Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 08.09.2008

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschluss vom 08.09.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Aurich S 35 AS 454/08 ER
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 13 AS 178/08 ER
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Aurich vom 24. Juli 2008 wird als
unzulässig verworfen.
Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers auch im Beschwerdeverfahren zu tragen.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten über die Höhe der von der Antragsgegnerin zugunsten des Antragstellers zu übernehmenden
Kosten der Unterkunft nach § 22 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Während die Antragsgegnerin mit
Bescheid vom 21. Mai 2008 dem Antragsteller für den Bewilligungszeitraum Juni bis November 2008 zu
berücksichtigende Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 221,05 EUR zuerkannte, hat der
Antragsteller nach erfolglosem Widerspruch vor dem Sozialgericht (SG) Aurich die Verpflichtung der Antragsgegnerin
im Wege der einstweiligen Anordnung begehrt, für Kosten der Unterkunft und Heizung monatlich insgesamt 289,08
EUR zu übernehmen.
Mit Beschluss vom 24. Juli 2008 entsprach das SG diesem Antrag und verpflichtete die Antragsgegnerin im Wege der
einstweiligen Anordnung, vorläufig Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung von Kosten der Unterkunft
und Heizung in der Zeitspanne 23. Juni bis 30. November 2008 in Höhe von insgesamt monatlich 289,08 EUR zu
gewähren. Zur Begründung hat das SG u. a. ausgeführt, dass es entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin nicht
darauf ankomme, dass der Antragsteller zusammen mit Frau S. als Wohngemeinschaft in einer ca. 90 qm großen
Wohnung – und damit in einer unangemessen großen Wohnung – wohne. Vielmehr komme es auf die konkrete
Angemessenheit der betreffenden Wohnung und den auf den Antragsteller entfallenden Anteil der Unterkunftskosten
an, die unter Berücksichtigung des Mietspiegels für die Stadt A. als angemessen anzusehen seien. Am Ende des
Beschlusses hat das SG darauf hingewiesen, dass gegen den Beschluss die Beschwerde ausgeschlossen sei.
Gegen den ihr am 25. Juli 2008 zugestellten Beschluss führt die Antragsgegnerin am 7. August 2008 Beschwerde.
Sie macht geltend: Die Beschwerde sei zulässig, denn bei der dem Beschluss zugrunde liegenden Rechtsfrage
handele es sich um eine Angelegenheit von grundsätzlicher Bedeutung i. S. von § 144 Abs. 2 Nr. 1
Sozialgerichtsgesetz (SGG). Es sei eine weit über dem Einzelfall hinausreichende Frage, ob beim Zusammenleben
eines Hilfesuchenden in einer Wohngemeinschaft, deren übrige Mitglieder Nichthilfeempfänger seien, ein Abschlag
von der für einen Ein-Personen-Haushalt geltenden maximalen Wohnfläche vorzunehmen sei, so dass bei
Wohngemeinschaften Wohnfläche als angemessener Wohnraum für den Hilfesuchenden allenfalls eine Wohnfläche
von 40 qm anzuerkennen sei. Jedenfalls habe in dieser Richtung das Hessische LSG mit Beschluss vom 19. Mai
2008 – L 9 AS 91/08 B ER – und damit abweichend vom Beschluss des 9. Senats des erkennenden Gerichts vom 13.
April 2006 – L 9 AS 131/06 ER – entschieden.
Der Antragsteller ist der Beschwerde entgegengetreten und macht geltend, dass sie unzulässig sei.
II.
Die Beschwerde ist als unzulässig zu verwerfen (§ 202 SGG i. V. m. § 522 Abs. 1 Satz 2 Zivilprozessordnung - ZPO -
).
Nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG in der Fassung des am 1. April 2008 in Kraft getretenen Gesetzes zur Änderung des
Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl. I S. 444 ff) sind Beschwerden in
Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur dann noch zulässig, wenn in der Hauptsache die Berufung zulässig
wäre. In Verfahren, die eine Geld- oder geldwerte Sach- oder Dienstleistung betreffen, ist danach in Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes die Beschwerde gem. § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i. V. m. § 144 Abs. 1 Nr. 1 in der ab 1.
April 2008 geltenden Fassung lediglich dann noch statthaft, wenn der streitige Betrag den Schwellenwert für eine
zulassungsfreie Berufung i. H. v. 750,00 EUR übersteigt oder wenn die Beschwerde wiederkehrende oder laufende
Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.
Diese Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Beschwerde sind vorliegend nicht erfüllt. Denn für den
sechsmonatigen Bewilligungszeitraum, der mit dem Bescheid der Antragsgegnerin vom 21. Mai 2008 geregelt und
welcher vom Beschluss des SG vom 24. Juli 2008 erfasst wurde, wurden Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe
von monatlich zunächst 221,05 und später 250,05 EUR erfasst, so dass bei dem hier zuletzt streitigen
Differenzbetrag von monatlich 38,84 EUR der maßgebliche Schwellenwert nicht erreicht wird.
Die Belastung der Antragsgegnerin liegt damit wertmäßig unter dem Schwellenwert von 750,00 EUR, bei dessen
Erreichen nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG erst eine Berufung ohne Zulassung erhoben werden kann. Daraus
folgt, dass auch die Beschwerde im Eilverfahren ausgeschlossen ist.
Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ergibt sich auch nichts anderes daraus, dass möglicherweise vom SG
in einem Urteil in einem Hauptsacheverfahren die Berufung zugelassen werden könnte (vgl. § 144 Abs. 2 i. V. m. Abs.
3 SGG) oder dass die Nichtzulassung der Berufung durch das SG mit der Beschwerde nach § 145 SGG angefochten
werden könnte. Denn nach dem Wortlaut der Regelung in § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ist es erforderlich, dass die
Berufung "zulässig" ist. Dies wäre aber nach dem Wortlaut auch im Falle einer Zulassung der Berufung wegen
grundsätzlicher Bedeutung gem. § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG nicht der Fall. Denn nach dieser Norm wäre die Berufung
nicht "zulässig", sondern "zuzulassen". Daher spricht schon der Wortlaut der hier in Rede stehenden Norm dafür,
nicht auf eventuelle Zulassungsgründe eines Hauptsacheverfahrens wegen grundsätzlicher Bedeutung oder auf eine
hypothetische Nichtzulassungsbeschwerde nach § 145 SGG abzustellen (vgl. dazu: Beschluss des Senats vom 17.
Juli 2008 – L 13 AS 140/08 ER -; Beschluss des 9. Senats des erkennenden Gerichts vom 28. Juli 2008 – L 9 AS
426/08 ER -; OVG Bremen, Beschluss vom 7. Juli 2008 – S 2 B 245/08 -; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2.
Juni 2008 L 28 B 919/08 AS ER – Rdn. 3, zitiert nach juris).
Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin kann die Regelung in § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG auch nicht erweiternd dahin
verstanden werden, der allgemeine Verweis auf die Wertgrenzen der §§ 144 ff. SGG beinhalte auch die Berechtigung
des SG, in seiner Entscheidung nach § 86 b Abs. 2 SGG die Beschwerde zuzulassen, oder die Möglichkeit des
Beschwerdegerichts, in einem Beschwerdeverfahren inzident die Voraussetzungen einer Nichtzulassungsbeschwerde
nach § 145 SGG durchprüfen zu können. Denn ein derartiges Verständnis würde dem Sinn und Zweck der neu
eingeführten Regelung zuwider laufen. Die Norm beabsichtigt nämlich in erster Linie in Verfahren des einstweiligen
Rechtsschutzes eine Entlastung der Landessozialgerichte zu erreichen, die bei Zulassung der Beschwerde (sei es
durch das SG, sei es in einem inzidenten Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren) wieder unterlaufen würde (vgl. zur
beabsichtigten Entlastung: BT-Drs. 16/7716, S. 22 und 32 – dort zu Nr. 29 Buchstabe b, abgedruckt auch auf S. 106
bei Paulat/Sonnemann, Sozialgerichtsgesetz, Textausgabe mit Erläuterungen und Materialien, Stuttgart 2008). Ferner
sollen durch die Neuregelung die Rechtsschutzmöglichkeiten im Verfahren zur Gewährung einstweiligen
Rechtsschutzes, in denen in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre, gegenüber den
Rechtsschutzmöglichkeiten im Hauptsacheverfahren nicht privilegiert werden (vgl. dazu: BR-Drs. 820/07, S. 28/29).
Hinzu kommt, dass ein anderes Verständnis der Norm in dem Sinne, die Möglichkeit der gerichtlichen Zulassung der
Beschwerde im Ausgangsverfahren durch das SG sei erlaubt, nicht hinreichend berücksichtigt, dass nicht jedem
Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zwingend ein Hauptsacheverfahren bei Gericht nachfolgen
muss. Hinzu kommt, dass auch sonst rein hypothetische Überlegungen angestellt werden müssten, die in einem
späteren Hauptsacheverfahren keineswegs das dann entscheidende Gericht hinsichtlich der Zulassung der Berufung
binden könnten (vgl. auch dazu: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10. April 2008 – L 9 B 74/08 AS ER -).
Schließlich hätte es sonst beim Gesetzgebungsverfahren nahe gelegen, bei der Neuformulierung von § 172 Abs. 3
SGG auch eine entsprechende Anwendung von § 144 SGG einzufügen, was aber unterblieben ist. Vielmehr kommt in
der Neufassung der allgemeine gesetzgeberische Gedanke zum Ausdruck, es möglichst unterhalb einer bestimmten
Wertgrenze – hier dem Schwellenwert von 750,00 EUR oder einer länger als ein Jahr bezogenen Leistung – in
Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes es bei einer erstinstanzlichen Entscheidung bewenden zu
lassen, die ohnehin ihrer Rechtsnatur nach nur vorläufig sein kann. Die Antragsgegnerin hat es als die zur Leistung
verpflichtete Behörde ohnehin in der Hand, später in einem Hauptsacheverfahren ihren Rechtsstandpunkt deutlich zu
machen. Erfolgt dann in einem nach Erlass des Eilbeschlusses ergehenden Urteil in der Hauptsache eine Zulassung
der Berufung, kommt allenfalls ein Abänderungsbeschluss nach § 86 b Abs. 1 Satz 4 SGG analog in Betracht, soweit
er sich nicht ohnehin durch eine zeitliche Befristung in der einstweiligen Anordnung erledigt hat (vgl. Krodel, Das
sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. Aufl. Baden-Baden 2008, Rdn. 49, S. 35). Dabei verkennt der Senat nicht, dass
gerade im Bereich der Streitigkeiten um Leistungen nach dem SGB II durchaus nicht selten der Fall eintreten kann,
dass in Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes der Schwellenwert nicht erreicht wird, so dass
allgemeine interessierende Rechtsfragen - wie sie im vorliegenden Verfahren durch die Antragsgegnerin angesprochen
werden - möglicherweise nur in einem zeitlich wesentlich später liegenden Hauptsacheverfahren einer
zweitinstanzlichen Klärung zugeführt werden können. Dieser "Nachteil" wird aber durchaus aufgewogen durch den
"Vorteil", dass bei Streitgegenständen, die unterhalb des Schwellenwertes liegen, im einstweiligen Verfahren durch
erstinstanzliche Entscheidungen schnell eine Klärung herbeigeführt werden kann. Der Umstand, dass möglicherweise
für einen gewissen Zeitraum zu bestimmten Rechtsfragen divergierende Beschlüsse verschiedener Sozialgerichte
vorliegen können, ist demgegenüber vom Gesetzgeber im Interesse einer zügigen Abwicklung der Eilverfahren und
der Entlastung der Landessozialgerichte hingenommen worden.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist gem. § 177 SGG unanfechtbar.