Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 23.06.2009

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Landessozialgericht NRW, L 1 AS 40/08
Datum:
23.06.2009
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 1 AS 40/08
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 3 AS 90/07
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom
30.10.2008 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die
Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Klägerin erstrebt einen höheren Zuschuss zu ihren Unterkunftskosten.
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Die am 00.00.1983 geborene Klägerin ist verheiratet und lebt mit ihrem am 00.00.1970
geborenen Ehemann P X sowie ihrem Sohn K in einem Haushalt. Die Familie lebt
gemeinsam in einer Mietwohnung, die Miete beträgt einschließlich
Betriebskostenvorschuss 743.- EUR monatlich. Die Beklagte bewilligte zunächst der
Klägerin und ihrem Ehemann Arbeitslosengeld II sowie dem Sohn Sozialgeld unter
vorübergehender Anerkennung der Angemessenheit der - eigentlich überhöhten -
Unterkunftskosten.
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Die Klägerin absolviert vom 1.9.2006 bis zum 31.8.2009 eine Ausbildung als
Verwaltungsangestellte bei der Stadt L. Die Beklagte stellte im Hinblick darauf die
Zahlung von Arbeitslosengeld II an die Klägerin ein und bewilligte lediglich Leistungen
an den Ehemann und den Sohn.
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Am 28.6.2007 beantragte die Klägerin einen Zuschuss zu den Unterkunftskosten nach §
22 Abs. 7 SGB II, weil sie nicht in der Lage sei, ihren Mietanteil i.H.v. 247.-EUR von
ihrem Einkommen aufzubringen. Die Bundesagentur für Arbeit bewilligte der Klägerin
für die Zeit vom 1.9.2006 bis zum 29.2.2008 Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) unter
Anerkennung eines Bedarfs i.H.v. 507.- EUR (310.- EUR Grundbedarf zuzügl. 197.-
EUR Unterkunftskosten) sowie Anrechnung eines Einkommens aus der
Berufsausbildung i.H.v. 525,41 EUR in Höhe von 28.- EUR monatlich.
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Mit Bescheid vom 6.8.2007 bewilligte die Beklagte für die Zeit vom 1.7.2007 bis zum
31.12.2007 einen Zuschuss zu den Kosten für Unterkunft und Heizung i.H.v. 50,66 EUR
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monatlich. Hierbei ging die Beklagte von einem von der Klägerin zu tragenden
Mietanteil i.H.v. 247,66 EUR (= 743.- EUR./.3) aus. Davon zog sie den gem. §§ 65 Abs.
1 SGB III, 13 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 S. 1 BAföG im BAB-Satz enthaltenen Bedarfsanteil
für Unterkunft i.H.v. 197.-EUR ab.
Im Widerspruchsverfahren wandte die Klägerin sich gegen diese Berechnungsmethode.
Gestützt auf den Beschluss des SG Berlin vom 23.3.2007 - S 37 AS 2804/07 ER -
begehrte sie eine Gegenüberstellung ihres Gesamtbedarfes und ihres
Gesamteinkommens i.S.d. SGB II. Die Differenz stelle - begrenzt auf die tatsächlich
anfallenden Unterkunftskosten - den nach § 22 Abs. 7 SGB II zu zahlenden
Zuschussbetrag dar.
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Aus dieser Berechnungsmethode resultiert ein höherer Zahlbetrag des Zuschusses zu
den Unterkunftskosten: Der Bedarf der Klägerin beträgt ab 1.7.2007 insgesamt 559,66
EUR und setzt sich zusammen aus der Regelleistung von 312.-EUR und den
Unterkunftskosten i.H.v. 247, 66. Von diesem Betrag wäre bei Anwendung einer
Bedarfsberechnung nach dem SGB II die Ausbildungsvergütung abzusetzen. Diese
betrug im Juli 2007 617,34 EUR brutto. Dieser Betrag entspricht einem Nettoeinkommen
i.H.v. 495,59 EUR (§ 11 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, 2 SGB II). Von diesem Betrag sind gem. §§ 11
Abs. 2 SGB II, 6 Abs. 1, 2 AlG II-VO folgende Beträge abzuziehen:
Erwerbstätigenfreibetrag gem. §§ 11 Abs. 2 S. 1 Nr. 6, 30 SGB II i.H.v. 103,47 EUR;
Freibetrag für Versicherungsbeiträge gem. § 11 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, S. 3 SGB II sowie
weitere Abzüge gem. § 6 Abs. 1 Nr. 2 AlG II-VO i.H.v. 105,27 EUR , insgesamt
208,74EUR, so dass ein anzurechnendes Einkommen i.H.v. 286,85 EUR verbleibt.
Dieser Betrag liegt unterhalb der Regelleistung, so dass der Klägerin der gesamte
Bedarf an Unterkunftskosten als Zuschuss zu zahlen wäre.
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Zum Beleg Ihrer Rechtsauffassung berief die Klägerin sich auf ein im Rahmen eines
Petitionsverfahrens erstelltes Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit und
Sozialordnung (BMAS) vom 29.8.2007, in dem die Berechnungsmethode der Beklagten
als "rechtsfehlerhaft" bezeichnet wird.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 29.11.2007 änderte die Beklagte den Beginn der
Bewilligung auf den 28.6.2007. Im Übrigen wies sie den Widerspruch zurück.
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Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 18.12.2007 erhobene Klage. Die Klägerin
hat sich weiterhin auf die genannte Entscheidung des SG Berlin und die
Rechtsmeinung des BMAS gestützt. Außerdem hat sie einen Auszug aus der Internet-
Seite der Stadt Hamburg ("fachliche Vorgaben zu § 22") vorgelegt, in dem ebenfalls die
Berechnungsmethode "Gegenüberstellung Gesamtbedarf/Gesamteinkommen nach
SGB II" angewandt wird.
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Das Sozialgericht ist in seiner mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche
Verhandlung ergangenen Entscheidung von folgendem Antrag der Klägerin
ausgegangen:
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"Die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 6.8.2007 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 29.11.2007 zu verurteilen, ihr einen höheren
Mietzuschuss nach § 22 Abs. 7 SGB II zu bewilligen."
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat sich auf auf die Beschlüsse des SG Schleswig vom 2.7.2007 - S 4 AS 364/07
ER -, des LSG Hessen vom 2.8.2007 - L 9 AS 215/07 ER - und des LSG Berlin-
Brandenburg vom 30.4.2007 - L 5 B 425/07 AS ER - gestützt.
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Mit Urteil vom 30.10.2008 hat das Sozialgericht Köln ohne mündliche Verhandlung die
Klage abgewiesen. Es hat die Voraussetzungen des § 22 Abs. 7 S. 1 SGB II als
gegeben erachtet und die Berechnungsmethode der Beklagten für zutreffend gehalten.
Eine komplette Bedarfsberechnung nach den Grundsätzen des SGB II sei weder vom
Wortlaut, noch von Sinn und Zweck, Systematik oder Entstehungsgeschichte der Norm
zu begründen. § 22 Abs. 7 S. 1 SGB II ordne vielmehr eine Bedarfsberechnung nach
den Vorschriften des SGB III oder des BAföG an. Der Verweis auf diese Vorschriften
diene - im Gegensatz zur teilweise in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung - nicht
lediglich dazu, den Kreis der Leistungsempfänger zu bezeichnen. Nach Sinn und Zweck
komme der Vorschrift nur eine begrenzte Lückenschließungsfunktion dahingehend,
dass in die Leistungen für Auszubildende teilweise Unterkunftskosten lediglich in nicht
bedarfsdeckender Höhe berücksichtigt sind, zu. Die Auszubildenden sollten gerade
nicht in das allgemeine Leistungssystem nach dem SGB II einbezogen werden. Hierfür
spreche auch, dass gem. § 19 S. 2 SGB II der Zuschuss nach § 22 Abs. 7 SGB II nicht
als Arbeitslosengeld II gelte. Auch aus den Gesetzesmaterialien ergebe sich nichts
anderes.
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Gegen diese am 28.11.2008 zugestellte Entscheidung richtet sich die am 9.12.2008
erhobene Berufung. Die Klägerin wiederholt ihre Rechtsauffassung und meint
zusammengefasst, § 22 Abs. 7 SGB II habe den Zweck, den tatsächlichen konkreten
Bedarf, nicht einen fiktiven nach den Sätzen des BAföG errechneten Bedarf
abzudecken.
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Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 30.10.2008 abzuändern und die Beklagte unter
Abänderung des Bescheides vom 6.8.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 29.11.2007 zu verurteilen, einen höheren Zuschuss zu den Unterkunftskosten zu
zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts Köln für zutreffend und beruft sich
ergänzend auf den Beschluss des LSG Schleswig-Holstein vom 25.3.2009 - L 11 B
575/08 AS ER -, das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 2.3.2009 - L 19 AS 84/08
- sowie den Beschluss des LSG Nordrhein-Westfalen vom 8.6.2009 - L 7 B 297/08 AS
ER.
23
Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt der Senat Bezug auf die Gerichtsakten und die
Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Streitgegenstand des Verfahrens ist die Höhe des Zuschusses zu den
Unterkunftskosten für die Zeit vom 28.6.2007 bis zum 31.12.2007. Allein auf diesen
Zeitraum bezieht sich die angefochtene Entscheidung. Zwar hat die Beklagte mit
Bescheid vom 18.1.2008 die Entscheidung auf die Zeit bis zum 31.3.2008 ausgedehnt,
jedoch haben die Beteiligten sich auf eine Beschränkung des Streitgegenstandes auf
die Zeit bis zum 31.12.2007 geeinigt und die Klägerin die Klage nicht auf den Bescheid
vom 18.1.2008 erweitert.
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Die Klage ist zulässig. Allerdings hat die Klägerin zunächst einen unzulässigen
Verpflichtungsantrag gestellt ("die Beklagte zu verpflichten, einen neuen Bescheid zu
erlassen, der berücksichtigt, dass § 22 Abs. 7 SGB II auch für die Klägerin als
Auszubildende gilt"). Diesen Antrag hat das Sozialgericht i. S. d. § 106 Abs. 1 SGG
zutreffend interessengerecht ausgelegt und ist in der Entscheidung ohne mündliche
Verhandlung von einem unbezifferten Klageantrag ausgegangen. Das Sozialgericht hat
damit in einem Höhenstreit einen Antrag auf ein Grundurteil nach § 130 Abs. 1 S. 1 SGG
zugelassen. Dies ist zulässig. Auch im Höhenstreit ist der Erlass eines Grundurteils
möglich. Aufgabe des Gerichts ist es in diesem Falle, in dem Grundurteil die Merkmale
zu bestimmen, aufgrund deren sich vom Leistungsträger dann die höhere Leistung
errechnen lässt (BSG, Urteil vom 20.11.2003 - B 13 RJ 5/03 R; Urteil vom 4.9.2001 - B 7
AL 84/00 R; Urteil vom 19.5.1982 - 11 RA 47/81; Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG,
§ 130 Rnr. 4; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 130 Rnr. 2d).
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Die zulässige Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu
Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf einen höheren Zuschuss zu
den Unterkunftskosten.
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Zur Begründung wird zunächst auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des
Sozialgerichts verwiesen (§ 153 Abs. 2 SGG). Ergänzend weist der Senat auf
Folgendes hin:
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Mit der Formulierung in § 22 Abs. 7 S. 1 SGB II "und deren Bedarf sich nach den"
entsprechenden Vorschriften des SGB III und des BAföG richtet, bringt das Gesetz zum
Ausdruck, dass die Festlegung des für die Zuschussberechnung maßgeblichen
Bedarfes sich gerade nicht nach den Vorschriften des SGB II, sondern grundsätzlich
denen des SGB III und des BAföG richten soll. Auch die Formulierung des SGB III und
des BAföG spricht für diese Auslegung: § 65 SGB III legt fest, welcher "Bedarf" für den
Lebensunterhalt bei beruflicher Ausbildung und Unterbringung in einem eigenen
Haushalt anzuerkennen ist. In § 13 BAföG ist ausdrücklich bestimmt, welche Beträge als
monatliche "Bedarfe" des Auszubildenden gelten. Der Gesetzgeber hat hiermit
festgelegt, welchen anzuerkennenden Bedarf Auszubildende grundsätzlich hinsichtlich
ihrer Wohnkosten haben. Die in § 22 Abs. 7 SGB II erwähnten "ungedeckten Kosten der
Unterkunft und Heizung" sind damit die durch den SGB III/BAföG-Satz nicht gedeckten
Kosten (ebenso LSG Hessen, Beschluss vom 2.8.2007 - L 9 AS 215/07 ER).
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Auch rechtssystematisch überzeugt allein die von der Beklagten vorgenommene und
vom Sozialgericht bestätigte Berechnungsmethode: Durch die Zuschussregelung des §
22 Abs. 7 SGB II sollen Empfänger von Berufsausbildungsbeihilfe oder Leistungen nach
dem BAföG gerade nicht Empfängern von Arbeitslosengeld II angenähert werden. Dies
widerspräche der Grundentscheidung des § 7 Abs. 5 S. 1 SGB II, wonach
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Auszubildende grundsätzlich keine Leistungen nach dem SGB II erhalten sollen. Auch §
19 S. 2 SGB II, wonach der Zuschuss nach § 22 Abs. 7 SGB II nicht als Arbeitslosengeld
II gilt, spricht für diese Auslegung (ebenso LSG Hessen, Urteil vom 27.3.2009 - L 6 AS
340/08 B ER; SG Schleswig, Beschluss vom 2.7.2007 - S 4 AS 364/07 ER; im Ergebnis
ebenso LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 25.3.2009 - L 11 B 575/08 AS ER;
Berlit, in: LPK-SGB II, 2. Aufl., § 22 Rnr. 130). Demzufolge wird in der Literatur zu Recht
kritisiert, dass die Regelung des § 22 Abs. 7 SGB II im SGB II systematisch eigentlich
nichts zu suchen hat, sondern besser eine Regelung im SGB III bzw. BAFöG mit einer
Anhebung der Bedarfe für Unterkunft erfolgt wäre (Berlit, in: LPK- SGB II, 2. Aufl., § 22
Rnr. 126). Durch die von der Klägerin für richtig gehaltene Berechnungsmethode
hingegen würden BAB-Empfänger und Empfänger von BAföG-Leistungen im Ergebnis
so gestellt, als wären sie Berechtigte nach dem SGB II.
Aus den Gesetzesmaterialien lässt sich keine abweichende Auffassung herleiten: § 22
Abs. 7 SGB II wurde eingefügt durch Art. 1 Nr. 21 e) des Gesetzes zur Fortentwicklung
der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006 (GSiFoG; BGBl. I S. 1706 f.) mit
Wirkung ab 1.1.2007 (Art. 16 Abs. 4 GSiFoG). In der Begründung des Gesetzesentwurfs
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD (BT-Drucks. 16/1410 S. 24) ist ausgeführt, dass
die pauschalierte Leistungsgewährung nach dem BAföG und der
Berufsausbildungsbeihilfe zu Ausbildungsabbrüchen führen kann, wenn die in der
Ausbildungsförderung berücksichtigten Leistungen für Unterkunft und Heizung für eine
Existenzsicherung nicht ausreichen. Der Gesetzgeber wollte mit § 22 Abs. 7 SGB II also
erkennbar einen Ausgleich für die Pauschalierungen der Bedarfe im Recht der
Ausbildungsförderung erreichen. Genau dieses Ergebnis wird durch die
Berechnungsmethode der Beklagten erzielt: Die Klägerin erhält mit ihrem Einkommen,
den Leistungen für die Ausbildungsförderung und dem Zuschuss für die
Unterkunftskosten zusammen genau ihren Anteil an den Unterkunftskosten.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Die Revision war gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, weil die Rechtsfrage
umstritten und höchstrichterlich noch nicht entschieden ist.
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