Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 21.06.2007

LSG Nsb: örtliche zuständigkeit, sachliche zuständigkeit, wohnung, sozialhilfe, werkstatt, form, erlass, begriff, niedersachsen, entlastung

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschluss vom 21.06.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 19 SO 167/06 ER
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 13 SO 5/07 ER
Die Beschwerde des Beigeladenen gegen den Beschluss des Sozialgerichts Stade vom 21. Dezember 2006 wird
zurückgewiesen.
Der Beigeladene hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Im Übrigen sind
Kosten nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Beigeladene und der Beschwerdegegner streiten darüber, wer die Kosten für Eingliederungsmaßnahmen
zugunsten des Antragstellers zu tragen hat.
Der im August 1982 geborene Antragsteller leidet an einer erheblichen intellektuellen Entwicklungsverzögerung und
einer infantilen Persönlichkeitsstörung. Ab dem Oktober 2002 war er in einer Wohngruppe in I. untergebracht und
besuchte die Werkstatt für behinderte Menschen in J ... Nachdem er vorübergehend alleine in einer von seinem
Betreuer für ihn angemieteten Wohnung gewohnt hatte, wurde er zum September 2004 stationär in einer Einrichtung
der K. der L. aufgenommen und besuchte dort ab dem Januar 2005 die Werkstatt für behinderte Menschen. Der
Beschwerdegegner gewährte dem Antragsteller mit Bescheiden vom 10. September 2004 und 10. Juni 2005
Eingliederungshilfe für die stationäre Maßnahme.
Mit Schreiben vom 22. Juni 2006 beantragte der Antragsteller – vertreten durch seine neue Betreuerin – beim
Beschwerdegegner die weitere Übernahme von Eingliederungshilfe in Form von ambulanten Hilfen, weil er
beabsichtige, entsprechend den Empfehlungen der Mitarbeiter der K. eine eigene Wohnung zu beziehen, von wo aus
er die Werkstatt für behinderte Menschen besuchen und ambulante Betreuung im Umfang von 6 Wochenstunden
erhalten sollte. Diesen Antrag leitete der Beschwerdegegner mit Schreiben vom 26. Juni 2006 an den Beigeladenen
mit dem Bemerken weiter, dass nunmehr nach dem Wechsel von der stationären Einrichtung in eine ambulante
Betreuung der Träger der Sozialhilfe für die Leistungen am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Hilfesuchenden
sachlich und örtlich zuständig sei. Dies wurde mit Schreiben vom gleichen Tage dem Antragsteller mitgeteilt. Nach
einem Vermerk des Gesundheitsamtes des Beigeladenen vom 21. August 2006 wurde der geplante Auszug aus der
Wohngruppe der K. und der Übergang in eine ambulante Betreuung in einer eigenen Wohnung im Umfang von bis zu
sechs Fachleistungsstunden als geeignet angesehen. Mit Bescheid vom 24. November 2006 hat es der Beigeladene
abgelehnt, dem Antragsteller Eingliederungsleistungen zu gewähren. Er vertrat dazu die Ansicht, dass er für die
Leistungsgewährung nicht sachlich zuständig sei, sondern aufgrund der Regelung in § 98 Abs. 5 Sozialgesetzbuch
Zwölftes Buch (SGB XII) der Beschwerdegegner nach wie vor zur Leistungsgewährung verpflichtet sei. Dagegen legte
der Antragsteller vertreten durch seine Betreuerin mit Schreiben vom 8. Dezember 2006 Widerspruch ein, über den –
soweit ersichtlich – bislang noch nicht entschieden worden ist.
Am 12. Dezember 2006 hat sich der Antragsteller an das Sozialgericht (SG) Stade mit der Bitte um Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes gewandt. Er hat geltend gemacht, dass er den von ihm ins Auge gefassten Mietvertrag
mit gutem Gewissen erst dann unterschreiben könne, wenn ein Kostenträger für die ihm zu gewährenden
Sozialhilfeleistungen feststehe. Der Übergang von der stationären Einrichtung in eine eigene Wohnung mit ambulanter
Betreuung sei für ihn sinnvoll und nötig, so dass der Streit der Sozialleistungsträger nicht zu seinen Lasten gehen
dürfe.
Nach Anhörung des Antragsgegners und des Beigeladenen hat das SG Stade mit Beschluss vom 21. Dezember 2006
den Beigeladenen im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller die Kosten für das ambulant
betreute Wohnen ab Beginn dieser Maßnahme vorläufig zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der
Beigeladene jedenfalls vorläufig gemäß der Eilzuständigkeitsregelung in § 14 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB
IX) zuständig sei. Sinn dieser Vorschrift sei es, möglichst rasch eine Klärung der sachlichen Zuständigkeit aus der
Sicht des Hilfesuchenden zu erhalten; allerdings dürfte in der Sache bei einer Hauptsacheentscheidung wohl einiges
dafür sprechen, dass der Antragsgegner nach wie vor gem. § 98 Abs. 5 SGB XII der zuständige Leistungsträger sei.
Gegen den ihm am 28. Dezember 2006 zugestellten Beschluss hat der Beigeladene am 24. Januar 2007 Beschwerde
eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat. Er macht geltend: Zwar sei der Antragsteller nun auf jeden Fall zum 1.
Februar 2007 in die eigene Wohnung umgezogen und erhalte Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch
Zweites Buch (SGB II), da er im Produktionsbereich der Werkstatt für behinderte Menschen tätig sei. Indessen habe
das SG zu Unrecht die fortbestehende sachliche Zuständigkeit des Antragsgegners für die Eingliederungshilfe
verneint, weil der Antragsteller mit dem freien Träger der K. Leistungen in Form einer ambulanten betreuten
Wohnmöglichkeit abgemacht habe, so dass die Sonderregelung über die fortbestehende Zuständigkeit nach § 98 Abs.
5 SGB XII eingreife. Dies sei in der Sache auch richtig im angefochtenen Beschluss vom SG erkannt worden, so
dass es nicht richtig sei, ihn im Wege der vorläufigen Leistungsgewährung nach § 14 SGB IX zur vorläufigen
Leistungsübernahme zu verpflichten.
Der Antragsgegner ist der Beschwerde entgegengetreten und vertritt die Ansicht, die Beschwerde sei schon
unzulässig, da der Beigeladene durch den angegriffenen Beschluss des SG nicht beschwert sei. Denn es handele
sich lediglich um eine Entscheidung im Eilverfahren. Auch sei es nicht richtig, von seiner fortbestehenden sachlichen
Zuständigkeit auszugehen, denn die in der betreffenden Regelung angesprochenen ambulanten betreuten
Wohnmöglichkeiten würden voraussetzen, dass die Wohnung vom freien Träger angeboten werde. Das sei hier beim
Antragsteller aber gerade nicht der Fall, da er sich die Wohnung selbstständig gesucht habe.
Dem Antragsteller ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Inhalte der Gerichtsakte und der
beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beschwerdegegners und des Beigeladenen als Beschwerdeführer ergänzend
Bezug genommen; sie sind Gegen-stand der Entscheidungsfindung gewesen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig.
Entgegen der Ansicht des Beschwerdegegners kann nicht davon ausgegangen werden, durch den angefochtenen
Beschluss sei der Beschwerdeführer nicht beschwert. Denn auch eine vorläufige Regelung im Verfahren auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung kann eine Beschwer darstellen. Auch steht der Zulässigkeit der Beschwerde nicht
entgegen, dass das SG im Wege der einstweiligen Anordnung den Beigeladenen zur Leistungen verpflichtet hat. Denn
nach der Neufassung von § 75 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Art. 9 des Gesetzes zur Fortentwicklung der
Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 (BGBl. I Seite 1706, 1809) ist die Möglichkeit geschaffen
worden, auch beigeladene Leistungsträger nach dem Sozialgesetzbuch Zweites und Zwölftes Buch zu verurteilen;
dies muss nach Ansicht des Senats auch im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Beachtung finden.
Indessen hat die Beschwerde keinen Erfolg.
Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers spricht einiges dafür, dass das SG zutreffend nach § 14 SGB IX die
vorläufige sachliche Zuständigkeit des Trägers für den Wohnort des Antragstellers festgestellt hat. Denn es liegt
gerade im Sinn dieser Regelung, schnell eine Zuständigkeitsklärung herbeizuführen, die Leistungsgewährung zu
veranlassen, damit Zuständigkeitsstreitigkeiten nicht mehr zulasten des Behinderten ausgetragen werden (vgl. BSG,
Urteil vom 26.10.2004 – B 7 AL 16/04 R -, FEVS56, 385 (387)), und dann erst später ein Verfahren der
Rückabwicklung zwischen den Leistungsträgern vorzunehmen, wenn sich herausstellen sollte, dass der leistende
Rehabilitationsträger tatsächlich für die Leistungen nicht zuständig war (vgl. § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX). Daher soll
regelmäßig § 14 SGB IX als speziellere Regelung vor § 43 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) zur Anwendung
kommen. Lediglich dann, wenn beide angegangenen Träger lediglich über ihre örtliche Zuständigkeit streiten, muss die
Vorschrift über die Regelung von vorläufigen Leistungen nach § 43 SGB I zum Zuge kommen. Denn sonst würde der
Streit um die örtliche Zuständigkeit zu unzumutbaren Verzögerungen bei der Leistung führen, und der zuerst
angegangene Rehabilitationsträger würde seiner Kenntnis- und Einflussmöglichkeiten wegen der Ortsnähe des
Betreuungs- und Pflegeangebots durch freie Träger zur Steuerung der Notlage verlustig gehen (vgl. dazu auch: OVG
Lüneburg, Beschluss vom 23. Juli 2003 – 12 ME 297/93 – in: FEVS 55, 384).
Als selbstständig tragende Erwägung kommt im vorliegenden Fall hinzu, dass nach Ansicht des Senats gegenwärtig
Überwiegendes dafür spricht, dass eine fortbestehende Zuständigkeit des Beschwerdegegners im Sinne von § 98
Abs. 5 SGB XII nicht mehr gegeben ist. Nach dieser Vorschrift ist derjenige Träger der Sozialhilfe weiterhin örtlich
zuständig, der vor Eintritt in die Wohnform der "ambulanten betreuten Wohnmöglichkeit" für Eingliederungsleistungen
nach dem Sechsten bis Achten Kapitel des SGB XII Leistungen erbracht hat. Der im Gesetz verwandte Begriff der
ambulanten betreuten Wohnmöglichkeiten wird aber nicht weiter erläutert; allerdings wird in der Literatur allgemein
ausgeführt, dass damit der Gesetzgeber an den ähnlichen Begriff in § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX angeknüpft hat
(Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, München 2005, § 98 Rdn. 31). Indessen ist damit für die Frage nichts
gewonnen, ob es der Annahme der fortbestehenden Zuständigkeit im Sinne der Vorschrift entgegensteht, dass der
betreffende Hilfesuchende eine Wohnung selbstständig angemietet hat. Nach Ansicht des Senats spricht aber schon
der Wortlaut der Vorschrift, wonach Formen ambulanter betreuter Wohnmöglichkeiten angesprochen werden, dafür,
dass es sich bei dem "Wohnen" im Sinne der Vorschrift um eine Wohnung handeln muss, die vom freien Träger der
Leistungen organisiert wurde. Denn die Regelung geht davon aus, dass der freie Träger dem Hilfesuchenden die
Möglichkeit zum Wohnen bietet. Damit ist es aber nicht zu vereinbaren, wenn – wie hier – der Hilfesuchende
selbstständig eine Wohnung sucht und anmietet, in der er dann von den Mitarbeitern des freien Trägers aufgesucht
wird, um ihn – den Antragsteller – ambulant zu betreuen (vgl. auch: Nds. Hinweise zur Sozialhilfe, Stand Juli 2006, Nr.
98.5.1; vgl. zu den Folgen bei der Wahl der Wohnform: Castendiek/Hoffmann, Das Recht der behinderten Menschen,
2. Auflage Baden-Baden 2005, Rdn. 411 ff.).
Dieses Verständnis der Regelung wird durch den Sinn und Zweck der Vorschrift unterstützt, so wie sie der Senat
versteht. § 98 Abs 5 SGB XII ist eine Ausnahmeregelung; auch wurde sie in das Gesetz aufgenommen, um eine
gewisse Entlastung derjenigen örtlichen Träger der Sozialhilfe zu ermöglichen, bei denen ambulante betreute
Wohnmöglichkeiten von freien Trägern geschaffen wurden. Denn so sinnvoll diese Leistungsform von
Eingliederungshilfe ist, so wäre es misslich, wenn diejenigen örtlichen Träger durch zunehmende Kosten stärker
belastet würden, in deren Gebiet ein solcher Anbieter von Eingliederungshilfe seinen Sitz hat. In derartigen
Ausnahmefällen soll von § 98 Abs. 5 SGB XII an die örtliche Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers angeknüpft werden,
wo sich der Hilfesuchende vor Eintritt in diese Wohnform aufgehalten hat (vgl. dazu auch: SG Oldenburg, Beschluss
vom 19. Dezember 2005 – S 2 SO 256/05 ER – ZfF 2007, 17). Nach Ansicht des Senats wird dadurch auch nicht der
Sinn und Zweck der ambulanten betreuten Wohnmöglichkeiten in Frage gestellt, die es für die betreffenden
Hilfesuchenden gerade erleichtern soll, einen Übergang von stationärer Betreuung in "weicher" Form zu einem
möglichst selbstständigen Leben zu ermöglichen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).