Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 29.10.2008

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Landessozialgericht NRW, L 12 SO 13/07
Datum:
29.10.2008
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 12 SO 13/07
Vorinstanz:
Sozialgericht Detmold, S 6 SO 51/06
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts
Detmold vom 11.01.2007 wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt die
Kosten des Rechtsstreits auch im Berufungsverfahren. Die Revision wird
nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Der Kläger begehrt von dem Beklagten die Erstattung von Sozialhilfekosten in Höhe von
3.262,40 EUR. Insbesondere ist streitig, ob der Kläger seinen Erstattungsanspruch noch
auf die am 01.01.2005 außer Kraft getretene Vorschrift des § 107
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) stützen kann.
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Am 31.10.2001 verzogen die nach dem BSHG hilfebedürftigen Eheleute B und S S im
Landkreis T nach Q. Im Anschluss daran gewährte der Kläger mit Bescheid vom
11.10.2001 den Eheleuten Leistungen nach dem BSHG ab 01.11.2001, die bis
31.12.2002 erbracht wurden.
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Mit Schreiben vom 05.11.2001 beantragte der Kläger bei dem Beklagten
Kostenerstattung für die entstandenen Aufwendungen. Seine Kostenerstattungspflicht
erkannte der Beklagte dem Grunde nach mit Schreiben vom 22.11.2001 an. Mit
weiterem Schreiben vom 17.07.2003 bezifferte der Kläger seinen Erstattungsanspruch
für den streitigen Zeitraum auf 3.262,40 EUR.
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Mit Schreiben vom 12.01.2005 wandte sich der Kläger erneut an den Beklagten und
begehrte die Erstattung der von ihm aufgewandten Kosten. Diese verweigerte der
Beklagte mit Schreiben vom 29.03.2005 im Wesentlichen mit der Begründung, dass das
BSHG mit Wirkung vom 01.01.2005 außer Kraft getreten sei und die
Erstattungsvorschrift des § 107 BSHG damit nicht mehr bestehe.
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Am 30.11.2005 hat der Kläger vor dem Sozialgericht Halle Leistungsklage gegen den
Beklagten erhoben, das den Rechtsstreit mit Beschluss vom 24.02.2006 an das örtlich
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zuständige Sozialgericht Detmold verwiesen hat.
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen, die für Frau B Richards in der Zeit vom 01.11.2001 bis
zum 31.12.2002 gezahlten Sozialhilfeleistungen in Höhe von 3.262,40 EUR nebst 5 %
Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten.
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Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Mit Urteil vom 11.01.2007 hat das Sozialgericht Detmold der Klage stattgegeben.
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Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, der Kostenerstattungsanspruch
ergebe sich auch weiterhin aus der bis 31.12.2004 in Kraft gewesenen Vorschrift des §
107 BSHG. Zwar sei die Norm zum 01.01.2005 ersatzlos gestrichen worden. Sie finde
im vorliegenden Fall jedoch weiterhin Anwendung, da die streitbefangenen Kosten
bereits in der Zeit vom 01.11.2001 bis 31.12.2002 aufgewandt und der
Erstattungsanspruch bei der Beklagten auch bereits im Jahr 2001 angemeldet worden
sei. Auch habe der Beklagte seine Kostenerstattungspflicht dem Grunde nach bereits
am 22.11.2001 anerkannt. Die unter Geltung des alten Rechts entstandenen Rechte und
Rechtsverhältnisse seien nach den Grundsätzen des intertemporalen
Verwaltungsrechts nach den damaligen Rechtsvorschriften zu beurteilen. Zur
Begründung hat sich das Sozialgericht im Wesentlichen auf eine Entscheidung des
OVG NRW vom 31.10.2006 - 16 A 5085/04 - gestützt. Die Berufung gegen das Urteil hat
das erstinstanzliche Gericht wegen des Beschwerdegegenstandes von unter 5.000
EUR nicht für zulässig gehalten. Mangels grundsätzlicher Bedeutung sei die Berufung
nicht zuzulassen.
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Auf die von dem Beklagten am 06.03.2007 hiergegen eingelegte
Nichtzulassungsbeschwerde (- L 12 B 9/07 SO NZB -) hat der Senat die Berufung mit
Beschluss vom 24.04.2007 zugelassen. Das Verfahren ist sodann als
Berufungsverfahren fortgesetzt worden.
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Der Beklagte ist der Auffassung, es bestehe keine Rechtsgrundlage für die
Erstattungsforderung des Klägers. Maßgeblich sei, ob zum Zeitpunkt der letzten
mündlichen Verhandlung beziehungsweise der Entscheidung noch eine
Rechtsgrundlage bestehe. Der Umstand, dass im konkreten Fall, anders als in anderen
Erstattungskonstellationen, eine Übergangslösung fehle, spreche gegen die
Anwendbarkeit von § 107 BSHG. Auch habe der Gesetzgeber über Jahre hinweg
geduldet, dass sich Sozialhilfeträger in einer bundesweiten Vereinbarung verpflichtet
hätten, auf die Kostenerstattung nach § 107 BSHG gegenseitig zu verzichten. Er stützt
sich ferner auf eine Stellungnahme des Innenministeriums des Landes NRW für
vergleichbare Erstattungsfälle nach § 10 b Abs. 3 Asylbewerberleistungsgesetz. In
einem Schreiben vom 15.07.2006 an die nachgeordneten Behörden hat das
Innenministerium die Auffassung vertreten, dass nach Wegfall der Erstattungsregelung
mit Wirkung vom 01.07.2005 Erstattungsanträge von Gemeinden abzulehnen seien.
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Der Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 11.01.2007 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er hält die Vorschrift des § 107 BSHG in den Konstellationen, in denen der
abzurechnende Erstattungszeitraum zeitlich noch im Geltungsbereich des BSHG liege
und der Erstattungsanspruch zudem noch vor Inkrafttreten des SGB XII geltend gemacht
worden sei, für noch anwendbar. Er sieht sich in seiner Rechtsauffassung insbesondere
durch die obergerichtlichen Urteile des OVG NRW vom 31.10.2006 - 16 A 5085/04 - und
des LSG NRW, Urteil vom 23.04.2007- L 20 SO 39/06 - bestätigt.
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Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakten sowie auf
die Verwaltungsakte der Klägerin Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Die zugelassene Berufung des Beklagten ist unbegründet.
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Zu Recht hat das Sozialgericht den Beklagten zur Erstattung des von dem Kläger nach
den Vorschriften des BSHG für Frau B S aufgewandten Betrags verurteilt.
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Die Voraussetzungen des Erstattungsanspruchs nach § 107 BSHG in der bis
31.12.2004 geltenden Fassung liegen sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach
unstreitig vor.
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Nach § 107 BSHG war im Falle des Umzugs eines Hilfebedürftigen der Träger der
Sozialhilfe des bisherigen Aufenthaltsortes verpflichtet, dem nunmehr zuständigen
örtlichen Träger der Sozialhilfe die dort erforderlich werdende Hilfe außerhalb von
Einrichtungen im Sinne des § 97 Abs. 2 Satz 1 zu erstatten, wenn die Person innerhalb
eines Monats nach dem Aufenthaltswechsel der Hilfe bedurfte.
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Den Anspruch hat der Beklagte dem Grunde nach mit Schreiben vom 22.11.2001
anerkannt, auch die Höhe des Anspruchs ist inzwischen nicht mehr streitig.
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Der Anspruch ist entgegen der Rechtsauffassung des Beklagten nicht durch das
Außerkrafttreten des BSHG zum 31.12.2004 entfallen.
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Maßgeblich sind insoweit die Grundsätze des intertemporalen Verwaltungsrechts. Bei
Fehlen einer Überleitungsvorschrift gelten neue Rechtsnormen mit sofortiger Wirkung
für die Zeit nach ihrer Verkündung, unabhängig davon, wie die Materie vorher geregelt
war (OVG NRW, Beschluss vom 31.10.2006 - 16 A 5085/04 -). Eine Neuregelung erfasst
damit im Prinzip alle im Zeitpunkt der Verkündung bestehenden, nach altem Recht
entstandenen Rechte und Rechtsverhältnisse. Indes richten sich zum Zeitpunkt der
Verkündung bereits abgewickelte Rechtsverhältnisse bzw. bereits geregelte,
abgeschlossene Sachverhalte noch nach altem Recht (OVG NRW vom 31.10.2006 - 16
A 5085/04 -, mit weiteren Nachweisen).
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Nach diesen Grundsätzen ist § 107 BSHG auf die vorliegende Erstattungskonstellation
anzuwenden. Denn es handelt sich bei den Leistungen an die Eheleute S um einen
noch unter Geltung des alten Rechts vollständig abgewickelten Rechtsvorgang. Sowohl
der Leistungszeitraum als auch die Geltendmachung des Anspruchs gegenüber der
Beklagten liegen vor dem 01.01.2005. Damit reicht das hier streitige Rechtsverhältnis
nicht in den Geltungsbereich des ab 01.01.2005 in Kraft getretenen SGB XII hinein.
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Eine Überleitungsvorschrift hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen. Das Gesetz zur
Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 29.12.2003 und
insbesondere das SGB XII enthalten keine ausdrückliche Regelung dahingehend, dass
eine Kostenerstattung bei Umzügen von Hilfeempfängern für den Fall der Hilfeleistung
aus der Zeit vor Inkrafttreten des SGB XII am 01.01.2005 entfallen soll.
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Zur Überzeugung des Senats besteht keinerlei Anlass vorliegend von den Grundsätzen
des intertemporalen Verwaltungsrechts abzuweichen. Insbesondere ist dem Willen des
Gesetzgebers nicht zu entnehmen, dass durch die Abschaffung des § 107 BSHG
jegliche Erstattungsansprüche auch für die Vergangenheit abgeschafft werden sollten.
Vielmehr ergibt sich aus der Gesetzesbegründung, dass der Gesetzgeber die bisherige
Regelung wegen des unter Geltung des neuen BSHG stark eingeschränkten Kreises
der Leistungsberechtigten für entbehrlich gehalten hat (OVG NRW, a.a.O.). Dies zeigt,
worauf das OVG überzeugend hingewiesen hat, dass der Gesetzgeber nur eine
Regelung für die Zukunft treffen wollte, nicht aber die Absicht hatte, in bestehende
Rechtsverhältnisse einzugreifen.
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Der Umstand, dass die Leistungsvoraussetzungen sowie Zuständigkeiten im
behördlichen und gerichtlichen Bereich ab 01.01.2005 grundlegend neu gestaltet
worden sind, spricht dafür, dass der Gesetzgeber dieses Datum als generelle Zäsur
sehen wollte. Damit wäre es nicht vereinbar, dem ab 01.01.2005 geltenden Recht eine
Rückwirkung für Erstattungsfälle beizumessen, die ansonsten nach dem BSHG
abzuwickeln wären.
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Der erkennende Senat schließt sich damit im Ergebnis der Rechtsprechung des 20.
Senats des LSG NRW zur Anwendbarkeit des § 107 BSHG in der bis 31.12.2004
geltenden Fassung für die vor diesem Datum abgeschlossenen und geltend gemachten
Leistungsfälle an (vgl. LSG NRW, Urteile vom 21.01.2008 - L 20 SO 44/07 - und vom
23.04.2007 - L 20 SO 39/06 -).
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Soweit der Beklagte einwendet, es bestehe keine Rechtsgrundlage mehr für die
Erstattungsforderung des Klägers bzw. es sei maßgeblich, ob zum Zeitpunkt der letzten
mündlichen Verhandlung bzw. der Entscheidung noch eine Rechtsgrundlage gegeben
sei, verkennt er, dass es sich um einen Erstattungsstreit zwischen Leistungsträgern
handelt und nicht um einen Fall der Eingriffsverwaltung durch Verwaltungsakt. Die von
dem Beklagten in diesem Zusammenhang zitierten Entscheidungen des
Bundesverwaltungsgerichts und die in Bezug genommene Kommentarliteratur
(Kopp/Schenke, VwGO Kommentar 13. Auflage 2003, § 113 Rdnr. 31 ff., 217 ff.)
beziehen sich auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen und sind daher nicht
weiterführend.
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Aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber - wie der Beklagte meint - über Jahre hinweg
geduldet habe, dass sich Sozialhilfeträger in einer bundesweiten Vereinbarung
verpflichtet hätten, auf die Kostenerstattung nach § 107 BSHG gegenseitig zu
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verzichten, lässt sich nichts ableiten. Die gesetzliche Regelung als solche ist eindeutig
und aus den vorstehenden Erwägungen auf den konkreten Erstattungsfall noch
anwendbar. Einen wirksamen Erstattungsverzicht hat der Beklagte im konkreten Fall
weder behauptet noch geltend gemacht.
Aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber bei Einführung des SGB XII in einigen Fällen
Übergangsregelungen getroffen hat und in anderen nicht, ergibt sich keine
abweichende Beurteilung. Soweit der Beklagte meint, aus dem Fehlen einer
Übergangsregelung sei zu schließen, dass gleichsam einer "Fallbeilregelung" ab dem
Stichtag 01.01.2005 das neue Recht möglichst übergangslos gelten solle, ist dies
grundsätzlich zutreffend. Allerdings bedeutet dies keinen Leistungsausschluss für die in
der Vergangenheit bereits abgeschlossene Erstattungszeiträume und deren
Durchsetzung. Insoweit wird auf die vorstehenden Ausführungen Bezug genommen.
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Soweit sich der Beklagte auf die Rechtsauffassung des Innenministeriums des Landes
NRW für vergleichbare Erstattungsfälle nach dem Asylbewerberleistungsgesetz - § 10 b
Abs. 3 Asylbewerberleistungsgesetz - stützt, ergeben sich daraus keine neuen Aspekte.
Die Konstellation ist zwar tatsächlich mit den Erstattungsfällen nach § 107 BSHG
vergleichbar. Die entsprechende Erstattungsvorschrift nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz wurde mit Wirkung vom 01.07.2005 aufgehoben.
Allerdings nennt die dem Senat vorliegende Stellungnahme des Innenministeriums
keinerlei Gesichtspunkte, die vorstehend nicht bereits angesprochen und berücksichtigt
worden wären. Mit den Grundsätzen des intertemporalen Verwaltungsrechts setzt sich
das Innenministerium in der von Seiten des Beklagten in Bezug genommenen
Stellungnahme nicht auseinander. Insoweit stellt sich allenfalls die Frage, inwieweit die
Rechtsauffassung des Innenministeriums zu § 10 b Abs. 3 Asylbewerberleistungsgesetz
zutreffend ist. Diese Frage braucht der Senat aber nicht zu beantworten.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 197 a Abs. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO.
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Ein Grund zur Zulassung der Revision nach § 160 SGG besteht nicht. Da die
streitgegenständliche Norm schon seit erheblicher Zeit außer Kraft ist, ist insbesondere
eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG nicht
gegeben.
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