Urteil des LSG Bayern vom 11.07.2006

LSG Bayern: eingriff in grundrechtspositionen, nachforderung, tarifvertrag, versicherungspflicht, geringfügigkeit, arbeitsentgelt, sozialversicherung, form, unterliegen, eugh

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 11.07.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Regensburg S 10 KR 167/02
Bayerisches Landessozialgericht L 5 KR 81/05
Bundessozialgericht B 12 KR 85/06 B
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 10. Februar 2005 wird
zurückgewiesen. II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen nach einer Prüfung beim Arbeitgeber.
Die Klägerin betreibt den Frisiersalon "S. Frisurenpavillion" in S ... Im streitigen Zeitraum beschäftigte sie die
Beigeladenen zu 1) und 2) im Rahmen der Entgelt-Geringfügigkeit ohne einen schriftlichen Arbeitsvertrag oder eine
Niederschrift im Sinne von § 2 Nachweisgesetz.
Aufgrund einer Betriebsprüfung einschließlich Schlussbesprechung forderte die Beklagte mit Bescheid vom
02.05.2001 Gesamtsozialversicherungsbeiträge und Umlagen in Höhe von 11.572,86 DM für den Prüfzeitraum
01.01.1997 bis 31.12.2000 nach. Die Klägerin habe den Beigeladenen zu 1) und 2) das aufgrund allgemeinverbindlich
erklärten Tarifvertrages geschuldete Weihnachtsgeld nicht gezahlt. Zu verbeitragen sei nicht das tatsächliche,
sondern das tariflich geschuldete Entgelt. In der Summe von gezahltem und geschuldeten Entgelt sei die Grenze der
Entgelt-Geringfügigkeit überschritten, so dass die entsprechenden Gesamtsozialversicherungsbeiträge nachzufordern
seien. Zudem ergebe sich eine Nachforderung, weil die Umlagen U 1 und U 2 unzutreffend berechnet und abgeführt
worden seien.
Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch mit der Begründung, die verabredete monatliche Pauschalvergütung habe
auch das tarifliche Weihnachtsgeld enthalten sollen, der relevante Tarifvertrag sei erst ab 01.05.1998 in Kraft getreten,
die Höhe des Weihnachtsgeldes sei nicht aufgrund einer Teilzeit-, sondern aufgrund einer Vollzeitbeschäftigung und
damit in unzutreffender Höhe berechnet. Im zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 10.06.2002 führte die
Beklagte aus, ein arbeitsrechtlicher Verzicht sei nicht nachgewiesen, die Klägerin habe gegen ihre Aufzeichnungs-
und Aufbewahrungspflichten verstoßen, der Beitragsanspruch sei mit Entstehung des arbeitsrechtlichen
Entgeltanspruches fällig geworden, die Nachforderung habe die Teilzeitbeschäftigung zutreffend berücksichtigt und
auch im übrigen sei der Bescheid nicht zu beanstanden.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Regensburg hat sich die Klägerin zunächst auf ihr
Vorbringen im Widerspruchsvefahren bezogen. Sie hat auf Anforderung Arbeitszeitnachweise für die Beigeladenen zu
1) und 2) in Kopie vorgelegt, deren Richtigkeit die Beklagte angezweifelt hat, weil auch an Tagen nachgewiesener
Arbeitsunfähigkeit jeweils zwei Stunden Tätigkeit aufgezeichnet seien. Im Hinblick darauf, dass der
allgemeinverbindliche Weihnachtsgeld-Tarifvertrag vom 23.07.1993 zum 01.05.1998 außer Kraft getreten war und die
Allgemeinverbindlichkeit des Nachfolgetarifvertrages erst am 01.12.1998 veröffentlicht wurde, hat die Beklagte die
Beitragsnachforderungen von 5.917,11 EUR auf 3.947,16 EUR reduziert und insoweit ein Teilanerkenntnis abgegeben,
welches die Klägerin angenommen hat.
Mit Urteil vom 10.02.2005 hat das Sozialgericht die Klage im zuletzt streitigen Umfang abgewiesen und unter
Bezugnahme auf die Bescheidbegründung sowie auf die Urteilsserie des Bundessozialgerichts vom 14.07.2004 darauf
hingewiesen, dass die Verbeitragung des sozialrechtlich relevanten Lohnes dem Entstehungsprinzip folge.
Dagegen hat die Klägerin Berufung eingelegt und geltend gemacht, sie werde durch die Wirkungen der
Allgemeinverbindlichkeit grundrechtswidrig belastet. Einen Vortrag, die Beigeladenen zu 1) und 2) seien Angestellte
und deswegen bei der Umlage U 1 nicht zu berücksichtigen, hat die Klägerin im Laufe des Verfahrens fallen gelassen
und stattdessen behauptet, der Weihnachtsgeld-Tarifvertrag vom 28.03.1993 beziehe sich wegen der Voraussetzung
der Versicherungspflicht in der Arbeiterrentenversicherung nicht auf Aushilfskräfte, welche versicherungsfrei seien.
Einwendungen zur Wirksamkeit des Verfahrens der Allgemeinverbindlicherklärung der betroffenen Tarifverträge und
zum Streitwert hat die Klägerin zuletzt nicht mehr aufrecht erhalten.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 10.02.2005 und den Bescheid vom 02.05.2001
in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.06.2002 aufzuheben, soweit ein Beitrag von 3.947,16 EUR
festgesetzt wurde.
Die Beklagte beantragt, die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 10.02.2005
zurückzuweisen.
Die Beigeladene zu 5. hat sich dem Antrag der Beklagten angeschlossen.
Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 11.07. 2006 waren die Betriebsprüfungsakten der
Beklagten. Darauf sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge wird zur Ergänzung des Tatbestandes Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151, 153 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), jedoch
nicht begründet.
Streitgegenstand ist der Bescheid der Beklagten vom 02.05.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
10.06.2002 im Umfange einer Beitrags- und Umlagennachforderung in Höhe von 3.947,16 EUR. Die ursprünglich
weitergehende Nachforderung hat die Beklagte nicht mehr geltend gemacht, insoweit ist der Rechtsstreit durch das
erstinstanzliche Teilanerkenntnis der Beklagten, dass die Klägerin angenommen hat, erledigt gem. § 101 Abs. 2 SGG.
Rechtsgrundlage der Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen für die Beigeladene zu 1) und 2) aus
der Beschäftigung in der Zeit 01.01.1997 bis 31.12.2000 ist zunächst § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV, wonach die Träger
der Rentenversicherung aufgrund einer Prüfung bei den Arbeitgebern Verwaltungsakte zur Versicherungspflicht und
Beitragshöhe in der gesetzlichen Sozialversicherung erlassen. Personen, die - wie die Beigeladenen zu 1) und 2) -
gegen Arbeitsentgelt als Arbeitnehmerinnen beschäftigt sind, unterliegen in der gesamten Sozialversicherung der
Versicherungspflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB XI, § 1 Nr. 1 SGB VI und § 160 AFG
bzw. § 27 SGB III). Als Ausnahme hierzu ist gemäß § 8 SGB IV (in der hier noch anzuwendenden Fassung vor der
Änderung durch das Gesetz vom 23.12.2002 - BGBl I S. 4621), versicherungsfrei, wessen Arbeitsentgelt regelmäßig
im Monat ein Siebtel der Bezugsgröße nicht überschreitet - sog. Entgeltgeringfügigkeit.
Beitragspflichtig ist das gesamte Arbeitsentgelt im Sinne des § 14 SGB IV, also alle laufenden und einmaligen
Einnahmen aus einer Beschäftigung, unabhängig davon, ob ein Rechtsanspruch darauf besteht, unter welcher
Bezeichnung und in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im
Zusammenhang mit ihr erzielt werden.
Bei Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich, dass die Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen und
Umlagen U 1 und U 2 in Höhe von insgesamt 3.947,16 EUR dem Grunde nach zutreffend festgestellt und auch der
Höhe nach richtig errechnet wurden. Die Klägerin war aufgrund der allgemeinverbindlichen Tarifverträge über die
Zahlung von Weihnachtsgeld an die Beschäftigten im bayer. Friseurhandwerk (jeweils veröffentlicht im
Bundesanzeiger vom 29.10.1993 bzw. vom 11.12.1998) verpflichtet gewesen, nicht nur das gezahlte Entgelt, welches
die Grenze des § 8 SGB IV im jeweiligen Jahr gerade erreichte, zu erbringen, sondern darüberhinaus auch ein
Weihnachtsgeld. Insofern war die Klägerin verpflichtet, Beiträge nicht nur aus dem tatsächlich gezahlten,
untertariflichen Entgelt zu entrichten, sondern aus dem geschuldeten Entgelt, auf das die Beigeladenen zu 1) und 2)
Anspruch hatten. Wie das Bundessozialgericht in der Urteilsserie vom 14.07.2004 überwiegend festgestellt hat, ist
insoweit nicht das Zuflussprinzip anzuwenden, sondern das Entstehungsprinzip. Nur so kann vorausschauend
festgestellt werden, ob Versicherungsfreiheit gemäß § 8 SGB IV (§ 7 Abs. 1 SGB V, § 5 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI, § 27
Abs. 2 Satz 1 SGB III bzw. § 169a Abs. 1 AFG) besteht oder nicht. Dies gilt jedenfalls für den streitigen Zeitraum vor
Inkrafttreten der Neuregelung in § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB IV (durch das Gesetz vom 23.12.2002 - BGBl I S. 4621 (vgl.
BT-Drs. 15/26 S. 24).
Die Einwände der Klägerin gegen die Allgemeinverbindlichkeit der streitigen Weihnachtsgeld-Tarifverträge greifen
nicht. Die gesetzliche Regelung zur Allgemeinverbindlichkeit in § 5 TVG ist historisch entstanden auf dem Hintergrund
eines bereits während des ersten Weltkriegs durchgeführten behördlichen Verfahrens und wurde in der Bundesrepublik
bereits durch das Tarifvertragsgesetz vom 09.04.1949 (BGBl I S. 55) normiert. Allgemeinverbindlicherklärungen sind
nur bei einer Arbeitgeberquote von 50 % Tarifgebundenheit zulässig (§ 5 Abs. 1 TVG) und sind nur in einem
differenzierten Verfahren einschließlich Beteiligung eines Tarifausschusses möglich. Zudem rechtfertigen sich die
Regelungen der Allgemeinverbindlichkeit aus dem Schutz von Arbeitnehmern gegen nicht ausreichende Entlohnung
und einem Schutz der Arbeitgeber vor unlauterem Wettbewerb. Der Eingriff in Grundrechtspositionen der Klägerin
durch die tarifliche Allgemeinverbindlichkeit ist somit durch stichhaltige gesetzlich normierte Gründe gerechtfertigt.
Der Tarifvertrag vom 28.03.1993 über die Zahlung von Weihnachtsgeld an die Beschäftigten im bayer.
Friseurhandwerk erfasste mit seinem in § 1 Ziff. 3 genannten persönlichen Geltungsbereich auch die Beigeladenen zu
1) und 2). Diese waren nach eigenem Vorbringen der Klägerin im fraglichen Zeitraum mit Helfertätigkeiten im
Friseurgeschäft der Klägerin tätig, wie z.B. Zusammenkehren von Haaren etc. Sie waren deshalb Arbeitnehmer, die
mit friseurhandwerklichen Arbeiten beschäftigt waren und unterlagen grundsätzlich der Versicherungspflicht in der
Arbeiterrentenversicherung (§ 1 Nr. 3 Tarifvertrag vom 28.03.1993). Für eine Angestelltentätigkeit, wie von der
Klägerin zunächst behauptet, findet sich kein Anhalt; im Bereich des Friseurhandwerkes sind im übrigen im
wesentlichen nur Geschäftsführertätigkeiten als Angestelltentätigkeiten denkbar.
Für die von der Klägerin vorgenommene Auslegung, § 1 Nr. 3 des Tarifvertrages fordere grundsätzlich eine
versicherungspflichtige Tätigkeit und schließe damit geringfügig Beschäftigte vom persönlichen Geltungsbereich aus,
findet sich kein Anhalt. Vielmehr folgt der Tarifvertrag mit dieser Regelung dem Grundsatz, dass Beschäftigte
zunächst versicherungspflichtig sind und nur im Ausnahmefall des § 8 SGB IV Sonderregelungen bei Geringfügigkeit
bestehen können. Im übrigen wäre es nicht zulässig, geringfügig Beschäftigte arbeitsrechtlich anders zu behandeln
als sonstige Teil- und Vollzeitbeschäftigte (vgl. BAG AP BetrAVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 26 - Urteil vom
07.03.1995). Dafür, dass die Tarifparteien gegen diesen Grundsatz, welcher seit dem Urteil EuGH 08.04.1976 (EAS
EG-Vertrag Art. 119 Nr. 2 - Defrenne II) zum arbeitsrechtlichen Allgemeinwissen zu zählen ist, hätten verstoßen
wollen, besteht kein Anhalt.
Die Einwendungen der Klägerin zur Höhe der Nachforderung, insbesondere zum Berechnungsweg und vor allem zur
Berücksichtigung der Teilzeittätigkeit, sind nicht nachvollziehbar. Vielmehr hat die Beklagte diese Umstände
zutreffend berücksichtigt und den sich ergebenden Betrag ebenfalls zutreffend errechnet.
Die Berufung musste deshalb in vollem Umfange ohne Erfolg bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich (§ 160 SGG).