiederhergestellt bzw. verbessert
werden.
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Der Kläger ist am 00.00.1948 geboren. Er leidet an einer schweren motorisch-spinalen
Querschnittssymptomatik mit schwerer Kyphoskoliose bei Zustand nach
Aufrichtungsoperation im Jahre 1983. Seit Oktober 1981 ist bei ihm ein Grad der
Behinderung (GdB) von 100 sowie das Vorliegen der Voraussetzungen der
Merkzeichen "G" (erhebliche Gehbehinderung), "aG" (außergewöhnliche
Gehbehinderung), "H" (hilflos) und "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht)
festgestellt. Am 11.01.2001 beantragte er bei der Beklagten zunächst die Übernahme
der Kosten für eine Beratung und Untersuchung durch Prof. W in N sowie der
Reisekosten für ihn selbst sowie für eine Begleitperson. Zur Begründung bezog er sich
auf ein Attest seines behandelnden Hausarztes Dr. T, Arzt für Allgemeinmedizin aus N,
vom 22.12.2000, der die Behandlung des Klägers mittels modifizierter
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Elektrostromtherapie in N befürwortete.
Nach Einholung einer Stellungnahme des N1 X lehnte die Beklagte mit Bescheid vom
14.03.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2001 die
Kostenübernahme ab. Die Voraussetzungen des § 18 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch
Fünftes Buch (SGB V) lägen nicht vor. Einer Behandlung im Ausland bedürfe es nicht.
Vielmehr sei die Erkrankung des Klägers einer dem allgemein anerkannten Stand der
medizinischen Erkenntnisse entsprechenden Behandlung in Deutschland zugänglich,
beispielsweise in der neurologischen Universitäts-Klinik in N. Zudem stelle die
Elektrostimulationstherapie nach W eine alternative Behandlungsmethode dar, deren
therapeutische Wirksamkeit nicht nachgewiesen sei. Auch habe sich die Methode in der
medizinischen Praxis nicht durchgesetzt.
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Am 25.05.2001 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Münster erhoben. Er hat geltend
gemacht, mit Behandlungen in der Universitätsklinik in N habe er in der Vergangenheit
sehr schlechte Erfahrungen gemacht; sein Gesundheitszustand habe sich jeweils
verschlimmert. Auch Behandlungen in N, L, I, Bad X1, in M und O seien ohne
nennenswerten Erfolg verlaufen. Unter Bezugnahme auf eine beigefügte
Videoaufzeichnung des Fernseh-Wissenschaftsmagazins "Galileo" vom 21.11.2000 und
ein weiteres befürwortendes Attest von Dr. T vom 23.05.2001 hat er weiter vorgetragen,
von der angestrebten Behandlung in N sei eine komplette Erholung der beschädigten
Motorik im Bereich der Wirbelsäule zu erwarten. In Deutschland gebe es ein
entsprechendes Therapieangebot nicht.
5
Nach Durchführung der ersten beiden Therapieeinheiten in N hat er an Stelle der
Sachleistung Erstattung der durch entsprechende Belege nachgewiesenen Kosten
erstrebt. Unter Bezugnahme auf medizinische Unterlagen des Föderalen
Wissenschaftlichen Zentrums für sozialmedizinische Gutachten und Rehabilitation hat
er den individuellen Erfolg der Behandlung als weiteres Argument für die Verpflichtung
der Beklagten zur Kostentragung herangezogen. Er sei zum Zeitpunkt der
Erstuntersuchung am 05.06.2001 mühsam an zwei Gehhilfen gelaufen. Nach täglich 19
Elektrostimulationen verschiedenster Muskeln hätten sich eine Verbesserung der
Stabilität und Gehgeschwindigkeit von 0,86 km/h auf 2,02 km/h, der Schrittlänge von
0,67 m auf 1,22 m, des Schritttempos von 43 Schritten/min auf 55 Schritte/min, eine
Normalisierung der kinematischen Charakteristik des Ganges in Form von Reduzierung
des ausgeprägten Einknickens der Beine in den Kniegelenken, Verbesserung des
Hüftwinkels sowie eine Verstärkung der Muskelfunktionen ergeben. Die Behandlung
nach W entlaste die Beklagte in der Zukunft von erheblichen weiteren
Behandlungskosten.
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Der Kläger, der die Beklagte jeweils vorab über die bevorstehenden
Behandlungsabschnitte unterrichtet hatte, hat beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 14.03.2001 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 08.05.2001 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,
an ihn die Kosten für eine zweimalige Behandlung in 2001 und 2002 im Ausland in
Form der Elektrostromtherapie in N/ Russland in Höhe von insgesamt 4.100 EUR zu
erstatten.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat den angefochtenen Bescheid als rechtmäßig erachtet und sich auf das bisherige
Vorbringen bezogen. Auf die Erzielung guter Behandlungsergebnisse im Einzelfall
lasse sich ein Anspruch auf Sachleistung bzw. Kostenerstattung nicht stützen.
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Ergänzend hat das Sozialgericht per Internet Auskünfte über Prof. Dr. W sowie Berichte
über die Behandlung von Querschnittslähmungen bei Elektrostimulation der gelähmten
Muskeln u. a. im Rahmen des Projektes der Orthopädischen Universitätskliniken in I1
eingeholt.
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Mit Urteil vom 11.03.2002 hat das Sozialgericht sodann die Klage abgewiesen. Ein
Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 13 Abs. 3 SGB V bestehe nicht; denn bereits
die Voraussetzungen des § 18 Abs. 1 SGB V seien nicht erfüllt. Die
fachwissenschaftlich nicht als anerkannt anzusehende Behandlungsmethode von Prof.
Dr. W lasse sich in ihrer Wirksamkeit und in ihren Risiken nicht abschließend bewerten.
Es reiche nicht aus, dass im Einzelfall Behandlungserfolge erzielt worden seien, die
sich jedoch wissenschaftlich nicht verifizieren ließen und statistisch nicht sicher belegt
seien. Der Kläger könne im Übrigen mit anerkannten Behandlungsmethoden auch im
Inland zumutbar therapiert werden. Experimentell werde an der Orthopädischen
Universitätsklinik I1 im Rahmen eines Forschungsvorhabens die funktionelle
Elektrostimulation als neuartige Behandlungsmethode seit 1998 u. a. zur Unterstützung
eingeschränkter Gehfunktionen der unteren Extremitäten von querschnittsgelähmten
Patienten angeboten. Eine Behandlung der Krankheiten des Klägers könne mit
herkömmlichen Methoden aber auch u. a. an der Neurologischen Klinik der X2 X3-
Universität in N, an der Klinik für manuelle Therapie in I2 oder auch an anerkannten
Fachkliniken, wie den berufsgenossenschaftlichen Unfallkliniken in E und G erfolgen.
Im Übrigen bestehe kein Anhaltspunkt dafür, dass keine andere
Behandlungsmöglichkeit in Betracht komme. Da eine Kostenübernahme für die
Hauptleistung – Elektrostimulationstherapie – nicht in Betracht komme, gelte dasselbe
für die geltend gemachten Reisekosten.
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Gegen das seinem damaligen Prozessbevollmächtigten am 20.03.2002 zugestellte
Urteil hat der Kläger am 15.04.2002 Berufung eingelegt.
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Zur Begründung trägt er ergänzend vor, auf die an der Orthopädischen Universitätsklinik
I1 im Rahmen eines Forschungsvorhabens angewendete Elektrostimulation bei
Querschnittsgelähmten könne er nicht verwiesen werden. Zum einen sei die dort
praktizierte Methode nicht ausgereift; zum anderen bestünden sehr lange Wartelisten. In
Deutschland habe er, wie die Vergangenheit zeige, nicht die Möglichkeit, gesund zu
werden. Dagegen könne die Elektrostimulationstherapie nach W auf eine ca. 30-jährige
Tradition und entsprechende Heilungserfolge zurückblicken. Ergänzend bezieht er sich
auf ein ärztliches Gutachten von Dr. M1, Facharzt für Innere Medizin aus N, vom
25.05.2003. Dieser sieht im Falle des Klägers keine andere adäquate Behandlung als
die Elektrostimulationstherapie nach W, die ihm aus seiner früheren Tätigkeit in
Russland bekannt sei. Bezüglich der dritten Therapieeinheit, der sich der Kläger in der
Zeit vom 16.09.2002 bis zum 12.10.2002 unterzogen hat, hat dieser vorgetragen, es sei
erneut zu einer entscheidenden Verbesserung seiner Mobilität gekommen. Wie die
entsprechenden medizinischen Unterlagen belegten, sei es durch die Therapie zu einer
Steigerung der elektrischen Muskelaktivität in den unteren Extremitäten gekommen.
Dies habe eine Erhöhung der Stützfertigkeit und der Stabilität beim Gehen zur Folge
15
gehabt. Nach täglichen Elektrostimulationen hätten sich folgende Veränderungen
ergeben: Verbesserung der Stabilität und Gehgeschwindigkeit von 1,08 km/h auf 1,33
km/h (1. Behandlung im Juni/Juli 2001: von 0,86 km/h auf 2,02 km/h), der Schrittlänge
von 0,70 m auf 0,73 m (0,67 m auf 1,22 m), des Schritttempos von 52,3 Schritten/min auf
59,8 Schritte/min (43 Schritten/min auf 55 Schritte/min), Normalisierung der
kinematischen Charakteristik des Ganges und Reduzierung des ausgeprägten
Einknickens der Beine in den Kniegelenken, Verbesserung des Hüftwinkels sowie
Verstärkung der Muskelfunktionen.
Der Kläger, der zu dem Termin zur mündlichen Verhandlung ordnungsgemäß geladen
worden, aber nicht erschienen ist, beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
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das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 11.03.2002 zu ändern und den Bescheid der
Beklagten vom 14.03.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2001
aufzuheben sowie die Beklagte zu verurteilen, an ihn insgesamt 6.150,00 EUR für die
Kosten dreier sog. Elektrostimulationstherapien nach W am staatlichen
Rehabilitationszentrum in N/Russland in den Jahren 2001 und 2002 einschließlich
Reisekosten zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts N vom 11.03.2002
zurückzuweisen.
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Sie erachtet das erstinstanzliche Urteil als zutreffend.
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Mit Beschlüssen vom 07.06.2002, 11.06.2003 und 10.01.2005 haben der zunächst
zuständige 5. bzw. der 2. Senat des LSG NRW die Anträge des Klägers auf Bewilligung
von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts mit Hinweis auf fehlende
Erfolgsaussichten abgelehnt.
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Ergänzend hat der Senat Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte eingeholt.
In seinem Befundbericht vom 28.11.2003 hat Dr. M1 mitgeteilt, die Behandlung im
Rehabilitationszentrum in N habe zu einer Verbesserung der Sensibilität und
Feinmotorik geführt. Seit dem Behandlungsabbruch sei wieder eine Verschlechterung
eingetreten. Dr. N2 I3, Arzt für Neurologie und Psychiatrie aus N, hat unter dem
11.12.2003 als zusätzliche Erkrankung u. a. ein hirnorganisches Psychosyndrom
diagnostiziert. Durch das subjektive Gefühl der Besserung nach erfolgter Behandlungen
in N habe sich im Sinne eines Placeboeffektes die psychische Situation des Klägers
verbessert. Schließlich hat Dr. L1, Arzt für Orthopädie aus N, unter dem 14.01.2004 ein
mühsames, deutlich verschlechtertes Gangbild bei dem Kläger beschrieben, der an
zwei Unterarmgehstützen eine maximale Strecke von 100 bis 200 m zurücklegen könne.
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Nachdem der Kläger eine körperliche Untersuchung verweigert hatte, hat der Senat ein
neurologisches Gutachten von Prof. Dr. U, Arzt für Neurologie und Nervenheilkunde,
Leitender Oberarzt der Neurologischen Universitätsklinik C-Kliniken C1 in C2 eingeholt.
In seinem Gutachten vom 23.01.2006 hat der Sachverständige unter Auswertung aller
vorliegenden medizinischen Berichte folgende Diagnose gestellt: Sensomotorisches
Querschnittssyndrom Sub-Th 7 – 9 mit inkompletter spastischer Paraparese und
Blasenmastdarmstörungen. Primär sei die Querschnittslähmung mit einer
konsequenten, regelmäßigen Krankengymnastik zu behandeln; gegebenenfalls könnten
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zusätzlich neuartige, zum Teil computergestützte Therapieverfahren auf experimenteller
Basis zum Einsatz kommen, die auch in Deutschland, z. B. in den Zentren für
Rückenmarksverletzte, zur Verfügung stünden. Die von Prof. Dr. W in N angebotene
Behandlungsmethode entspreche nicht dem allgemein anerkannten Stand der
medizinischen Wissenschaft. Die Therapie werde in Deutschland nicht in gleicher
Weise angeboten, sondern nur von ihm selbst in N. In Deutschland würden andere
Geräte für die funktionelle Rehabilitation von Querschnittsgelähmten angeboten. Ein
hirnorganisches Psychosyndrom schränke die Durchführung einer häuslichen
Elektrostimulationstherapie ohnehin massiv ein. Welche Behandlung im Einzelnen für
den Kläger in Betracht komme, könne nur nach einer körperlicher Untersuchung
entschieden werden.
In einer ergänzenden Stellungnahme vom 16.05.2006 hat der Sachverständige
Folgendes ergänzt: Der Umstand, dass Prof. Dr. W die Elektrostimulationstherapie seit
ca. 30 Jahren anwende und darüber, wenn auch in eingeschränktem Maße, publiziere,
sich diese aber dennoch noch nicht als Standardtherapie etabliert habe, zeige deutlich,
dass es sich weiterhin um ein experimentelles Verfahren handele.
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Wegen der weiteren Einzelheiten der Sach- und Rechtslage und des Vorbringens der
Beteiligten im Einzelnen wird auf den Inhalt der Prozess- sowie der Verwaltungsakte der
Beklagten Bezug genommen, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der
mündlichen Verhandlung und Entscheidung waren.
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Entscheidungsgründe:
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Obgleich für den Kläger zur mündlichen Verhandlung niemand erschienen ist, hat der
Senat verhandeln und entscheiden können; denn der Kläger ist - mit Hinweis auf diese
Möglichkeit - ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung am 31.08.2006 geladen
worden (§ 153 Abs. 1 i. V. m. § 110 Abs. 1 SGG, § 126 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Es hat kein Anlass bestanden, die mündliche Verhandlung zu vertagen. Der Kläger hat
um Terminsverlegung nicht ersucht und er hatte hinreichend Gelegenheit, sich
schriftsätzlich rechtliches Gehör zu verschaffen.
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Soweit der Kläger erneut Richter wegen der Besorgnis von Befangenheit ablehnt, hat
dies den Senat ebenfalls nicht hindern können, in der Sache zu verhandeln und zu
entscheiden. Das Gesuch ist ersichtlich rechtsmissbräuchlich. Es ist allein der
Erzwingung einer dem Kläger günstigen Entscheidung zu dienen bestimmt. Gründe, die
auch nur entfernt für die Möglichkeit sprechen könnten, der Kläger könne Anlass haben,
eine Voreingenommenheit der Richter anzunehmen (vgl. zuletzt den Beschluss des 5.
Senats vom 07.09.2004 in der Sache L 5 KR 81/04 LSG NRW), trägt er nicht vor.
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Die Berufung ist zulässig; insbesondere bestehen keine Bedenken, dass der Kläger erst
im Berufungsverfahren die Kosten für die nach Abschluss des erstinstanzlichen
Verfahrens durchgeführte dritte Therapieeinheit geltend gemacht hat. Darin liegt eine
zulässige Klageerweiterung im Sinne von § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG.
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Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht mit
Urteil vom 11.03.2002 abgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom
14.03.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2001 ist rechtmäßig.
Ein Anspruch auf Erstattung der Kosten seiner in Russland durchgeführten
Elektrostimulationstherapie-Einheiten sowie der geltend gemachten Nebenkosten - dies
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gilt auch für den in der Berufungsinstanz geltend gemachten dritten Therapieabschnitt -
steht dem Kläger nicht zu.
Die in dem staatlichen Rehabilitationszentrum von Prof. Dr. W in N / Russland in den
Jahren 2001 und 2002 durchgeführten Behandlungseinheiten der
Elektrostimulationstherapie erfüllen nicht die Voraussetzungen der einzig in Betracht
kommenden Anspruchsgrundlage des § 18 Abs. 1 Satz 1 SGB V (in der hier noch
maßgeblichen, bis 31.12.2003 geltenden Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes
vom 21.12.1992 - BGBl I 2266).
31
Nach § 18 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 i. V. m. § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V kann eine Krankenkasse
die Kosten einer notwendigen Behandlung einer Krankheit sowie weitere Kosten für den
Versicherten und Kosten für eine erforderliche Begleitperson ganz oder teilweise
übernehmen, wenn eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen
Erkenntnisse entsprechende Behandlung nur im Ausland möglich ist. Die Regelung
ermöglicht als Rechtsfolge nicht nur eine Kostenübernahme, sondern auch - nach
entsprechender vorheriger Antragstellung und Ablehnung der Kostenübernahme durch
die Krankenkasse - die hier begehrte Kostenerstattung (vgl. Bundessozialgericht -BSG-,
Urt. vom 13.12.2005, Az.: B 1 KR 21/04 R, Sozialrecht -SozR- 4-2500 § 18 Nr. 5; Urt.
vom 17.02.2004, Az.: B 1 KR 5/02 R, SozR 4-2500 § 18 Nr. 2; ferner Urt. vom
03.09.2003, Az.: B 1 KR 34/01 R, SozR 4-2500 § 18 Nr. 1).
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Dem Kostenerstattungsanspruch des Klägers nach § 18 Abs. 1 S. 1 SGB V steht zwar
nicht entgegen, dass ein Versicherter vor Durchführung einer Auslandsbehandlung bei
seiner Krankenkasse die Kostenübernahme beantragen, ihr Gelegenheit zur Prüfung
geben und deren Entscheidung abwarten muss (vgl. BSG, Urt. vom 13.12.2005 und Urt.
vom 03.09.2003, a. a. O.); denn der Kläger hat die Behandlung in N erst nach dem
abschlägigen Bescheid der Beklagten aufgenommen.
33
Auch kann der Senat offen lassen, ob ein Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 18
Abs. 1 S. 1 SGB V voraussetzt, dass der Betroffene der Krankenkasse eine
vertragsärztliche Verordnung für die Auslandsbehandlung vorlegt (dieses Erfordernis
wohl verneinend: BSG, Urt. vom 13.12.2005, a. a. O.; offen lassend BSG, Urt. vom
17.02.2004, a. a. O) und ob das Empfehlungsschreiben des Hausarztes eine solche
ordnungsgemäße Verordnung darstellt.
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Der Kostenerstattungsanspruch des Klägers scheitert jedenfalls aus anderen Gründen.
Neben dem hier außer Streit befindlichen Vorliegen einer behandlungsbedürftigen und
in Bezug auf die gesetzlichen Behandlungsziele des § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V allgemein
behandlungsfähigen Krankheit des Klägers müssen zwei weitere Voraussetzungen für
die nach § 18 Abs. 1 S. 1 SGB V zu treffende Ermessensentscheidung der beklagten
Krankenkasse gegeben sein, an denen es fehlt: Die in Russland durchgeführten
Behandlungen müssten dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen
Erkenntnisse entsprechen und darüber hinaus - kumulativ (vgl. schon BSG, Urt. vom
16.06.1999, Az.: B 1 KR 4/98 R, SozR 3-2500 § 18 Nr. 4) - nur im Ausland möglich
gewesen sein.
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Bezüglich der ersten Tatbestandsvoraussetzung ist entscheidend, dass die Leistung im
Ausland den Kriterien des in § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V geregelten
Wissenschaftlichkeitsgebots zu entsprechen hat. Das wiederum ist der Fall, wenn die
große Mehrheit der einschlägigen Fachleute (Ärzte, Wissenschaftler) die
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Behandlungsmethode befürwortet und von einzelnen, nicht ins Gewicht fallenden
Gegenstimmen abgesehen über die Zweckmäßigkeit der Therapie Konsens besteht.
Dieses setzt im Regelfall voraus, dass über Qualität und Wirksamkeit der neuen
Methode - die in ihrer Gesamtheit und nicht nur in Bezug auf Teilaspekte zu würdigen ist
- zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden können. Der
Erfolg muss sich aus wissenschaftlich einwandfrei durchgeführten Studien über die Zahl
der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen lassen. Auch muss die
Therapie in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von
Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein (BSG, Urt. vom 16.06.1999, a. a. O.; Urt.
vom 14.02.2001, Az.: B 1 KR 29/00 R, SozR 3-2500 § 18 Nr. 6). Eine Methode entspricht
jedoch dann nicht dem gesetzlich geforderten Standard, wenn sie eng an die Person
des Behandlers gebunden ist. Insoweit fehlt es nämlich an der wesentlichen
Voraussetzung für eine wissenschaftliche Anerkennung: der Überprüfbar- und
Wiederholbarkeit durch andere Fachleute (BSG, Urt. vom 16.06.1999, a. a. O). Dadurch
soll gesichert werden, dass dem Versicherten die an hohen aktuellen Maßstäben
gemessenen und verfahrensmäßig gesicherten, das heißt diagnostisch und
therapeutisch auf der Höhe der Zeit stehenden, insoweit also bestmöglichen,
medizinischen Maßnahmen zugute kommen (Noftz in Hauck/Noftz, SGB V,
Loseblattsammlung, Stand: Mai 2006, K § 18 Rn. 7).
An die wissenschaftliche Akzeptanz der angewandten Behandlungsmethode sind keine
geringeren, aber auch keine höheren Anforderungen zu stellen als bei einer
Behandlung im Inland (BSG, Urt. vom 16.06.1999, a. a. O). Ohne Bedeutung ist bei
Auslandsbehandlungen entgegen der Auffassung der Beklagten jedoch, ob sich der
Gemeinsame Bundesausschuss zu der Behandlungsmethode bereits geäußert hat;
denn das in § 135 SGB V beschriebene Anerkennungsverfahren bezieht sich nur auf
Leistungen, die im Inland angeboten werden (BSG, Urt. vom 16.06.1999, a. a. O).
37
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Kostenerstattungsanspruchs ist
grundsätzlich der Zeitpunkt der Behandlung (BSG Urt. vom 14.02.2001, Az.: B 1 KR
29/00 R, SozR 3-2500 § 18 Nr. 6).
38
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senates fest,
dass die im Ausland vom Kläger in Anspruch genommene Behandlung nicht dem
allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse genügt. Dies ergibt sich
aus der gutachterlichen Stellungnahme von Frau Dr. I3, N1 X, sowie aus Gutachten und
ergänzender Stellungnahme des gerichtlichen Sachverständigen Prof. U. Diese haben
nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, dass sich die Methode weder in anderen
Rehabilitationseinrichtungen in Russland noch weltweit durchgesetzt hat. Bei den
Veröffentlichungen handele es sich im Übrigen nicht um kontrollierte, im Einzelnen
überprüfbare Studien, sondern lediglich um Berichte und Erfahrungswerte, die sich einer
wissenschaftlich fundierten Beurteilung entziehen. Dabei stellt der Sachverständige
keineswegs in Abrede, dass es im Einzelfall Erfolge im Sinne einer Besserung der
Mobilität Rückenmarkverletzter geben mag. Dies reicht jedoch nicht aus. Der Senat
vermag den vom Kläger vorgelegten Unterlagen nicht zu entnehmen, dass sich die
Methode allgemeiner Anerkennung berühmen könnte. Es handelt sich bei den vom
Kläger genannten Quellen ausschließlich um Veröffentlichungen der vom
Sachverständigen beschriebenen, nicht aussagekräftigen Art. Studien aussagekräftiger
Evidenz, insbesondere Langzeitstudien über die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der
Methode hat der Kläger bzw. zuvor seine Prozessbevollmächtigte ebenfalls nicht
benennen können. Schließlich ergibt sich auch aus dem vom Kläger eingereichten
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Beitrag des Wissenschaftsmagazins "Galileo" nichts anderes. Zwar wird von etwa 5.000
erfolgreich behandelten Patienten in N gesprochen, zugleich aber darauf hingewiesen,
dass die Wirkungsmechanismen der Behandlungsweise noch nicht hinreichend
erforscht seien. Deshalb entziehe sich die Methode einer abschließenden
wissenschaftlichen Bewertung.
Der tragenden Argumentation des Klägers, die Methode habe bei ihm zu
Behandlungsfortschritten geführt, ist bereits entgegenzuhalten, dass offensichtlich keine
dauerhaften Erfolge eingetreten sind. Die mitgeteilten Messergebnisse der dritten
Behandlungseinheit liegen deutlich unterhalb derjenigen, die bei Abschluss der ersten
Einheit notiert wurden. Auch geht aus den Befundberichten der behandelnden Ärzte
keineswegs hervor, dass seit 2002 eine deutliche Besserung eingetreten ist. Dr. N2 I3
spricht gar von einem bloßen Placeboeffekt der Therapie nach W.
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Dem Anspruch auf Kostenerstattung steht schließlich auch die zweite
Tatbestandsvoraussetzung des § 18 Abs. 1 S. 1 SGB V entgegen. Danach darf die
Krankenkasse Kosten einer Auslandsbehandlung nicht übernehmen, wenn eine andere,
gleich oder ähnlich Erfolg versprechende Behandlung der Krankheit im Inland möglich
ist (BSG, Urt. vom 16.6.1999, a. a. O., Urt. vom 13.12.2005, a. a. O.). Eine medizinische
Versorgungslücke ist nur dann anzunehmen, wenn eine im Inland nicht behandelbare
Krankheit im Ausland mit der erforderlichen Erfolgsaussicht behandelt werden kann,
und nicht schon dann, wenn das außerhalb angebotene Leistungsangebot lediglich
andere medizinische Maßnahmen umfasst, ohne im Ergebnis die
Behandlungsmöglichkeiten für die beim Versicherten bestehende Krankheit
entscheidend zu verbessern. Gibt es hingegen mehrere gleichwertige
Behandlungsalternativen, können allein die im EU / EWR-Inland bestehenden
Therapieangebote in Anspruch genommen werden (BSG, Urt. vom 13.12.2005, a. a. O.).
Der Inlandsbehandlung kommt nach der Rechtsprechung des BSG im Rahmen des
auch für § 18 Abs. 1 S. 1 SGB V geltenden Wirtschaftlichkeitsgebotes gemäß § 12 Abs.
1 SGB V ebenfalls Vorrang zu, wenn das Leistungsangebot im Ausland wegen einer
besonders modernen technischen Ausrüstung oder wegen des auch international
herausragenden fachlichen Rufs eines bestimmten Arztes eine überdurchschnittliche
Qualität aufweist; denn Spitzenmedizin ist nicht der Maßstab für die Leistungspflicht der
Gesetzlichen Krankenversicherung. Die Krankenkassen schulden ihren Versicherten
eine bedarfsgerechte und gleichmäßige Versorgung unter Berücksichtigung des
jeweiligen Standes der medizinischen Wissenschaft und Technik. Leistungen sind dann
zu gewähren, wenn sie zur Heilung und Linderung nach den Regeln der ärztlichen
Kunst zweckmäßig und ausreichend sind (BSG, Urt. vom 16.6.1999, a. a. O). Auf eine
optimale, das heißt über den gesetzlichen Standard hinausgehende Versorgung,
besteht hingegen grundsätzlich kein Anspruch (BSG Urt. vom 23.05.1984, Az.: 6 RKa
2/83, SozR 5520 § 29 Nr. 3).
41
Gemäß den nachvollziehbaren Ausführungen des N1 sind bei der neurologischen
Erkrankung des Klägers eine Diagnostik und Behandlung in Deutschland,
beispielsweise in der Neurologischen Universitätsklinik in N, möglich. Auch aus dem
insoweit nachvollziehbaren und überzeugenden Gutachten des gerichtlichen
Sachverständigen, dem der Senat folgt, ergibt sich, dass das Ansprechen der jeweils
relevanten Muskelgruppe grundsätzlich auch auf andere Weise, z. B. über
physiotherapeutische Maßnahmen oder mechanische Reize, möglich ist.
Weitergehende Feststellungen hat der Kläger durch seine Weigerung, sich einer
körperlichen Untersuchung zu unterziehen, unmöglich gemacht. Im Übrigen werden
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entsprechende computergestützte Trainingsverfahren zur Verbesserung des Gangbildes
bei Querschnittsverletzungen, wie beispielsweise das System "Lokomat", sowohl in
Deutschland als auch in der Schweiz angewandt. Dass es sich bei der von Prof. W
angebotenen Behandlungsmethode um eine gegenüber den alternativen Therapien
eindeutig überlegene Methode handelt, ist ebenfalls nicht feststellbar. Selbst wenn sich
bestätigen sollte, dass eine Therapiemöglichkeit für den Kläger wegen der großen
Nachfrage an der Neurologischen Klinik I1 nicht unmittelbar zu verwirklichen wäre und
längere Wartezeiten bestünden – unterstellt, die Therapie wäre aufgrund des
Krankheitsbildes des Klägers überhaupt indiziert – , ergäbe sich daraus schließlich
ebenfalls kein Anspruch des Klägers. In einem solchen Fall, wenn die Behandlung im
Inland zwar an sich möglich ist, aber wegen fehlender Kapazitäten oder aus anderen
Gründen nicht rechtzeitig erfolgen kann, würde der Ausnahmetatbestand des § 18 SGB
V zwar greifen (BSG, Urt. vom 16.06.1999, a. a. O.). Allerdings hat der Senat nicht
feststellen können, dass eine derartige Dringlichkeit der Behandlung besteht, zumal
auch andere Therapien, wie intensive Krankengymnastik, denkbar sind. Eine derartige
Erforderlichkeit hat das BSG beispielsweise in dem Fall einer notwendigen
Nierentransplantation verneint: Die Wartezeit in Deutschland könne durch eine dem
allgemeinen Versorgungsstand entsprechende Dialysebehandlung überbrückt werden
(BSG, Urt. vom 17.02.2004, a. a. O.; Noftz, a. a.O., K § 18 Rn. 15). Weder der Kläger
noch die befragten behandelnden Ärzte haben Gründe für eine medizinisch indizierte
Dringlichkeit zu benennen vermocht noch sind diese sonst ersichtlich.
Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage schließlich auch insoweit abgewiesen, als es
um die Erstattung der angefallenen Reisekosten geht. Die Voraussetzungen des § 18
Abs. 2 SGB V liegen nicht vor. Danach kann die Krankenkasse in den Fällen des Abs. 1
auch weitere Kosten für den Versicherten und für eine erforderliche Begleitperson ganz
oder teilweise übernehmen. Wie sich aus der Formulierung des Abs. 2 "in den Fällen
des Absatzes 1" jedoch ergibt, dürfen Folgekosten einer Behandlung als akzessorische
Leistungen nur übernommen werden, wenn die Krankenkasse auch die
Behandlungskosten selber zu übernehmen verpflichtet ist. Da hier bereits die
Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung über die Hauptleistung nicht
vorliegen, schließt dies die Übernahme der Folgekosten ebenfalls aus.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Anlass für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG besteht nicht. Die
Frage nach den Therapiemöglichkeiten für ein einzelnes Leiden und nach dem darauf
bezogenen krankenversicherungsrechtlichen Behandlungsanspruch ist regelmäßig
keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (BSG, Beschl. vom 07.10.2005, Az.:
B 1 KR 107/04 B, SozR 4-1500 § 160a Nr. 9).
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