Urteil des LSG Bayern vom 15.07.2010

LSG Bayern: grobe fahrlässigkeit, rechtswidrigkeit, arbeitsentgelt, behörde, rücknahme, sorgfalt, missverhältnis, berechnungsgrundlagen, anhörung, verwaltungsakt

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 15.07.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Regensburg S 12 AL 418/03
Bayerisches Landessozialgericht L 9 AL 107/07
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 07.02.2007 aufgehoben und die
Klage gegen den Bescheid vom 27.08.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.09.2003 abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die teilweise Aufhebung der Bewilligung und Erstattung von Arbeitslosengeld (Alg) für den Zeitraum
16.05.2002 bis 11.11.2002.
Die 1974 geborene Klägerin meldete sich am 14.05.2002 bei der Dienststelle A-Stadt der Beklagten arbeitslos und
beantragte die Zahlung von Arbeitslosengeld ab 16.05.2002. Hierbei gab sie an, höchstens 20 Stunden wöchentlich
arbeiten zu können. Aus der vorgelegten Arbeitsbescheinigung ergab sich eine Beschäftigungszeit vom 01.10.2001
bis 15.05.2002. Das beitragspflichtige Bruttoarbeitsentgelt wurde für die Monate Oktober 2001 bis Dezember 2001 mit
1.261,83 DM und für die Monate Januar 2002 bis Mitte Mai 2002 mit 648,03 Euro monatlich angegeben, jeweils
aufgrund einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden. Andere Beschäftigungszeiten wurden von der Klägerin nicht
angegeben. Aufgrund der Feststellung, dass im maßgeblichen Bemessungsrahmen vom 17.05.2001 bis 15.05.2002
nur 32,6 Wochen mit Beschäftigungszeiten zurückgelegt wurden, errechnete die Beklagte durch eine fiktive
Festsetzung des durch die Klägerin auf dem Arbeitsmarkt als Verkaufshilfe mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20
Stunden zu erzielenden Arbeitsentgeltes ein monatliches Bemessungsentgelt von 695,32 Euro. Am 10.6.2002 wurde
der Klägerin anlässlich einer persönlichen Vorsprache die fiktive Festsetzung des Bemessungsentgeltes erläutert.
Mit Bewilligungsbescheid vom 14.06.2002 bewilligte die Beklagte der Klägerin Alg ab 16.05.2002 in Höhe eines
wöchentlichen Zahlbetrages von 273,84 Euro. Auf dem Bewilligungsbescheid wurde unter der Überschrift
"Berechnungsgrundlagen" das Bemessungsentgelt mit wöchentlich 695,00 Euro angegeben. Die Alg-Bewilligung
erfolgte für 180 Kalendertage. Die Klägerin bezog Alg in der genannten Höhe bis 11.11.2002.
Bei einer internen Prüfung stellte die Beklagte am 10.07.2003 fest, dass die Leistungszahlung an die Klägerin im
Zeitraum 16.05.2002 bis 11.11.2002 auf fehlerhaften Berechnungsgrundlagen beruht hatte, da das fiktiv errechnete
monatliche Bemessungsentgelt bei der Dateneingabe als wöchentliches Bemessungsentgelt übernommen worden
war. Mit Schreiben vom 21.07.2003 hörte die Beklagte die Klägerin zur beabsichtigten Rückforderung eines Teiles der
Alg-Zahlung im Zeitraum 16.05.2002 bis 11.11.2002 an. Diese erklärte hierzu, die Berechnung des Alg im Bescheid
sei für sie nicht nachvollziehbar gewesen, weil sie mit ihrem bisherigen Arbeitgeber eine monatliche Nettozahlung von
500,00 Euro mündlich vereinbart habe, ohne dass insoweit ein konkreter Bruttobetrag festgelegt worden sei.
Mit Bescheid vom 27.08.2003 hob die Beklagte die Bewilligung von Alg teilweise für den Zeitraum 16.05.2002 bis
11.11.2002 auf und forderte das zu Unrecht bezahlte Alg in Höhe von 4.849,20 Euro zurück. Den dagegen erhobenen
Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18.09.2003 zurück. Der Klägerin sei Alg
vom 16.05.2002 bis 11.11.2002 fehlerhaft in Höhe von wöchentlich 273,84 Euro gezahlt worden, obwohl ihr
rechtmäßig nur ein Alg in Höhe von 85,26 Euro wöchentlich zugestanden habe. Da auf dem Bewilligungsbescheid
vom 14.06.2002 das wöchentliche Bemessungsentgelt von 695,00 Euro als Ausgangspunkt der Alg-Berechnung klar
erkennbar gewesen sei, hätte eine einfache rechnerische Überlegung der Klägerin ein entsprechendes monatliches
Bruttoarbeitsentgelt von ca. 3.011,00 Euro erkennen lassen. Ein solches Entgelt habe die Klägerin jedoch niemals
erzielt. Das der Klägerin tatsächlich gezahlte Alg habe das zuvor durchschnittlich erzielte Nettoeinkommen von
monatlich 500,00 Euro um mehr als das Doppelte überstiegen. Ein so auffälliges Missverhältnis zwischen dem zuvor
erzielten Arbeitsentgelt und der danach bewilligten Leistung sei ohne besondere Überlegungen leicht erkennbar
gewesen.
Hiergegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Regensburg (SG) erhoben. Sie habe die Fehlerhaftigkeit des
Bewilligungsbescheides nicht erkennen können. Ein auffälliges Missverhältnis zwischen dem zuletzt erzielten
Arbeitsentgelt und der bewilligten Leistung sei ihr jedenfalls nicht wegen grober Fahrlässigkeit verborgen geblieben.
Zudem sei die Frist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X nicht gewahrt.
Mit Urteil vom 07.02.2007 hat das SG der Klage stattgegeben und dazu ausgeführt, es sei zu der Überzeugung
gelangt, dass die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides vom 14.06.2002 der Klägerin infolge grober
Fahrlässigkeit nicht bekannt gewesen sei. Es sei zu berücksichtigen, dass die Klägerin ein monatliches Nettoentgelt
in Höhe von 500,00 Euro erzielt habe und ihr bei einer Bewilligung des Alg in Höhe von ca. 1.200,00 Euro monatlich
ohne nähere Überlegungen deutlich hätte auffallen müssen, dass ein derartiger Leistungsbezug nicht rechtmäßig sein
könne. Die teilweise Aufhebung des Bewilligungsbescheides scheitere jedoch an § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X. Bereits
bei Bescheiderlass seien der Beklagten alle Tatsachen bekannt gewesen, die eine korrekte Leistungsbewilligung
ermöglicht hätten. Die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X sei daher bereits mit Erlass des Bescheides vom
14.06.2002 angelaufen, der Bescheid vom 27.08.2003 halte deshalb die Jahresfrist nicht ein. Andernfalls würde eine
Behörde, die mit weniger Sorgfalt arbeite, derjenigen Behörde gegenüber, die besonders sorgfältig arbeite, bevorzugt.
Hiergegen hat die Beklagte mit Eingang am 26.03.2007 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht erhoben und zur
Begründung vorgetragen, in Anwendung des Urteils des BSG vom 27.07.2000 (Az.: B 7 AL 88/99 R) beginne die
Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X erst dann zu laufen, wenn die Beklagte Kenntnis davon habe, dass die
Klägerin die (teilweise) Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung kannte bzw. infolge grober Fahrlässigkeit nicht
kannte. Die Jahresfrist laufe daher regelmäßig erst nach Anhörung des Betroffenen, da erst danach über das
Vorliegen oder Nicht-Vorliegen grober Fahrlässigkeit entschieden werden könne. Auf Anfrage des Gerichts hat die
Beklagte mitgeteilt, bei der Dateneingabe sei das zuvor errechnete monatliche Brutto von 695,32 Euro von der
Datenkraft als wöchentliches Bruttoentgelt eingegeben worden. Der am 14.06.2002 ergangene Bewilligungsbescheid
sei zentral und automatisiert erstellt worden, es habe sich daher kein Exemplar in der Akte der Beklagten befunden.
Der Eingabefehler und die Überzahlung hätten daher nicht frühzeitiger von der Beklagten entdeckt werden können. Die
Beklagte (Berufungsklägerin) beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 07.02.2007 aufzuheben und
die Klage gegen den Bescheid vom 27.08.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.09.2003
zurückzuweisen. Die Klägerin (Berufungsbeklagte) beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der gerichtlichen Verfahrensakten erster und zweiter Instanz
sowie der Leistungsakten der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG) und begründet.
Der streitige Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Beklagten vom 27.08.2003 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 18.09.2003 ist rechtlich nicht zu beanstanden. Das gegenteilige Urteil des Sozialgerichts
Regensburg vom 07.02.2007 ist daher aufzuheben.
Rechtsgrundlage für den streitgegenständlichen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid ist § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3
SGB X i. V. m. § 330 Abs. 2 SGB III und § 45 Abs. 1 und 4 SGB X. Danach darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht
oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet, mit Wirkung für die Vergangenheit nur zurückgenommen werden,
soweit der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht
kannte. Grobe Fahrlässigkeit liegt dann vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem
Maße verletzt hat. In diesem Fall ist gemäß § 330 Abs. 2 SGB III eine gebundene Verwaltungsentscheidung zu
treffen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. insbesondere Urteil vom 08.02.2001, Az.: B 11
AL 21/00 R) ist einem Leistungsempfänger, der die fehlerhafte Zuordnung von Tatsachen nicht aus dem Bescheid
selbst erkennen kann, eine grobe Fahrlässigkeit nur dann vorzuwerfen, wenn ihm der Fehler mit seinen subjektiven
Erkenntnismöglichkeiten oder aus anderen Gründen geradezu "in die Augen springt". Davon könne unter anderem
ausgegangen werden, wenn die bewilligte Leistung offensichtlich außer Verhältnis zu dem zugrunde liegenden
Arbeitsentgelt stehe.
Maßgeblicher Zeitpunkt für das mögliche Kennenmüssen der Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheides im Sinne
einer groben Fahrlässigkeit gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X ist der Zeitpunkt des Zugangs. Ein einmal
eingetretenes Vertrauen auf den Bestand eines (wenn auch rechtswidrigen) Verwaltungsaktes kann nicht durch eine
zeitlich spätere Kenntniserlangung oder ein Kennenmüssen der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes beseitigt
werden.
Hierzu ist festzustellen, dass im Zeitpunkt des Zugangs des Bewilligungsbescheides vom 14.06.2002 der Klägerin
nach ihren eigenen glaubhaften Angaben bekannt war, dass ihr letztes Nettoarbeitsentgelt 500,00 Euro monatlich
betragen hatte. Zudem war die Klägerin auch in der Lage, bei einfachem Betrachten des Bewilligungsbescheides das
der Leistungszahlung zugrunde gelegte Bemessungsentgelt von wöchentlich 695,00 Euro und den Leistungsbetrag
von wöchentlich 273,84 Euro zu erkennen. Auch ohne genaues Studium des der Klägerin ausgehändigten Merkblattes
Nr. 1 für Arbeitslose musste ihr nicht zuletzt auf Grund ihrer Arbeit als Bedienung in einer Bahnhofgaststätte und dem
daraus resultierenden vertrauten Umgang mit Zahlen ohne weitere Überlegung klar sein, dass das bewilligte
Arbeitslosengeld nicht mehr als doppelt so hoch sein darf wie das zuvor bezogene Netto-Arbeitsentgelt. Zum
subjektiven Tatbestand der groben Fahrlässigkeit werden im Übrigen die zutreffenden und überzeugenden
Feststellungen des Ersturteils übernommen, so dass von einer weiteren Darstellung abgesehen wird, § 153 Abs 2
SGG. Der streitige Aufhebungs- und Erstattungsbescheid entspricht somit den Anforderungen für eine rückwirkende
Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 14.06.2002.
Gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X konnte die Beklagte im vorliegenden Fall den Bewilligungsbescheid vom
14.06.2002 nur innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsache zurücknehmen, welche die Rücknahme des
Bewilligungsbescheides für die Vergangenheit rechtfertigten. Nach ständiger Rechtsprechung setzt die für den Beginn
der Jahresfrist maßgebliche Kenntnis der Behörde voraus, dass der zuständige Leistungsträger sämtliche für die
Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig kennt. Dies verlangt jedenfalls sowohl eine Kenntnis des
rechtserheblichen äußeren Sachverhaltes sowie auch die Kenntnis der so genannten inneren Tatsachen, sofern diese
ebenfalls zu den normierten Tatbestandsvoraussetzungen gehören (vgl. Bundessozialgericht vom 27.07.2000, Az.: B
7 AL 88/99 R und vom 25.04.2002, Az.: B 11 AL 69/01 R).
Bereits mit Urteil vom 18.05.2006 (Az.: L 9 AL 117/05) hat der Senat festgestellt, dass in der Regel hinsichtlich der in
§ 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X normierten Kenntnis der Tatsachen, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen
begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertige, nicht auf die Kenntnis der allgemeinen
Tatsachen, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des aufzuhebenden Verwaltungsaktes ergebe, abzustellen ist.
Vielmehr ist die Kenntnis der Tatsachen, aus denen sich ergibt, dass es in einem bestimmten Fall zu einer
rechtswidrigen Bewilligung gekommen und dass ein Vertrauensschutztatbestand nicht gegeben ist, maßgeblich.
Abzustellen ist in jedem Fall auf die Kenntnis der Behörde, die die Rücknahme des begünstigenden Verwaltungsaktes
vorzubereiten und über sie zu entscheiden hat (vgl aber zur abgelaufenen Jahresfrist Bayer. LSG Urteil vom
28.05.2008 - L 9 AL 21/03). Hierzu ist festzustellen, dass eine sichere Kenntnis der für die Rücknahmeentscheidung
der Beklagten maßgeblichen Tatsachen bei der Beklagten erst nach Eingang der Stellungnahme des
Bevollmächtigten der Klägerin vom 28.07.2003 zum Anhörungsschreiben vom 21.07.2003 vorlag. Zu den
maßgeblichen Tatsachen zählen vorliegend insbesondere subjektive Elemente der groben Fahrlässigkeit, wie gerade
die Einsichtsfähigkeit der Klägerin in die Rechtswidrigkeit der Alg-Bewilligung. Die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2
SGB X konnte deshalb im vorliegenden Fall erst zu laufen beginnen, als mit dem Ergebnis der Anhörung vom
21.07.2003 feststand, dass auf Seiten der Klägerin keine subjektiven Umstände bestanden hatten, die die Annahme
grob fahrlässigen Verhaltens ausgeschlossen hätten. Da der streitige Aufhebungs- und Erstattungsbescheid am
27.08.2003 erlassen wurde, ist die Frist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X im vorliegenden Fall gewahrt. Hinzu käme,
dass für eine Tatsachenkenntnis gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X die Aktenkundigkeit der Tatsachen in den
Vorgängen zum Ausgangsbescheid allein in der Regel nicht ausreicht (vgl. BVerwG, NJW 2001, 1440 zur Parallelnorm
§ 48 Abs. 4 VwVfG). Andernfalls müsste die Rücknahmefrist regelmäßig bereits mit Bescheiderlass beginnen. Damit
würde der Anwendungsbereich des § 45 SGB X zu weit eingeschränkt.
Im Übrigen sind zur Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung keine Rechtsfehler zu erkennen, insbesondere auch
nicht zur Höhe des Rückforderungsbetrages.
Auf die Berufung der Beklagten wird deshalb die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage
abgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe zur Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 160 Abs. 2 SGG.