Urteil des LSG Hamburg vom 07.08.2006

LSG Ham: stadt hamburg, öffentlich, bestattungskosten, leiche, erfüllung, mittellosigkeit, verfügung, zivilprozessordnung, bad, versicherung

Landessozialgericht Hamburg
Beschluss vom 07.08.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 61 SO 314/06 ER
Landessozialgericht Hamburg L 4 B 390/06 ER SO
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 7. August 2006 wird
zurückgewiesen. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 7.
August 2006 abgeändert: Der Antragsgegner wird einstweilen verpflichtet, darlehensweise die im Sinne des § 74 SGB
XII erforderlichen Kosten der Bestattung der Mutter der Antragstellerin, Frau E. N., zu übernehmen. Der
Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das gesamte Verfahren. Der Antragstellerin
wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren gewährt und Herr Rechtsanwalt Dr. Dr. W. zur Vertretung
beigeordnet. Rechtsmittelbelehrung: Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Gründe:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 7. August 2006, der das
Sozialgericht nicht abgeholfen und die es dem Senat zur Entscheidung vorgelegt hat (§ 174 SGG), ist zulässig (§§
172, 173 SGG) und in der Sache begründet.
Die Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg.
Gemäß § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Absatzes 1 (einstweiliger
Rechtsschutz bei Anfechtungsklagen) nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den
Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die
Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Satz 1).
Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz
2).
Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs ist § 74 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII). Nach dieser
Vorschrift sind die erforderlichen Kosten einer Bestattung zu übernehmen, soweit den hierzu Verpflichten nicht
zugemutet werden kann, die Kosten zu tragen. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein
möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung erfüllt die Antragstellerin die Anspruchsvoraussetzungen
der Vorschrift.
Die Antragstellerin ist "Verpflichtete" im Sinne des § 74 SGB XII. Es kann dahingestellt bleiben, ob sich die
Verpflichtung der Antragstellerin aus der zivilrechtlichen Regelung des § 1968 BGB ergibt, wonach der Erbe die
Kosten der Beerdigung des Erblassers trägt. Die Antragstellerin ist jedenfalls auf Grund der landesrechtlich geregelten
öffentlichrechtlichen Bestattungspflicht eine Verpflichtete im Sinne der Vorschrift.
Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Hamburgisches Bestattungsgesetz (HmbBestattG) muss jede Leiche bestattet werden. Für
die Bestattung haben gemäß § 10 Abs. 1 Satz 2 HmbBestattG die Angehörigen zu sorgen. Bestattungspflichtig sind
vorliegend gemäß § 22 Abs. 4 HmbBestattG gleichrangig die Antragstellerin und ihre drei Brüder. Die genannten
bestattungsrechtlichen Vorschriften regeln zwar unmittelbar nur die öffentlich-rechtliche Bestattungspflicht und
genügen damit dem ordnungsrechtlichen Zweck, im öffentlichen Interesse die zeitnahe Durchführung der Bestattung
zu gewährleisten, ohne damit die Begräbniskostenregelungen nach anderen Vorschriften zu präjudizieren. Daraus folgt
jedoch nicht, dass die aus der Erfüllung der öffentlich-rechtlichen Bestattungspflicht resultierenden Kosten, wie
Entgeltansprüche des Bestattungsunternehmers und Friedhofsgebühren, nicht Gegenstand einer übernahmefähigen
Kostenverpflichtung im Sinne des § 74 SGB XII sein könnten. Soweit die Zuweisung der öffentlich-rechtlichen
Verantwortung für die Bestattung bei dem dazu Verpflichteten Kosten auslöst, werden diese ihm durch das
Landesrecht zugewiesen und wird der Bestattungspflichtige in Erfüllung seiner öffentlich-rechtlichen Bestattungspflicht
zum Verpflichteten, die Bestattungskosten zu tragen (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.06.1997, BVerwGE 105,51, und
BVerwG, Urt. v. 22.02.2001, BVerwGE 116, 287, zu der nahezu wortgleichen Vorgängervorschrift § 15 BSHG).
Insoweit kann es auch nicht darauf ankommen, ob der öffentlich-rechtlich Bestattungspflichtige schon mit der
Bezahlung der Bestattungskosten in Vorlage getreten ist oder ob er – etwa mangels finanzieller Mittel – noch keine
Leistungen erbracht hat.
Dem Anspruch der Antragstellerin kann beim derzeitigen Erkenntnisstand nicht entgegengehalten werden, die
Kostenlast treffe sie nicht "rechtlich notwendig", weil sie einen realisierbaren Aufwendungsersatz- oder
Ausgleichsanspruch gegen einen Dritten habe. Als Adressat eines solchen Ersatz- oder Ausgleichsanspruchs
kommen hier lediglich die Brüder der Antragstellerin in Betracht. Die Brüder K. und M. sind unstreitig nicht
leistungsfähig bzw. unbekannten Aufenthalts. Unabhängig von etwaiger Leistungsfähigkeit des Bruders S., der als
Hausmeister beschäftigt ist und Familie hat, kann die Antragstellerin auch nicht auf diesen Bruder verwiesen werden.
Er hat - ebenso wie seine ihm in der Erbfolge folgenden Angehörigen - die Erbschaft ausgeschlagen und ist somit
nicht aus § 1968 BGB zur Tragung der Beerdigungskosten verpflichtet. Seiner öffentlichrechtlichen Bestattungspflicht
nach § 10 Abs. 1 Satz 2 HmbBestattG ist er nicht nachgekommen und dazu auch nicht angehalten worden. Die
Beauftragung des Beerdigungsunternehmens erfolgte allein durch die Antragstellerin. Der Bruder S. hatte unter
Hinweis auf das von ihm in der Kindheit durch Verwahrlosung und Missbrauch erlittene Leid jegliche
Kostenübernahme verweigert. In einem zur Akte gerichteten Vermerk des Bürgermeisters der Stadt Bad O. vom 21.
September 2006 wird berichtet, der Bruder der Antragstellerin habe in einem Telefonat die Bereitschaft signalisiert,
sich anteilig an den Kosten der Beerdigung zu beteiligen, wenn es ihm dadurch erspart bleibe, Details über seine
Kindheit darlegen zu müssen. Ob diese Bereitschaft tatsächlich bestand bzw. weiterhin besteht, ist nicht bekannt. Es
fehlt jedenfalls nach wie vor an einer wie auch immer gearteten Äußerung oder Verpflichtung, die vom Bruder der
Antragstellerin selbst stammt. Zudem würde eine nur anteilige Beteiligung an den Kosten die angezeigte
unverzügliche Bestattung der Mutter der Antragstellerin gerade nicht ermöglichen. Dass es dem Antragsgegner trotz
ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und zahlreichen Aktivitäten bei über viermonatigen Bemühungen nicht
gelungen ist, einen leistungsfähigen und -willigen Verpflichteten zu finden, belegt, dass es der Antragstellerin
schwerlich gelingen wird, zeitnah die Kosten anderweitig ersetzt zu erhalten und der dringlich zu erfüllenden
Bestattungspflicht nachzukommen. Gerade unter Berücksichtigung des Umstandes, dass seit dem Tode der Mutter
der Antragstellerin über vier Monate verstrichen sind, kann der Antragstellerin nicht angesonnen werden, ihre etwaigen
Ersatzansprüche erst noch streitig durchzusetzen bzw. den Nachweis zu führen, dass ein Rückgriff nicht möglich ist.
Es würde aber gegen die elementaren Gebote der Pietät und der Totenwürde verstoßen, wenn die Leiche der
verstorbenen Mutter der Antragstellerin, die bereits seit über vier Monaten in einem Kühlhaus gelagert wird, dort auf
unbestimmte Zeit verbleibt. Das fiskalische Interesse des Antragsgegners, für die Bestattungskosten zunächst nicht
aufkommen zu müssen, tritt demgegenüber zurück. Der Senat löst den sich im vorliegenden Fall offenbarenden
Konflikt zwischen familiärer Pietätspflicht und möglicherweise entgegenstehender fiskalischer (Staats-)Raison zu
Gunsten der bestattungswilligen Antragstellerin. Hierbei sieht er sich in Einklang mit der abendländischen Sicht dieser
Problematik, wie sie sich bereits in der Antigone des Sophokles findet und insbesondere seit Hegel (Ästhetik, hrsg.
von Fr. Bassenge, Berlin 1965, Bd. I S. 218, 448, Bd. II S. 564) erneut diskutiert worden ist.
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners kann die Antragstellerin auch nicht darauf verwiesen werden, dass die
Freie und Hansestadt Hamburg als zuständige Ordnungsbehörde nach § 10 Abs. 1 Satz 6 HmbBestattG verpflichtet
sei, die Leiche der Mutter der Antragstellerin bestatten zu lassen. Die Stadt Hamburg hat bislang eine
ordnungsrechtliche Bestattung nicht veranlasst, und es ist ungewiss, ob und wann dies der Fall sein wird. Denn sie
sieht sich daran rechtlich verhindert, weil die Voraussetzungen der Vorschrift nach ihrer Auffassung wegen der
Beauftragung eines Beerdigungsinstituts nicht vorliegen. Hiervon unabhängig gebieten es weder ordnungsbehördliche
noch sozialhilferechtliche Gesichtspunkte, einem zur Durchführung der Bestattung bereiten Angehörigen zur
Vermeidung sozialhilferechtlicher Nachteile die Einschaltung der Ordnungsbehörde aufzuerlegen (vgl. BVerwG, Urt. v.
22.02.2001, a.a.O.).
Nach derzeitigem Erkenntnisstand ist – wie auch das Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss, auf den
insoweit Bezug genommen wird, ausführt – von Mittellosigkeit der Antragstellerin auszugehen. Sie hat belegt, dass
sie laufend Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nach SGB II erhält, und durch ihre eidesstattliche
Versicherung vom 28. August 2006 glaubhaft gemacht, dass ihre Mutter verschuldet war und kein Sparvermögen
hinterlassen hat und dass sie selbst auch kein Sparvermögen besitzt. Damit ist auch die weitere
Anspruchsvoraussetzung des § 74 SGB XII, dass der Antragstellerin die Kostentragung nicht zugemutet werden
kann, glaubhaft gemacht.
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts war nicht nur eine Verpflichtung des Antragsgegners zur anteiligen,
sondern zur gesamten Kostenübernahme auszusprechen, denn bei einer Bestattung handelt es sich um einen
einheitlichen Vorgang, der nicht teilbar ist. Mit dem Ausspruch geht das Gericht auch nicht über das hinaus, was der
Antragstellerin in einem Hauptsacheverfahren zugesprochen werden könnte. Dies folgt bereits daraus, dass die
Verpflichtung - wegen des vorläufigen Charakters des vorliegenden Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes -
lediglich im Darlehenswege erfolgt. Dem Antragsgegner als Sozialhilfeträger wird mit der ausgesprochenen
Verpflichtung zur vorläufigen, darlehensweisen Übernahme der Bestattungskosten auch keine unangemessene
Belastung aufgebürdet, denn ihm verbleibt nach § 93 SGB XII die Möglichkeit einer nachträglichen Klärung aller
Rückgriffsansprüche.
Das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Dringlichkeit der begehrten einstweiligen Anordnung, bedarf
angesichts des Todes der Mutter der Antragstellerin bereits vor vier Monaten und ihrer seither fortdauernden
Aufbewahrung in der Verstorbenenhalle eines Friedhofs keiner weiteren Begründung.
Der Ausspruch, dass der Antragsgegner die erforderlichen Kosten der Bestattung zu übernehmen hat, entspricht dem
Gesetzeswortlaut des § 74 SGB XII und bezeichnet die Verpflichtung lediglich dem Grunde nach. Auch wenn die
Höhe der Kosten bislang kaum Gegenstand des Streits war, sei zur Vermeidung weiterer Rechtsstreitigkeiten
klarstellend bemerkt, dass die Verpflichtung lediglich die Kosten einer einfachen, wenn auch würdigen, den örtlichen
Gepflogenheiten entsprechenden Bestattung entsprechend der Verwaltungspraxis des Antragsgegners bei
Sozialbeerdigungen erfasst.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich zugleich, dass die Beschwerde des Antragsgegners keinen Erfolg haben kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Da die Antragstellerin ihre Mittellosigkeit dargelegt hat und die Rechtsverfolgung aus den oben dargelegten Gründen
hinreichende Erfolgsaussichten bot, war dem Prozesskostenhilfeantrag zu entsprechen. Im Übrigen gilt § 119 Abs. 1
Satz 2 Zivilprozessordnung.
Die Unanfechtbarkeit der Entscheidung ergibt sich § 177 SGG.