Urteil des LSG Bayern vom 30.04.2008

LSG Bayern: treu und glauben, eltern, sicherstellung, verwirkung, verhinderung, entlastung, leistungsanspruch, verwaltung, krankheit, krankenversicherung

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 30.04.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 9 P 99/07
Bayerisches Landessozialgericht L 2 P 2/08
I. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 3. Dezember 2007 aufgehoben und die Beklagte
unter Abänderung des Bescheides vom 30. November 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juni
2007 verpflichtet, der Klägerin 2.132,00 EUR zu erstatten. II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. III. Die
Beklagte trägt 1/3 der außergerichtlichen Kosten der Klägerin. IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Gewährung von Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung wegen häuslicher Pflege bei
Verhinderung der Pflegeperson für 2005 und 2006 in Höhe von 6.320 EUR.
Die Beklagte gewährt der 1990 geborenen Klägerin auf Antrag vom 23. Dezember 1994 seit 1. April 1995
Geldleistungen der Pflegestufe III. Am 24. November 2006, eingegangen am 28. November 2006, beantragten ihre
Eltern als gesetzliche Vertreter Leistungen der Verhinderungspflege nach § 39 des Elften Buchs Sozialgesetzbuch
(SGB XI). Wegen Erholungsurlaubs, Krankheit etc. habe an - mit Datum benannten - 23 Tagen im Jahre 2005 (mit
täglich sieben Stunden, insgesamt 161 Stunden) und 20 Tagen im Jahre 2006 (15 Tage mit täglich acht Stunden, 5
Tage mit täglich sieben Stunden, insgesamt 155 Stunden) die Pflege durch Frau N. D. als Pflegeperson durchgeführt
werden müssen. Mit Bescheid vom 30. November 2006 sicherte die Beklagte Leistungen ab dem Tag der
Antragstellung zu. Eine rückwirkende Kostenerstattung sei allerdings nicht möglich.
Im Widerspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, sie habe keine Kenntnis davon gehabt, dass ein Antrag vorab
gestellt werden müsse. Sie sei dahingehend von der Beklagten nicht informiert oder beraten worden. Die Beklagte
wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21. Juni 2007 zurück. Leistungen würden gemäß § 19 Abs. 1
des Vierten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IV) in Verbindung mit § 33 Abs. 1 S. 1 SGB XI ab Antragstellung gewährt.
Sie sei ihrer Auskunfts- und Beratungsverpflichtung nachgekommen, da vielerorts entsprechendes
Informationsmaterial erhältlich sei. Insbesondere sei die Familie bei der Antragstellung auf Pflegeleistungen auf die
verschiedenen Leistungen der Pflegeversicherung hingewiesen worden. Im Übrigen sei ihr die Möglichkeit der
Verhinderungspflege bekannt gewesen, da der Vater der Klägerin diese bereits am 15. Juli 1996 für den Zeitraum vom
1. August bis 1. September 1996 beantragt habe. Schließlich sei der Klägerin für die geltend gemachten Zeiträume
bereits durchgehend Pflegegeld ausgezahlt worden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG vom
17.01.1996, BRK 4/95) sei eine Kumulierung von Verhinderungspflege und Pflegegeld für den gleichen Zeitraum
auszuschließen.
Mit der hiergegen gerichteten Klage zum Sozialgericht Nürnberg begehrte die Klägerin Leistungen der
Verhinderungspflege für 23 Tage im Jahre 2005 und 20 Tage im Jahre 2006. Die Beklagte hätte sie in Kenntnis der
langjährigen Pflegebedürftigkeit über die Möglichkeiten der Bezugs von Leistungen aus der Verhinderungspflege
informieren müssen. Im Übrigen seien diese Leistungen neben dem monatlichen Pflegegeld zu erbringen. Es handele
sich nur um eine stundenweise Verhinderungspflege; es sei weiterhin die Pflege in den betreffenden Monaten
durchgeführt worden.
Die Beklagte bezog sich auf die Ausführungen des Widerspruchsbescheides und wies ergänzend auf die häufigen
persönlichen oder telefonischen Kontakte hin. Die Klägerin hätte dabei die Möglichkeit gehabt, in Erfahrung zu
bringen, ob es Leistungen der Verhinderungspflege nach wie vor gebe und unter welchen Voraussetzungen diese
Leistungen zur Verfügung gestellt würden.
Mit Urteil vom 3. Dezember 2007 wies das Sozialgericht die Klage ab. Aufgrund des bereits 1996 gestellten Antrags
habe die Beklagte davon ausgehen müssen und dürfen, dass der Klägerin bzw. ihren Eltern das Antragserfordernis
bekannt gewesen sei. Im Übrigen sei der gleichzeitige Bezug von Pflegegeld und Verhinderungspflege nach der
Rechtsprechung des BSG ausgeschlossen. Ein Anspruch auf Ersatz von Aufwendungen nach § 39 SGB XI scheide
ebenfalls aus, weil in dem Antrag auf Leistungen nach § 39 SGB XI angegeben gewesen sei, dass der
Ersatzpflegeperson keine derartigen Aufwendungen entstanden waren. Somit obliege es allein der Klägerin bzw. ihren
Eltern, aus dem für die streitigen Monate gezahlten Pflegegeld der Ersatzpflegekraft noch etwas zuzuwenden.
Zur Begründung der Berufung hat die Klägerin vorgebracht, sie habe nicht gewusst, dass der Antrag vorab zu stellen
sei; sie sei dahingehend auch nie beraten worden. Sie hat ferner darauf hingewiesen, dass es sich nur um eine
stundenweise Leistungserbringung gehandelt habe. Nach dem gemeinsamen Rundschreiben der Spitzenverbände zu
§ 39 SGB XI werde das Pflegegeld bei Inanspruchnahme der Ersatzpflege von weniger als acht Stunden täglich nicht
gekürzt.
Die Beklagte hat sich auf die Begründungen des Widerspruchsbescheides und des sozialgerichtlichen Urteils berufen.
Der Senat hat die Beteiligten auf das Gemeinsame Rundschreiben der Spitzenverbände der Pflegekassen zu den
leistungsrechtlichen Vorschriften des Pflege-Versicherungsgesetzes (PflegeVG) vom 10. Oktober 2002 zur häuslichen
Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson § 39 SGB XI hingewiesen. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat
mitgeteilt, dass eine Betreuerbestellung noch nicht erfolgt sei. Ferner hat er eine Entgeltvereinbarung vom 11. April
2008 zwischen den Eltern und Frau D. in Höhe von 20.- EUR je geleistete Stunde und ein Erinnerungsschreiben der
Frau D. vom 14. April 2008 vorgelegt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 3. Dezember 2007 und den Bescheid vom 30. November 2006 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juni 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Leistungen
der Verhinderungspflege für 161 Stunden im Jahr 2005 und 155 Stunden im Jahr 2006 in Höhe von insgesamt 6.320
EUR zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Im Übrigen wird gemäß § 136 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf den Inhalt der Akte der Beklagten sowie der
Klage- und Berufungsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 151 SGG) und teilweise begründet.
Bis zum Eintritt der Volljährigkeit am 30. März 2008 wurde die Klägerin von ihren Eltern gesetzlich vertreten. Darüber
hinaus ist eine Betreuung noch nicht angeordnet. Gemäß § 202 SGG i.V.m. § 86 Zivilprozessordnung (ZPO) besteht
die vorliegende Prozessvollmacht fort. Eine Unterbrechung tritt ohne Antrag des Bevollmächtigten gemäß § 246 Abs.
1 ZPO nicht ein.
Ist eine Pflegeperson wegen Erholungsurlaubs, Krankheit oder aus anderen Gründen an der Pflege gehindert,
übernimmt die Pflegekasse die Kosten einer notwendigen Ersatzpflege für längstens vier Wochen je Kalenderjahr, §
39 S. 1 SGB XI. Zusätzlich können von der Pflegekasse auf Nachweis notwendige Aufwendungen, die der
Pflegeperson im Zusammenhang mit der Ersatzpflege entstanden sind, übernommen werden, § 39 S. 4 SGB XI.
Gemäß § 19 SGB IV bzw. § 33 Abs. 1 S. 1 SGB XI erfolgt die Leistungsgewährung auf Antrag. Allerdings ist eine
Kostenübernahmeerklärung der Pflegekasse vor Beginn der Verhinderungs- bzw. Ersatzpflege grundsätzlich nicht
erforderlich (Udsching, SGB XI, § 39 Rdnr. 2). Ein Antrag ist damit Voraussetzung für den Leistungsanspruch. Ein
derartiger Antrag wurde von der Klägerin erst nach Abschluss der Ersatzpflege gestellt. Dieser muss jedoch nicht
stets im Voraus gestellt sein, so dass nicht nur eine Kostenübernahme, sondern auch eine - nachträgliche -
Kostenerstattung in Betracht kommt (so auch Udsching, a.a.O., wonach es sich bei der Ersatzpflege um eine Form
der Kostenerstattung handelt). Während nämlich § 13 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V) für die
Krankenversicherung eine besondere Regelung zum Ablauf der Kostenerstattung enthält, sieht das SGB XI eine dem
§ 13 SGB V entsprechende Regel oder einen Verweis darauf nicht vor. Nach dieser Regelung besteht grundsätzlich
kein Kostenerstattungsanspruch, wenn die Krankenkasse vor Inanspruchnahme der Leistung hierüber nicht in
Kenntnis gesetzt wurde. Eine analoge Anwendung dieser Regelung auf die vorliegende Fallgestaltung des § 39 SGB
XI ist nicht gerechtfertigt, insbesondere ist eine Regelungslücke im Gesetz nicht erkennbar.
Dementsprechend heißt es zutreffend auch in dem Gemeinsamen Rundschreiben der Spitzenverbände der
Pflegekassen zu den leistungsrechtlichen Vorschriften des PflegeVG vom 10.10.2002 zur häuslichen Pflege bei
Verhinderung der Pflegeperson § 39 SGB XI unter 2: "Anspruchsvoraussetzung ist nicht, dass die Leistung im Voraus
beantragt wird."
Da eine Antragstellung vor Durchführung der Ersatzpflege somit nicht gefordert werden kann, spielen Fragen eines
sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs keine Rolle.
Gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt ist, ob das unstreitig gezahlte Pflegegeld auf Leistungen der Ersatzpflege
anzurechnen ist. Zweck der Ersatzpflege ist, den Ausfall einer selbstbeschafften nichterwerbsmäßigen Pflegeperson
zu kompensieren. Ein gleichzeitiger Bezug von Pflegegeld nach § 37 SGB XI kommt daher grundsätzlich nicht in
Betracht (BSG SozR 3-2500 § 56 Nr. 2; s.a. Udsching, a.a.O., § 39 Rdnr. 12 und § 37 Rdnr. 4; a.A.: Leitherer, in:
Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Bd. 2, § 39 SGB XI, Rdnr. 20). Der Senat schließt sich dieser
Ansicht an. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass bei Inanspruchnahme der Verhinderungspflege eine
Sicherstellung der Pflege mit Hilfe des Pflegegeldes gemäß § 37 Abs. 1 S. 2 SGB XI nicht gewährleistet ist (BSG
a.a.O,. Udsching, a.a.O., Rdnr. 12).
Allerdings machte die Klägerin für 2005 nur jeweils täglich sieben Stunden (insgesamt 161 Stunden)
Pflegeverhinderungszeiten und für 2006 für die Zeit vom 18. September 2006 bis 22. September 2006 sieben Stunden
täglich, ansonsten acht Stunden täglich (insgesamt 155 Stunden) geltend. Eine Entlastung der Pflegeperson betrifft
allein die Zeit zwischen 11 bzw. 12 Uhr bis 18 bzw. 19 Uhr. Dies stellt nur einen Teil der Gesamtpflege für die Klägerin
dar, so dass von einer fehlenden Sicherstellung der Pflege nicht ausgegangen werden kann. Zutreffend verweist die
Klägerin deshalb auch darauf, dass nach dem o.g. Gemeinsamen Rundschreiben das Pflegegeld bei stundenweiser
Inanspruchnahme der Ersatzpflege von weniger als acht Stunden täglich nicht gekürzt wird (Gemeinsames
Rundschreiben, a.a.O., Nr. 1). Das Rundschreiben der Spitzenverbände stellt eine norminterpretierende
Verwaltungsvorschrift dar, die den Senat zwar nicht bindet. Für den Versicherten ergibt sich vorliegend jedoch
insoweit ein günstiger Standpunkt, da bei stundenmäßig geringer Inanspruchnahme der Ersatzpflege ein
Leistungsanspruch zugebilligt wird - was allein aus dem Urteil des BSG nicht ohne Weiteres abzulesen ist. Insoweit
kommt der auf Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) basierende Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung zum Tragen,
zumal die Interpretation der Verwaltung von § 39 SGB XI gedeckt ist. Wie dargelegt begründet das BSG seine
Rechtsauffassung mit der Notwendigkeit der Sicherstellung der Pflege mit Hilfe des Pflegegeldes gemäß § 39 Abs. 1
S. 2 SGB XI. Bei einer nur geringfügigen stundenweisen Entlastung der Pflegeperson am Tag ist dieser
Sicherstellungsauftrag nicht gefährdet. Die in dem Rundschreiben angenommene zeitliche Grenze von unter acht
Stunden täglich erscheint dem Senat hierbei sachgerecht und ist auch von dem Gesetzeszweck gedeckt, die
Pflegebereitschaft zu erhöhen.
Da die Voraussetzungen des § 39 SGB XI im Übrigen vorliegen und nicht umstritten sind, besteht damit grundsätzlich
ein Anspruch auf Leistungen nach § 39 SGB XI für 2005 (161 Stunden) und für 35 Stunden für 2006. Die restliche
Verhinderungspflege im Jahre 2006 (120 Stunden) beträgt acht Stunden pro Tag, so dass insoweit das geleistete
Pflegegeld anzurechnen ist.
Gemäß § 39 S. 3 SGB XI dürfen die Aufwendungen der Pflegekasse im Einzelfall 1.432.- EUR im Kalenderjahr nicht
übersteigen. Gemäß der Vereinbarung vom 11. April 2008 wurden 20.- EUR für jede geleistete Stunde vereinbart. Zwar
datiert die Vereinbarung erst Jahre nach den Pflegeleistung, doch ist auch eine mündliche Vereinbarung, die zu
Beweiszwecken erst nachträglich schriftlich wiederholt wird, ausreichend. Anhaltspunkte dafür, dass die 20.- EUR je
Stunde nicht geschuldet werden, sind für den Senat nicht erkennbar. Die Begrenzung der Leistungshöhe betrifft somit
zwar nicht das Kalenderjahr 2006, in dem nur 35 Stunden zu 20.- EUR zu berücksichtigen sind, jedoch das Jahr 2005,
bei dem nur Tage mit unter 8 Stunden Ersatzpflege angefallen waren, somit 161 Stunden.
Der Antrag wurde am 28. November 2006 für die Jahre 2005 und 2006 gestellt. Der Anspruch wird damit weder von
der vierjährigen Verjährungsfrist des § 45 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I) erfasst noch sind
Anhaltspunkte für eine Verwirkung entsprechend der Grundsätze von Treu und Glauben gemäß § 242 des
Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) ersichtlich (zum Ganzen: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 67. Aufl., § 242 Rdnr.
87 ff.). Insbesondere fehlt es an besonderen Umständen, die eine Verwirkung auslösen (hierzu: BSG, Urteil vom 29.
Januar 1997, Az.: 5 RJ 52/94). Die Klägerin hat allein durch die Anmeldung des Erstattungsanspruchs im November
2006 kein derartiges Vertrauen bei der Beklagten geschaffen, dass diese tatsächlich nicht darauf vertrauen konnte,
das Recht werde nicht mehr ausgeübt. Der Senat kann daher offen lassen, ob im Übrigen bei Erstattungsforderungen
des Bürgers gegen die öffentliche Hand eine Verwirkung bereits in der Regel ausgeschlossen ist (so z.B. OVG
Hamburg, MDR 1968, 1039, zitiert in: Palandt, a.a.O. 57. Aufl., § 242 Rdnr.5 f.) dd).
Der Klägerin waren daher 2.132.- EUR zuzusprechen und die Berufung im Übrigen zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.