Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 30.09.2010

LSG Berlin und Brandenburg: hauptsache, entlastung, niedersachsen, rechtsschutz, verfahrensmangel, rechtspflege, geldleistung, beschränkung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 30.09.2010 (rechtskräftig)
Sozialgericht Cottbus S 4 AS 1413/10 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 20 AS 1702/10 B ER
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 25. August 2010 wird als unzulässig
verworfen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
Die Beschwerde, mit der sich die Antragsteller gegen die Ablehnung ihres Antrages auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruches gegen einen Bescheid der Antragsgegnerin wenden, mit dem diese die
Übernahme einer Betriebskostennachforderung in Höhe von 83,94 Euro abgelehnt und ein fiktives Guthaben in Höhe
von 223,67 Euro aus der Warmwasserabrechnung auf die Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
(SGB II) im Monat September 2010 leistungsmindernd angerechnet hatte, ist nicht statthaft.
Nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 in Verbindung mit § 144 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG - in der ab 01. April 2008
geltenden Fassung (eingefügt durch Artikel 1 Nr. 29 b Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des
Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008, BGBl I Seite 444) sind Beschwerden in Verfahren des einstweiligen
Rechtschutzes u. a. dann nicht statthaft, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes in der Hauptsache bei einer
eine Geldleistung betreffenden Klage - wie hier - 750,00 Euro nicht übersteigt.
Bei der Prüfung der Statthaftigkeit der Beschwerde ist auf die Beschwer des Beschwerdeführers durch den
angefochtenen Beschluss abzustellen (so auch zur entsprechenden Problematik der Anwendung des § 146 Abs. 4
Verwaltungsgerichtsordnung –VwGO - idF. des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege v. 11. Januar 1993 - BGBl I
S. 50 - iVm. § 131 Abs. 2 VwGO: Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen 22. Senat, Beschluss
vom 17.August 1993, - 22 B 1230/93 -, a. A. auf den tatsächlichen Streitgegenstand des Hauptsacheverfahrens
abstellend: Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen 15. Senat, Beschluss vom 11. Juni 1996, - 15 B
1313/96 -). Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG, wonach in Verfahren des einstweiligen
Rechtsschutzes darauf abzustellen ist, ob in der Hauptsache die Berufung zulässig wäre. Die Zulässigkeit der
Berufung einer Hauptsache richtet sich nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG und bemisst sich nach der durch das
erstinstanzliche Urteil eingetretenen Beschwer für den Berufungsführer. Dass bei der Prüfung der Zulässigkeit der
Beschwerde ebenfalls an die durch den Beschluss eingetretene Beschwer anzuknüpfen ist, entspricht auch der
Intention des Gesetzgebers, die Beschwerdemöglichkeit bei wirtschaftlich nicht relevanten Entscheidungen im
einstweiligen Rechtsschutzverfahren zur Entlastung der Landessozialgerichte auszuschließen (BT-Drs. 16/7716, Seite
13f. zu 2) c) bb); Seite 22 zu Nr. 29 b)). Die Rechtsschutzmöglichkeit im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ist
nicht gegenüber derjenigen in Hauptsacheverfahren zu privilegieren.
Davon ausgehend ist die Beschwerde der Antragsteller hier nicht statthaft, weil die durch den angefochtenen
Beschluss für sie eingetretene Beschwer nicht 750 Euro übersteigt.
Die nach ihrem Wortlaut nicht völlig eindeutige Regelung des § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ist nach ihrer Systematik
dahingehend zu verstehen, dass die Beschwerde dann ausgeschlossen - und damit unzulässig – ist, wenn die
Berufung in der Hauptsache nicht Kraft Gesetzes ohne Weiteres zulässig wäre, sondern erst noch der Zulassung
bedürfte (ebenso: Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 07. Oktober 2009 - L 5 AS 293/09 B ER -;
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29. September 2008, - L 8 SO 80/08 ER; LSG Hamburg, Beschluss
vom 1. September 2008 - L 5 AS 79/08 NZB; Hessisches LSG, Beschluss vom 1. Juli 2008 - L 7 SO 59/08 AS ER;
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 2. Juli 2008 - L 7 B 192/08 AS ER; jeweils zitiert nach juris). Der
entgegenstehenden Auffassung des LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 21. Oktober 2008 - L 6 AS 458/08
ER - Juris; sowohl auch Breitkreuz/Böttiger, SGG, § 172 Rn. 45) folgt der Senat nicht (vgl. ebenso mit ausführlicher
Begründung: Hessisches Landessozialgericht Beschluss vom 12. Januar 2009 - L 7 AS 421/08 B ER - Juris).
Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers ist die zum 1. April 2008 in Kraft getretene Beschränkung der
Beschwerdemöglichkeit im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zur Entlastung der Landessozialgerichte erfolgt.
Dieser Zweck sollte durch die Anhebung des Schwellenwertes auf 750,00 EUR und durch die Einschränkung der
Beschwerde in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erreicht werden. Es entspräche daher dem
Entlastungswillen des Gesetzgebers nicht, wenn eine fiktive Prüfung möglicher Zulassungsgründe und eine hierauf
gestützte Zulassung der Beschwerde durch die Sozialgerichte oder eine Nichtzulassungsbeschwerde, über deren
Zulässigkeit dann die Landessozialgerichte zu befinden hätten, unter Geltung des neuen Rechts anerkannt würde. Der
erstrebte Entlastungseffekt wird nur dann erreicht, wenn sich die Zulässigkeit der Beschwerde im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren ohne weiteres aus dem Beschwerdewert oder der Art und Dauer der im Streit stehenden
Leistungen ergibt (§ 144 Abs. 1 SGG). Hinzu kommt, dass die in § 144 Abs. 2 SGG aufgeführten Zulassungsgründe
erkennbar auf das Hauptsacheverfahren zugeschnitten und auf das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht
übertragbar sind. Eine fiktive Prüfung ist schon deshalb nicht sinnvoll, weil nicht klar ist, ob es ein
Hauptsacheverfahren geben und wie dieses ggf. entschieden werden wird. Die Prüfung der Zulassungsgründe
Divergenz (§ 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG) und Verfahrensmangel (§ 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG) sind bereits tatsächlich nicht
möglich. Auch eine fiktive Prüfung der grundsätzlichen Bedeutung der Hauptsache (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG) ist
wegen der unterschiedlichen Funktion von Hauptsache- und Eilverfahren nicht sachgerecht, denn die Entscheidungen
sind weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht deckungsgleich. Da es im einstweiligen Rechtsschutz
maßgeblich darum geht, "vorläufige" Regelungen zu treffen, werden Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung
gerade nicht abschließend beantwortet.
Schließlich wird in der Regelung des § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG nicht auf die Zulassungsbedürftigkeit der Berufung oder
die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde (§§ 144, 145 SGG) verwiesen, was auch regelungssystematisch
gegen deren Anwendbarkeit spricht.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG und entspricht dem
Ausgang des Verfahrens.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).