Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 26.01.2016

aufschiebende wirkung, aufenthalt, gemeinsame einrichtung, wohnung

LSG Baden-Württemberg Beschluß vom 26.1.2016, L 7 AS 41/16 ER-B
Grundsicherung für Arbeitsuchende - vorläufige Leistungen bei
Zuständigkeitsstreitigkeit
Leitsätze
Ein Anspruch auf vorläufige Leistungen nach § 43 Abs. 1 SGB I setzt einen
Zuständigkeitskonflikt zwischen verschiedenen örtlich zuständigen Trägern voraus.
Tenor
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts
Heilbronn vom 7. Dezember 2015 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
1 Die nach §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde hat in
der Sache keinen Erfolg.
2 Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ist das Begehren des
Antragstellers, den Antragsgegner zu verpflichten, ihm aufgrund seines
Weiterbewilligungsantrags vom 24. September 2015 Leistungen nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ab dem 1. Oktober 2015 zu bewilligen.
3 Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist in § 86b SGG geregelt, und
zwar für Anfechtungssachen in Abs. 1 a.a.O., für Vornahmesachen in Abs. 2 a.a.O.
Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf
Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine
aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise
anordnen. Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache
ferner, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 a.a.O. vorliegt, eine einstweilige Anordnung
in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch
eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts
des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige
Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein
streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2 a.a.O.). Nach § 86b Abs. 4 SGG
sind die Anträge nach den Absätzen 1 und 2 schon vor Klageerhebung zulässig.
4 Hinsichtlich der begehrten vorläufigen Leistungsgewährung kommt allein der
Erlass einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG in Betracht. Der
Erlass einer Regelungsanordnung gem. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG setzt zunächst
die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs voraus. Die Begründetheit des Antrags
wiederum hängt vom Vorliegen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund
ab (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. z.B. Beschlüsse vom 1. August
2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B - FEVS 57, 72 und vom 17. August 2005 - L 7 SO
2117/05 ER-B - FEVS 57, 164). Eine einstweilige Anordnung darf nur erlassen
werden, wenn beide Voraussetzungen gegeben sind. Dabei betrifft der
Anordnungsanspruch die Frage der Erfolgsaussicht des
Hauptsacherechtsbehelfs, während der Anordnungsgrund nur bei Eilbedürftigkeit
zu bejahen ist. Die Anordnungsvoraussetzungen, nämlich der prospektive
Hauptsacheerfolg (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit der erstrebten
einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund), sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs.
2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung), wobei im Fall der
Bestandskraft eines Bescheides an den Anordnungsgrund besonders strenge
Anforderungen zu stellen sind und dieser nur bei einer massiven Beeinträchtigung
der sozialen und wirtschaftlichen Existenz vorliegen kann (Keller in Meyer-
Ladewig, SGG, 11. Aufl. 2014, § 86b Rdnr. 29c). Maßgebend für die Beurteilung
der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt
der gerichtlichen Eilentscheidung (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. z.B.
Beschlüsse vom 1. August 2005 a.a.O. und vom 17. August 2005 a.a.O.).
5 Soweit der Antragsteller Leistungen für die Zeit vor Beantragung einstweiligen
Rechtsschutzes am 18. November 2015 geltend macht, fehlt es bereits an einem
Anordnungsgrund. Eine einstweilige Anordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG
bedarf eines Gegenwartsbezugs im Sinne einer aktuellen Notlage, also einer
besonderen Dringlichkeit des Rechtsschutzbegehrens. Einen Ausgleich für
Rechtsbeeinträchtigungen in der Vergangenheit herbeizuführen ist grundsätzlich
nicht Aufgabe des vorläufigen Rechtsschutzes; eine derartige Entscheidung hat
vielmehr dem Hauptsacheverfahren vorzubehalten bleiben. Das gilt namentlich für
Leistungen, die für einen Zeitraum vor dem Antrag auf Gewährung einstweiligen
Rechtsschutzes begehrt werden (vgl. hierzu Keller in Meyer-Ladewig u.a., a.a.O., §
86b Rdnr. 35a ). Denn die Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz
2 SGG dient der Abwendung wesentlicher Nachteile mit dem Ziel, dem Betroffenen
die Mittel zur Verfügung zu stellen, die zur Behebung aktueller - noch bestehender
- Notlagen notwendig sind (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. etwa
Senatsbeschluss vom 28. März 2007 - L 7 AS 1214/07 ER-B - ). Aus dem
Gegenwartsbezug der einstweiligen Anordnung folgt, dass dieser vorläufige
Rechtsbehelf für bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung zurückliegende
Zeiträume nur ausnahmsweise in Betracht kommt; es muss durch die Nichtleistung
in der Vergangenheit eine Notlage entstanden sein, die bis in die Gegenwart
fortwirkt und den Betroffenen in seiner menschenwürdigen Existenz bedroht. Einen
derartigen „Nachholbedarf“ hat der Antragsteller nicht dargetan und erst recht nicht
glaubhaft gemacht.
6 Auch für die Zeit ab Antragstellung, somit ab dem 18. November 2015, hat der
Antragsteller keinen Anordnungsanspruch gegen den Antragsgegner glaubhaft
gemacht. Ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II gegen den
Antragsgegner setzt voraus, dass dieser örtlich zuständig ist. Nach § 36 Abs. 1
und 2 SGB II ist für die Leistungen nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB II die Agentur für
Arbeit zuständig, in deren Bezirk die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person
ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Für die Leistungen nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
SGB II ist der kommunale Träger zuständig, in dessen Gebiet die erwerbsfähige
leistungsberechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. § 30 Abs. 3 Satz 2
Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) definiert auch für den Bereich des SGB II
(vgl. § 37 SGB I) allgemein den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts. Danach hat
jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält,
die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur
vorübergehend verweilt. Für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts sind in
erster Linie die mit einem zeitlichen Moment verbundenen tatsächlichen Umstände
maßgebend. Darüber hinaus können auch subjektive Vorstellungen der
Leistungsberechtigten berücksichtigt werden. Eine Person begründet dann den
gewöhnlichen Aufenthalt, wenn sie den Willen hat, diesen Ort oder dieses Gebiet
bis auf Weiteres (zukunftsoffen), also nicht nur vorübergehend oder besuchsweise,
zum Mittelpunkt der Lebensbeziehungen zu machen und diesen Willen auch
verwirklicht, wobei immer die tatsächlichen Gegebenheiten maßgeblich sind
(Bundessozialgericht , Urteil vom 23. Mai 2012 - B 14 AS 190/11 R - juris).
Unter Zugrundelegung dieser Vorgaben hat der Antragsteller jedenfalls in der Zeit
ab November 2015 keinen gewöhnlichen Aufenthalt an seinen bisherigen Wohnort
mehr. Denn er hat seine Wohnung in der E. Straße in B. zum 31. Oktober 2015
gekündigt und damit zum Ausdruck gebracht, dass er nicht weiter beabsichtige,
dort zu wohnen. Soweit der Antragsteller im Beschwerdeschreiben hierzu
vorgetragen hat, er sei nicht ausgezogen, da er derzeit noch Miete zahle und sich
seine Wertgegenstände ebenfalls noch in der Wohnung befänden, ist dies
unbeachtlich, da er gleichzeitig vorgetragen hat, in der bisherigen Wohnung nicht
mehr wohnen zu wollen. Hierbei unbeachtlich ist, dass der bisherige Vermieter
noch nicht die Wohnungsgeberbestätigung nach § 19 Bundesmeldegesetz (BMG)
ausgestellt hat.
7 Darüber hinaus liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass sich der Antragsteller auch
bereits seit längerem nicht mehr an seinem bisherigen Wohnort aufgehalten hat.
Hierfür sprechen die im Verfahren vor dem SG vorgelegten
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für Zeiten ab Mai 2015, die von Ärzten in P.
und H. ausgestellt worden sind. Auch zu einer persönlichen Vorsprache beim
Antragsgegner am 3. Dezember 2015 ist der Antragsteller aus P. angereist, wie
seinem Antrag auf Übernahme der Fahrtkosten entnommen werden kann. Sowohl
P. als auch H. liegen nicht im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners.
8 Auch nach seinem eigenen Vortrag hält sich der Antragsteller zwischenzeitlich
nicht mehr an seinem bisherigen Wohnort, sondern bei Freunden in P. bzw. H. auf.
So hat er in der Beschwerdeschrift vom 2. Januar 2016 als Anschrift T. in H.
angegeben.
9 Dahin gestellt bleiben kann, ob der Kläger an seinem derzeitigen Aufenthaltsort
einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat, da er jedenfalls am
bisherigen Wohnsitz keinen gewöhnlichen Aufenthalt mehr hat. Denn nach § 36
Satz 4 SGB II ist, wenn ein gewöhnlicher Aufenthaltsort nicht festgestellt werden
kann, der Träger nach diesem Buch örtlich zuständig, in dessen Bereich sich die
oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte tatsächlich aufhält.
10 Es ist schließlich derzeit auch kein Anspruch auf vorläufige Leistungen nach § 43
Abs. 1 SGB I glaubhaft gemacht. Besteht danach ein Anspruch auf
Sozialleistungen und ist zwischen mehreren Leistungsträgern streitig, wer zur
Leistung verpflichtet ist, kann der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger
vorläufig Leistungen erbringen, deren Umfang nach pflichtgemäßen Ermessen
bestimmt. Er hat Leistungen nach Satz 1 zu erbringen, wenn der Berechtigte es
beantragt; die vorläufigen Leistungen beginnen spätestens nach Ablauf eines
Kalendermonats nach Eingang des Antrags. Ein Anspruch auf vorläufige
Leistungen nach § 43 SGB I setzt nämlich voraus, dass ein Zuständigkeitskonflikt
zwischen verschiedenen örtlich zuständigen Trägern besteht. Dies ist jedoch nicht
der Fall, wenn der Antragsteller sein Begehren auf einen bestimmten Träger der
Grundsicherung bzw. eine gemeinsame Einrichtung beschränkt und behauptet, in
dessen bzw. deren Bezirk seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu haben. Kann die
Richtigkeit dieser Behauptung nicht festgestellt werden, geht dies zu Lasten des
Antragstellers, mit der Folge, dass die beantragten Leistungen wegen fehlender
örtlicher Zuständigkeit der angegangenen Stelle abzulehnen sind
(Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. Juni 2010 -
L 6 AS 872/10 B - juris; Aubel in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015,
Stand 11. Januar 2016, § 36 Rdnr. 28). Erforderlich ist demnach ein
Zuständigkeitskonflikt zwischen verschiedenen Stellen. Voraussetzung hierfür ist,
dass der Antragsteller an seinen nunmehrigen Aufenthaltsort Leistungen nach
dem SGB II beantragt hat. Dies hat er weder vorgetragen noch sind sonst
Anhaltspunkte hierfür ersichtlich.
11 Ein Anspruch gegen den Antragsgegner ist auch nicht unter Zugrundelegung von
§ 2 Abs. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) glaubhaft gemacht. Hat
danach die örtliche Zuständigkeit gewechselt, muss die bisher zuständige
Behörde die Leistungen noch solange erbringen, bis sie von der nunmehr
zuständigen Behörde fortgesetzt werden. Diese Regelung setzt jedoch einen
laufenden Leistungsbezug voraus. Sie findet Anwendung bei abgeschlossenem
Verwaltungsverfahren, in dem bereits über die Leistungsgewährung entschieden
wurde (Engelmann in von Wulffen, SGB X, § 2 Rdnr. 13). Sie ist dagegen - wie
vorliegend - nicht anwendbar, wenn über Leistungen in einem neuen
Bewilligungszeitraum zu entscheiden ist und gerade im Streit steht, ob die
angegangene Behörde noch örtlich zuständig ist.
12 Schließlich steht einem Leistungsanspruch die Regelung des § 7 Abs. 4a SGB II
entgegen. Danach erhalten erwerbsfähige Leistungsberechtigte keine Leistungen,
wenn sie sich ohne Zustimmung des zuständigen Trägers nach diesem Buch
außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs aufhalten und deshalb nicht für die
Eingliederung in Arbeit zur Verfügung stehen. Diese Regelung ist vorliegend
einschlägig, da der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht hat, dass er sich im zeit-
und ortsnahen Bereich des Antragsgegners aufgehalten hat bzw. aufhält. Im zeit-
und ortsnahen Bereich hält sich nach der insoweit noch heranzuziehenden
Erreichbarkeitsanordnung (vgl. Thie in LPK-SGB II, 5. Aufl. 2013, § 7 Rdnr. 6) auf,
wer in der Lage ist, unverzüglich Mitteilungen eines Leistungsträgers persönlich
zur Kenntnis zu nehmen, den Leistungsträger aufzusuchen, mit einem möglichen
Arbeitgeber oder Träger einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme in
Verbindung zu treten und bei Bedarf persönlich mit diesem zusammentreffen und
eine vorgeschlagene Arbeit anzunehmen oder an einer beruflichen
Eingliederungsmaßnahme teilzunehmen. Danach muss der erwerbsfähige
Leistungsberechtigte sicherstellen, dass ihn der Leistungsträger persönlich an
jedem Werktag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der von
ihm benannten Anschrift (Wohnung) durch Briefpost erreichen kann. Diese
Voraussetzungen sind beim Antragsteller nicht erfüllt, da er von seinem derzeitigen
Aufenthaltsort, sei er in H. oder P., nicht mit den ihm zur Verfügung stehenden
Verkehrsmitteln den Antragsgegner ohne unzumutbaren Aufwand, d.h. in weniger
als 75 Minuten einfache Fahrstrecke (vgl. hierzu LSG Bayern, Urteil vom 16.
Januar 2013 - L 11 AS 583/10 - juris), erreichen kann.
13 Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193
SGG.
14 Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).