Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 29.07.2008

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 29.07.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Bremen S 7 KR 142/05
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 1 KR 22/08
Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche
Kosten auch des Berufungsverfahrens zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Kläger und Beklagte streiten um die Berechnung der Belastungsgrenze für Zuzahlungen chronisch Kranker und
vertreten unterschiedliche Rechtsauffassungen zu den dabei zugrunde zu legenden Freibeträgen für Kinder.
Der im Jahre 1946 geborene Kläger ist mit seiner chronisch kranken Ehefrau (Bescheinigung der Hausärzte vom 25.
März 2004) und seinen beiden Kindern bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. In seinem Antrag auf
Befreiung von Zuzahlungen für das Kalenderjahr 2004 (vom 25. März 2004) gab der Kläger (Altersteilzeit seit dem 1.
Januar 2003) monatliche Bruttoeinnahmen für sich in Höhe von 2.906,- EUR nebst Sonderzahlungen in Höhe von
1.100,- EUR sowie 400,- EUR für die in geringfügigem Umfang tätige Ehefrau an. Die im gemeinsamen Haushalt
lebenden Kinder erzielten keinerlei Einkünfte.
Die Beklagte berechnete die Belastungsgrenze für Zuzahlungen und erließ den angefochtenen Bescheid vom 22.
März 2005, mit dem sie einen Erstattungsbetrag an den Kläger in Höhe von 193,02 EUR festsetzte. Dabei hatte die
Beklagte die §§ 62 Abs. 2 Satz 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) i.V.m. § 32 Abs. 6 Satz 1 und 2 des
Einkommenssteuergesetzes (EStG) der Gestalt angewendet, dass ein Freibetrag je Kind in Höhe von 3.648,- EUR
zugrunde zu legen sei.
Der Kläger erhob Widerspruch und vertrat die Auffassung, dass für jedes Kind ein Freibetrag von insgesamt 5.808,-
EUR zugrunde zu legen sei. Zur Begründung machte er geltend, dass § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V auf § 32 Abs. 6 Satz
1 und 2 EstG verweise der nach seinem Wortlaut (Satz 1) ausdrücklich einen Freibetrag von 1.824,- EUR (für das
sächliche Existensminimum des Kindes) sowie einen zusätzlichen Freibetrag von 1.080,- EUR (für den Betreuungs-
und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf des Kindes) vorsehe, der sich – bei Verdoppelung nach Satz 2 der Vorschrift
– auf 5.080,- EUR je Kind summiere.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 6. Oktober 2005 mit der Begründung zurück, dass
sich der Freibetrag in Höhe von 3.648,- EUR aus der Begründung des Gesetzesentwurfs zu § 32 Abs. 6 Satz 1 SGB
ergebe und auch das zuständige Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) die
Rechtsauffassung sowohl der Beklagten als auch der anderen gesetzlichen Krankenkassen teile.
Mit seiner hiergegen am 11. Oktober 2005 vor dem Sozialgericht (SG) Bremen erhobenen Klage hat der Kläger
ergänzend geltend gemacht, dass der Wortlaut der maßgeblichen Vorschrift (des von § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V in
Bezug genommenen § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG) eindeutig und deshalb von den gesetzlichen Krankenkassen
anzuwenden sei. Habe der Gesetzgeber tatsächlich einen anderen Willen verfolgt, hätte er das Gesetz ändern
müssen.
Das SG hat die Beklagte mit hier angefochtenem Urteil vom 20. November 2007 (unter Abänderung des
entgegenstehenden Bescheides in Gestalt des Widerspruchsbescheides) verurteilt, dem Kläger weitere 43,20 EUR zu
erstatten und die Berufung zugelassen. Zur Begründung hat das SG im Einzelnen ausgeführt, bei rechnerischer
Richtigkeit im Übrigen sei der Freibetrag je Kind von der Beklagten unzutreffend zu niedrig (3.648,- EUR) zugrunde
gelegt worden und statt dessen mit 5.080,- EUR anzusetzen. Dies ergebe sich aus dem eindeutigen Gesetzeswortlaut
des § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG, der wegen dieser Eindeutigkeit keinen Raum für eine historische bzw. teleologische
Auslegung lasse. Auch das SG Lübeck habe in seiner Entscheidung (vom 19. Januar 2006, S 3 KR 1501/04) allein
den Wortlaut zugrunde gelegt und dabei u.a. zur Begründung ausgeführt, dass die Begründung des Gesetzesentwurfs
keine andere Rechtsanwendung rechtfertige, weil sich die (auch von der dortigen) Beklagten vertretene
Rechtsauffassung allein auf einen Klammerzusatz innerhalb der Begründung zum Gesetzesentwurf stütze. Ein bloßer
Klammerzusatz könne jedoch keine vom Gesetzeswortlaut abweichende Auslegung rechtfertigen.
Gegen das ihr am 3. Januar 2008 zugestellte Urteil richtet sich die am 14. Januar 2008 eingelegte Berufung, mit der
die Beklagte ergänzend geltend macht, dass das Urteil des SG Lübeck nicht bestandskräftig geworden, sondern
mittels Sprungrevision angefochten worden sei. Dabei habe das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom 10. Mai
2007 ( B 10 KR 1/06 R) den Rechtsstreit zurückverwiesen (aus prozessökonomischen Gründen an das LSG) und die
vorliegend im Streit stehende Rechtsfrage der Auslegung des § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V i.V.m. § 32 Abs. 6 Satz 1
EStG ausdrücklich offen gelassen. Vor diesem Hintergrund sei gegen das Urteil des SG Bremen die Berufung
geboten gewesen und hilfsweise die Zulassung Revision zu beantragen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
1. das Urteil des Soziagerichts Bremen vom 20. November 2007 aufzuheben, hilfsweise 2. die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil des SG für zutreffend und betont nochmals den eindeutigen Gesetzeswortlaut des §
32 Abs. 6 Satz 1 EStG, der für eine Auslegung mit anderem Ergebnis keinen Raum lasse.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des erkennenden Senats durch Urteil seines Berichterstatters als
Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug
genommen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Der erkennende Senat konnte gemäß §§ 155, Abs. 4, 3, 1, 124 Abs. 2, 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch
Urteil seines Berichterstatters als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten
zuvor hiermit einverstanden erklärt haben.
Die Berufung wurde vom SG gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 SGG zugelassen. Sie ist auch im Übrigen zulässig.
Die Berufung der Beklagten ist jedoch nicht begründet.
Das SG hat die maßgeblichen Rechtsgrundlagen herangezogen und richtig angewendet. Insbesondere ist das SG in
tatsächlicher Hinsicht von der beanstandungsfreien Berechnung des Erstattungsbetrages durch die Beklagte
ausgegangen, die unter den Beteiligten auch – mit Ausnahme der Frage der Höhe der Freibeträge – nicht streitig ist.
In rechtlicher Hinsicht tritt der erkennende Senat dem Urteil des SG bei. Danach kann § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V
i.V.m. § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG auch nach Überzeugung des erkennenden Senats ausschließlich nach dem Wortlaut
der Vorschrift angewendet werden, der eindeutig ist: Nach § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V vermindern sich die jährlichen
Bruttoeinnahmen für jedes Kind des Versicherten und des Lebenspartners "um den sich nach § 32 Abs. 6 Satz 1 und
Satz 2 des Einkommenssteuergesetzes ergebenden Betrag". Dieser "Betrag" wird nach dem ausdrücklichen Wortlaut
des § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG aus dem für jedes Kind zu berücksichtigenden Freibetrag (in Höhe von 1.824,- EUR)
sowie dem Freibetrag (in Höhe von 1.080,- EUR) gebildet. Eine – von der Beklagten und den gesetzlichen
Krankenkassen geforderte – Beschränkung des "Betrages" auf den "Freibetrag für Kinder" (also unter Ausblendung
des Freibetrages in Höhe von 1.080,- EUR) ergibt sich aus diesem Gesetzeswortlaut eindeutig nicht.
Dabei verkennt der Senat keineswegs, dass die Begründung zum Gesetzesentwurf mit dem dort genannten Freibetrag
in Höhe von "3.648,- EUR" (unter Einschluss der Verdoppelung nach Satz 2 des § 32 Abs. 6 Satz 2 EStG) allein den
"Freibetrag des Kindes" in Bezug genommen haben dürfte. Dabei muss jedoch einschränkend darauf hingewiesen
werden, dass sich diese Betragsangabe allein in einem Klammerzusatz findet und keinerlei (nähere) Begründung
enthält, weshalb die Ableitung eines eindeutigen gesetzgeberischen Willens hieraus nicht ohne weiteres möglich ist.
Auch ist dem Senat nicht entgangen, dass nach einschlägiger Kommentar-Literatur die finanziellen Auswirkungen des
die Gesetzesregelung einführenden GMG als Berechnungsgrundlagen allein auf dem Freibetrag für Kinder in Höhe von
3.648,- EUR fußten (vgl. nur: Gerlach in: Hauck/Haines, Kommentar zum SGB, § 62 SGB V, Rdn. 53). Dies setzt
allerdings diejenige Auslegung voraus, die für den Senat (und zwei SG) gerade nicht zweifelsfrei herleitbar ist.
Schließlich verkennt der Senat auch nicht, dass in der einschlägigen Kommentar-Literatur zum Teil die Auffassung
der gesetzlichen Krankenkassen bestätigt wird. Allerdings geschieht dies ohne eigentliche Begründung (so etwa:
Höfler in Kasseler-Kommentar, § 62 SGB V, Rdn. 19; Baier in Krauskopf, Kommentar zum SGB V, § 62 Rdn. 44).
Unabhängig von den vorstehenden Zweifelsfragen zur Auslegung ist für den erkennenden Senat jedoch – ebenso wie
für die SG – der maximale Wortsinn der Gesetzesvorschrift ausschlaggebend. Er bildet den Rahmen jeder möglichen
Auslegung. Nach dem Wortlaut jedoch, der vorliegend wegen seiner Eindeutigkeit zugleich den maximalen Wortsinn
begrenzt, ist in § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V ausschließlich von dem in § 32 Abs. 6 Satz 1 und 2 EStG
wiedergegebenen "Betrag" die Rede, nicht aber von einer – irgendwie gearteten – Begrenzung auf einen Teil-Betrag
(etwa des Freibetrages für Kinder) (ebenso: SG Lübeck, Urteil vom 19. Januar 2006, S 3 KR 1501/04; Gerlach, a.a.O.,
§ 62 Rdn. 53, letzterer unter Auseinandersetzung mit den Begründungen der Gegenauffassung).
Damit war die Berufung der Beklagten mit der sich aus § 193 Abs. 1 SGG ergebenden Kostenentscheidung
zurückzuweisen.
Die Revisionszulassung erfolgt nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache und –
soweit ersichtlich – ausstehender höchstrichterlicher Entscheidung zum Umfang der freizustellenden Beträge nach §
62 Abs. 2 Satz 3 SGB V i.V.m. § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG.
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