Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 19.07.2013

künstliche befruchtung, ivf, krankenkasse, behandlung im ausland

LSG Baden-Württemberg Urteil vom 19.7.2013, L 4 KR 4624/12
Krankenversicherung - Kostenerstattung - Notwendigkeit der vorherigen
Einschaltung der Krankenkasse - kein Anspruch auf Erstattung der Kosten für
Präimplantationsdiagnostik - kein Systemmangel - keine Kostenerstattung für In-
Vitro-Fertilisation bei fehlender Fertilitätsstörung und Vorliegen einer
vererbbaren Erkrankung - Verfassungsmäßigkeit - keine grundrechtsorientierte
Auslegung nach dem Beschluss des BVerfG vom 6.12.2005 - Kostenerstattung
bei Inanspruchnahme von Leistungserbringern in einem anderen Mitgliedstaat
der Europäischen Union (hier in Belgien) nur bei inländischem Sach- oder
Dienstleistungsanspruch
Leitsätze
Die Präimplantationsdiagnostik unterfällt weder den Anspruchsregelungen der §§ 25,
26 SGB V als Maßnahme der Früherkennung, noch stellt sie eine Maßnahme der
Krankenbehandlung nach § 27 SGB V dar noch ist sie nach § 27a SGB V zu
gewähren noch liegt insoweit ein Systemmangel vor (siehe bereits Urteil des Senats
vom 19.04.2013 - L 4 KR 5058/12 -).
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19.
September 2012 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1 Streitig ist, ob die Beklagte dem Kläger die Kosten für die Durchführung einer
Präimplantationsdiagnostik (PID) und die Durchführung
reproduktionsmedizinischer Behandlungen mittels In-Vitro-Fertilisation (IVF) in
Höhe von EUR 21.578,31 zu erstatten hat und ob sie dem Kläger zunächst zwei
weitere Behandlungszyklen als Sachleistung zu gewähren hat.
2 Der 1976 geborene Kläger und die 1982 geborene M. K. (im Folgenden M.K.) sind
verheiratet. Der Kläger, bei dem keine Fertilitätsstörung vorliegt, ist bei der
Beklagten versichert. Er leidet an einer cerebralen autosomal dominanten
Artheriopathie mit subkortikalen Infarkten und Leukoenzephalopathie (CADASIL),
einer dominant-rezessiv vererbbaren neurologischen Erkrankung, die einen
degenerativen Verlauf bis zur Demenz nehmen kann und für die es keine kausale
Therapie gibt.
3 Wegen des Kinderwunsches des Klägers und von M.K. fertigte der Urologe Dr. Sc.
am 28. Juni 2011 ein Spermiogramm des Klägers an. Am 29. Juni 2011 führten die
Gynäkologen Dr. P.-K., T. und Dr. S. Beratungsgespräche mit dem Kläger und
M.K. durch, am 30. August 2011 wurde bei M.K. und am 19. September 2011 beim
Kläger eine Infektionsdiagnostik durchgeführt. Außerdem wurde M.K. am 8.
September 2011 von Dr. P.-K., T. und Dr. S. voruntersucht. Diese Untersuchungen
fanden jeweils in Deutschland statt. Insgesamt wurde dem Kläger und M.K. hierfür
ein Betrag in Höhe von EUR 478,96 in Rechnung gestellt.
4 Am 21. September 2011 beantragten der Kläger und M.K. bei der Beklagten die
Übernahme der Kosten für eine künstliche Befruchtung. Sie begehrten einen
Zuschuss zur PID, zumindest in der Höhe, die der üblichen Kostenübernahme bei
einer künstlichen Befruchtung entspricht. Zur Begründung trugen sie vor, dass
diese Behandlung für sie die einzige Möglichkeit sei, ihrem Kind und auch ihnen
unnötiges Leid und eine immense psychische Belastung zu ersparen. Da die PID
in Deutschland seit dem 7. Juli 2011 zwar zulässig, auf nicht absehbare Zeit aber
technisch noch nicht möglich sei, seien sie darauf angewiesen, die Behandlung im
Ausland durchführen zu lassen. Nach einer umfassenden Beratung, die auch die
medizinischen, psychischen und sozialen Aspekte der PID mit eingeschlossen
habe, sei ihnen von ihren Ärzten geraten worden, sich an das „Centrum voor
Reproductieve Geneeskunde “ der Universitätsklinik Brüssel zu wenden, da dieses
über die nötigen technischen Mittel und die nötige praktische Erfahrung verfüge.
Sie fügten die ärztliche Bescheinigung des Internisten, Diabetologen und
Kardiologen Dr. P. vom 14. September 2011, eine Kostenaufstellung für
Selbstzahler für eine IVF des Kinderwunschzentrums H. ohne Datum und einen
Kostenvoranschlag des Prof. Dr. L. und Dr. V., Belgien, Version 12/2010 bei.
5 Mit an den Kläger und M.K. gerichtetem Bescheid vom 28. September 2011 lehnte
die Beklagte die Kostenübernahme für eine künstliche Befruchtung bei zuvor
durchzuführender PID ab. Zur Begründung führte sie aus, dass Maßnahmen der
künstlichen Befruchtung u.a. dann eine Leistung der gesetzlichen
Krankenversicherung darstellten, wenn eine Fertilitätsstörung vorliege. Im Falle
des Klägers und von M.K. sei zwar das Vorliegen einer vererbbaren Erkrankung,
nicht jedoch eine eingeschränkte Zeugungsfähigkeit bestätigt. Nach den derzeit
gültigen Richtlinien stelle das Vorliegen einer vererbbaren Erkrankung keine
Grundlage zur Einleitung einer künstlichen Befruchtung dar. Maßnahmen zur
künstlichen Befruchtung könnten daher nicht bewilligt werden. Eine Bewilligung im
Ausland - hier in der Universitätsklinik in Brüssel - scheide demnach ebenfalls aus.
6 Dagegen legten der Kläger und M.K., die mit Ausnahme von Blutuntersuchungen
im Februar 2012 und in den Monaten Mai bis Juli 2012 die weitere Behandlung am
11. Oktober 2011 in Brüssel fortsetzten, wo - im Ergebnis ohne Erfolg - am 25.
Februar 2012 eine erste und am 18. Juni 2012 eine zweite IVF mit vorangehender
PID durchgeführt wurde, Widerspruch ein. Unter Vertiefung ihres bisherigen
Vorbringens wiesen sie ergänzend darauf hin, dass die PID nach dem
Gesetzesentwurf 17/5451, der am 7. Juli 2011 im Bundestag bewilligt worden sei,
eine Maßnahme darstelle, die bei schwerwiegenden vererbbaren Krankheiten
durchaus den Vorgaben innerhalb der Bundesrepublik Deutschland entspreche.
Die eigene Übernahme der Kosten für eine PID stelle für sie eine extreme soziale
Härte dar, die sie finanziell überfordere.
7 Mit an den Kläger gerichtetem Widerspruchsbescheid vom 21. Dezember 2011
wies der bei der Beklagten gebildete Widerspruchsausschuss den Widerspruch
zurück. Inwieweit und in welchem Umfang die Behandlung im EWR-Ausland zu
erstatten sei, richte sich nach dem nationalen Sachleistungssystem. Die
Regelungen des § 13 Abs. 4 bis 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) führten
nicht dazu, dass auch solche Behandlungen erstattet werden müssten, die nach
den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verboten seien. Dies ergäbe sich daraus,
dass nach § 13 Abs. 1 SGB V die Kostenerstattung grundsätzlich anstelle der
Sachleistung trete. Die Kostenerstattung nach dieser Vorschrift könne somit nur
dann beansprucht werden, wenn alle nach deutschem Recht (hierzu gehörten
beispielsweise auch die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses -
GBA-) maßgeblichen Leistungsvoraussetzungen erfüllt seien. Dazu zähle unter
anderem, wie auch bei einer Inanspruchnahme im Inland, das Vorliegen der
medizinischen Indikation für die jeweils vorgesehene Behandlungsmethode.
Maßgebend für die Beurteilung, ob ein Sachleistungsanspruch bestehe, sei § 27a
SGB V. Grundsätzlich sei eine IVF oder Intracytoplasmatische Spermieninjektion
(ICSI) entsprechend § 27a SGB V i.V.m. den Richtlinien des GBA über ärztliche
Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung (Richtlinien über künstliche Befruchtung)
eine von der gesetzlichen Krankenversicherung geschuldete Leistung. Die vom
Kläger gewünschte PID stelle jedoch keine Leistung zu Lasten der deutschen
gesetzlichen Krankenversicherung dar. Insofern begründe dies für sie, die
Beklagte, keine Möglichkeit, sich an den Kosten für die in Belgien begehrte
Kinderwunschbehandlung zu beteiligen.
8 Deswegen erhoben der Kläger und M.K., die ihre Klage im weiteren Verlauf
zurücknahm, am 24. Januar 2012 Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG).
Insbesondere wegen des CADASIL-Syndroms, welches dominant vererbt werde,
bestehe die hohe Wahrscheinlichkeit, dass seine Nachkommen mit der gleichen
Krankheit belastet seien. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine PID seien
daher erfüllt. Sie hätten die Behandlungsmaßnahmen in Belgien durchführen
lassen, da die Maßnahme bis jetzt in Deutschland nicht zur Verfügung stehe. Für
die PID selbst würden die Einschränkungen zur Leistungshöhe aus § 27a SGB V
nicht gelten. Auch für den IVF-Behandlungsteil würden sie hier nicht gelten, da
ursächlich nicht eine Sterilitätserkrankung, sondern eine genetische Erkrankung
sei. Es sei deshalb nicht § 27a SGB V, sondern § 27 SGB V anzuwenden. Der
Kläger legte neben einer Kostenaufstellung der bisher erfolgten Behandlungen in
der Zeit vom 28. Juni 2011 bis 2. Juli 2012 und der entsprechenden Rechnungen
in Höhe von EUR 13.073,24 für Voruntersuchungen in Deutschland, Medikamente
und den ersten Behandlungsversuch in Brüssel am 25. Februar 2012 sowie in
Höhe von EUR 8.505,07 für Voruntersuchungen in Deutschland, Medikamente
und den zweiten Behandlungsversuch in Brüssel am 18. Juni 2012 folgende
Arztbriefe, Bescheinigungen, Beurteilungen und Rechnungen vor:
9 - des Prof. Dr. G., Städtisches Klinikum K., Neurologische Klinik vom 16. Dezember
2008, über die stationäre Behandlung vom 21. bis 24. November 2011 (Diagnose:
rechtscerebrale transitorische ischämische Attacke (TIA), Differentialdiagnostik
Erstmanifestation Migräne mit Aura, Leukencephalopthie unklarer Ätiologie,
vasovagale Synkope nach Blutentnahme mit kurzzeitiger Asystolie ),
10 - des Dr. M., Städtisches Klinikum K., Neurologische Klinik vom 1. Juni 2010
(Diagnose: dringender Verdacht auf CADASIL),
11 - der Ärztin für Humangenetik Dr. J. vom 2. August 2010 und 8. Juni 2011
(Diagnose: Verdacht auf CADASIL; PID-Behandlung in Deutschland derzeit nicht
möglich) und
12 - des Dr. Sk., Zentrum für Humangenetik M. vom 16. August 2010 (Ergebnis:
heterozygoter Nachweis der Mutation p.R133C im NOTCH3-Gen),
13 Die Beklagte trat der Klage entgegen.
14 Mit Urteil vom 19. September 2012 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung
führte das SG aus, die Beklagte habe zutreffend die Anspruchsvoraussetzungen
des § 13 SGB V verneint. Ergänzend sei auszuführen, dass die streitige
Behandlung, insbesondere auch die künstliche Befruchtung, nicht wegen einer
Fertilitätsstörung des Klägers erfolge, sondern ausschließlich deshalb, weil allein
die PID die Möglichkeit eröffne, für die Implantation erbgesunde Zellen aufzufinden
und damit die Chance zur Geburt eines gesunden Kindes zu erhöhen. § 27a SGB
V und die dazu ergangene Richtlinie über künstliche Befruchtung vom 14. August
1990, zuletzt geändert am 21. Juli 2011, räumten dem Kläger jedoch keinen
Anspruch auf Maßnahmen der Befruchtungsmedizin ein, die über die notwendige
Maßnahme zur Herbeiführung einer Schwangerschaft hinausgingen. Eine
Änderung der §§ 27a, 27 SGB V sei mit der Neufassung des Gesetzes zum
Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz -ESchG-) vom 13. Dezember
1990, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 21. November 2011 (BGBl.
I, 2228), nicht erfolgt. Gemäß § 3a Abs. 2 Satz 2 ESchG werde abweichend von
der in § 3a Abs. 1 erfolgten Strafbewehrung bestimmt: Bestehe aufgrund der
genetischen Disposition der Frau, von der die Eizelle stamme, oder des Mannes,
von dem die Samenzelle stamme, oder von beiden für deren Nachkommen das
hohe Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit, handele nicht rechtswidrig, wer
zur Herbeiführung einer Schwangerschaft mit schriftlicher Einwilligung der Frau,
von der die Eizelle stammt, nach dem allgemein anerkannten Stand der
medizinischen Wissenschaft und Technik Zellen des Embryos in vitro vor dem
intrauterinen Transfer auf die Gefahr dieser Krankheit genetisch untersuche. Die
durch das Gesetz vom 21. November 2011 vorgenommene Änderung des ESchG
ändere jedoch nichts an der krankenversicherungsrechtlichen
Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers. Denn die Frage, ob die PID
vorliegend in Deutschland strafrechtlich bewehrt sei oder nach Maßgabe des § 3a
Abs.2 ESchG nicht rechtswidrig durchgeführt werden könne, sei von der Frage
nach dem aus § 27a SGB V resultierenden Anspruch auf Maßnahmen der
Befruchtungsmedizin zu trennen. Nach § 27a SGB V schulde die Beklagte nur
diejenigen Maßnahmen, die zur Herbeiführung einer Schwangerschaft erforderlich
seien, nicht aber solche Maßnahmen, die sich darüber hinaus auf die Geburt eines
gesunden Kindes richteten. Eine erweiternde Auslegung des § 27a SGB V oder
des § 27 SGB V im klägerischen Sinne scheide aus. Die einen ethisch-rechtlich
umstrittenen Sachverhalt betreffende Entscheidung, ob über die Änderung des
ESchG hinaus krankenversicherungsrechtlich ein Leistungsanspruch für die PID
unter welchen Voraussetzungen auch immer bestehen solle, bedürfe ebenfalls
einer eindeutigen gesetzgeberischen Entscheidung. § 27 SGB V sei für die
Beurteilung, ob ein Sachleistungsanspruch bestanden habe und hinsichtlich eines
dritten und vierten Zyklusses bestehe, nicht einschlägig. Maßnahmen, die sich als
Teil einer künstlichen Befruchtung erwiesen, regele das Gesetz allein im Rahmen
des § 27a SGBV (hierzu umfassend Bundessozialgericht (BSG) vom 28.
September 2010 - B 1 KR 26/09 R -, in juris). Ungeachtet dessen beinhalte die PID
nicht eine Krankenbehandlung des Klägers gemäß § 27 SGB V. Die PID sei keine
Maßnahme mit Therapiecharakter, sondern sei - wie ausgeführt - eine solche, die
ausschließlich dazu diene, erbgesunde Zellen aufzufinden. Eine Therapie der
klägerischen Erkrankung als solcher erfolge nicht.
15 Gegen dieses seinen Prozessbevollmächtigten am 10. Oktober 2012 zugestellte
Urteil hat der Kläger am 6. November 2012 Berufung eingelegt. Er wiederholt sein
bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend vor, die Erwägungen des SG, die
streitgegenständliche Behandlung stehe nicht im Zusammenhang mit einer
Fertilitätsstörung seinerseits, greife sowohl in medizinischer wie in rechtlicher
Hinsicht zu kurz. Für die Begriffe „Krankheit“, „Krankheitsbeschwerden“ und
„Krankenbehandlung“ gelte eine medizinisch-funktionale Sichtweise. Bei ihm liege
eine gestörte Körperfunktion vor. Zu einem gesunden Körperzustand einer Person
im fortpflanzungsfähigen Alter gehöre nämlich nicht nur die Fertilität an sich,
sondern auch die Fähigkeit, gesunde Nachkommen - frei von Erbkrankheiten - zu
zeugen. An letzterem mangele es. Insoweit liege eine Krankheit seinerseits vor.
Diese Krankheit bzw. deren Folgen könne durch die streitgegenständliche
Behandlung gelindert werden. Denn die streitgegenständliche Behandlung ziele
darauf ab, befruchtete Eizellen vom weiteren Fortpflanzungsvorgang
auszuschließen, wenn diese jeweils seine Erbkrankheit tragen würden. Aus
medizinischer Sicht sei dies Krankenbehandlung. Unerheblich sei, dass die
Krankheit durch die Behandlungsmaßnahme nicht gänzlich behoben werden
könne und dass die Behandlung nicht direkt einen Körperteil seinerseits
verändere. Letzteres gehöre nicht zur Krankenbehandlung im Sinne des SGB V.
Nicht relevant sei auch der Umstand, dass bei der Therapie befruchtete Eizellen,
die Träger der Krankheit seien, nicht behandelt, sondern ausgesondert würden.
Die Therapie eines Leidens könne gerade darin liegen, hiervon betroffene
Körperteile zu entfernen. § 3a ESchG sei mit Blick auf eine Klagabweisung
unbehelflich. Die Vorschrift besage lediglich, dass bei gegebener Indikationslage
die PID nicht rechtswidrig sei. Das SG habe auch das Regelungsverhältnis der §§
27, 27a SGB V verkannt. § 27 SGB V gewähre Krankenbehandlung und stelle in
Abs. 1 Satz 4 fest, dass zur Krankenbehandlung auch Leistungen zur Herstellung
der Zeugungs- oder Empfängnisfähigkeit gehörten. Eine Einschränkung
dahingehend, dass hiermit nur die Zeugungsfähigkeit an sich, nicht aber auch in
qualitativ gesunder Weise gemeint sein soll, sei der Vorschrift nicht zu entnehmen.
Eine derartige einschränkende Auslegung würde dem Krankheitsbegriff
widersprechen. § 27a SGB V sei eine Spezialregelung für den Fall, dass die
Krankheit gerade darin liege, dass zu deren Überwindung
reproduktionsmedizinische Maßnahmen notwendig seien. Nur in diesem
Anwendungsbereich sei § 27a SGB V lex specialis zu § 27 SGB V. Dieser
Anwendungsbereich sei hier indes nicht eröffnet. Rechtsethisch unvertretbar sei
es, die Pränataldiagnostik und Spätabtreibung als Kassenleistung zu gewähren,
das Erkennen gesunder Embryonen im Alter von wenigen Tagen, welches
Spätabtreibungen überflüssig mache, jedoch als Kassenleistung zu verwehren.
Hierin läge auch eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung beider Fallgruppen.
Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) sei auch
deshalb verletzt, da eine Rechtsordnung, die zu Spätabtreibungen zwinge, nicht
auf sachgerechten Erwägungen beruhen könne. Das Urteil des Senats vom 19.
April 2013 - L 4 KR 5058/12 - vertrage sich nicht mit einer grundrechtsorientierten
Auslegung zu § 27 SGB V (vgl. dazu LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.
März 2011, L 5 KR 177/10, in juris). Diese Rechtsauffassung würde ihn zwingen,
sich und M.K. Schwangerschaften auf Probe mit all den vorgetragenen Folgen,
z.B. auch Spätabtreibungen, zuzumuten. Dies sei keine angemessene und
verhältnismäßige Alternative. Ganz abgesehen davon, dass die damit
verbundenen Kosten, die wiederum Kassenleistungen wären, beträchtlich seien.
16 Der Kläger beantragt,
17 das Urteil des Sozialgerichts K. vom 19. September 2012 und den Bescheid der
Beklagten vom 28. September 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 21. Dezember 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm bislang
entstandene Kosten für zwei Behandlungszyklen der künstlichen Befruchtung mit
Präimplantationsdiagnostik in Höhe von EUR 21.578,31 zu erstatten und die
Beklagte zu verurteilen, ihm zunächst zwei weitere Behandlungszyklen der
künstlichen Befruchtung mit Präimplantationsdiagnostik als Sachleistung zu
gewähren,
18 hilfsweise die Revision zuzulassen.
19 Die Beklagte beantragt,
20 die Berufung zurückzuweisen.
21 Sie hält das Urteil des SG für zutreffend.
22 Der Senat hat die Beteiligten auf sein Urteil vom 19. April 2013 - L 4 KR 5058/12 -
(zur Veröffentlichung vorgesehen) hingewiesen.
23 Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie der Einzelheiten des
Sachverhalts wird auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten sowie die
Gerichtsakten in beiden Instanzenzügen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
24 Die Berufung des Klägers ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und
auch statthaft. Der Beschwerdewert des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
Sozialgerichtsgesetz (SGG) von EUR 750,00 ist überschritten. Bereits der
Erstattungsanspruch, den der Kläger geltend macht, beläuft sich auf EUR
21.578,31.
25 Die zulässige Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht
abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 28. September 2011 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 21. Dezember 2011 ist rechtmäßig und verletzt
den Kläger nicht in seinen Rechten. Dem Kläger stehen keine Ansprüche auf
Erstattung der Kosten für die bereits durchgeführte zweimalige PID und IVF noch
auf die Übernahme der Kosten für weitere Behandlungszyklen zu.
26 Dem Anspruch auf Erstattung der in der Zeit vom 28. Juni bis 19. September 2011
angefallenen Kosten in Höhe von EUR 478,96 steht bereits entgegen, dass dem
Kläger insoweit nicht dadurch Kosten entstanden sind, dass die Beklagte die
Leistung abgelehnt hat (hierzu 1. a)). Darüber hinaus besteht aber auch insgesamt
kein Anspruch auf Erstattung der Kosten für die PID (hierzu 1. b)) und der IVF
(hierzu 1.c)). Auch verfassungsrechtliche Einwände schlagen nicht durch (hierzu
1.d)). Damit besteht auch kein Anspruch auf Übernahme künftiger Kosten (hierzu
2.). Nachdem die Leistungen zu Lasten der Beklagten in Deutschland nicht in
Anspruch genommen werden können, kommt auch die Erstattung bzw.
Übernahme der Kosten für in Belgien erbrachte Leistungen nicht in Betracht
(hierzu 3.).
27 1. Der Kläger hat nicht nach § 13 Abs. 2 SGB V anstelle der Sach- oder
Dienstleistungen Kostenerstattung gewählt. Als Anspruchsgrundlage für einen
Kostenerstattungsanspruch scheidet § 13 Abs. 2 SGB V deshalb aus.
28 Als Anspruchsgrundlage für einen Kostenerstattungsanspruch kommt damit nur §
13 Abs. 3 Satz 1 SGB V in Betracht. Nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V sind einem
Versicherten von der Krankenkasse Kosten für eine selbst beschaffte Leistung in
der entstandenen Höhe zu erstatten, wenn die Krankenkasse eine
unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte, oder sie eine
Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbst
beschaffte Leistung Kosten entstanden sind, soweit die Leistung notwendig war.
29 a) Bezüglich der in der Zeit vom 28. Juni bis 19. September 2011 angefallenen
Kosten fehlt es schon an der Voraussetzung, dass dem Kläger dadurch Kosten
entstanden sind, dass die Beklagte die Leistung abgelehnt hat (§ 13 Abs. 3 Satz 1
Alternative 2 SGB V).
30 Ein auf die Verweigerung der Sachleistung gestützter Erstattungsanspruch
scheidet nach ständiger Rechtsprechung aus, wenn sich der Versicherte die
Leistung besorgt hat, ohne die Krankenkasse einzuschalten und deren
Entscheidung abzuwarten. § 13 Abs. 3 SGB V soll einen Erstattungsanspruch für
den Ausnahmefall gewähren, dass eine von der Krankenkasse geschuldete
notwendige Behandlung infolge eines Mangels im Leistungssystem der
Krankenversicherung als Dienst- oder Sachleistung nicht oder nicht in der
gebotenen Zeit zur Verfügung gestellt werden kann. Nach Wortlaut und Zweck der
Vorschrift muss zwischen dem die Haftung der Krankenkasse begründenden
Umstand (rechtswidrige Ablehnung) und dem Nachteil des Versicherten
(Kostenlast) ein Ursachenzusammenhang bestehen. Daran fehlt es, wenn die
Kasse vor Inanspruchnahme der Behandlung mit dem Leistungsbegehren nicht
befasst wurde, obwohl dies möglich gewesen wäre (ständige Rechtsprechung des
BSG, vgl. Urteil vom 15. April 1997 - 1 BK 31/96 -; Urteil vom 4. April 2006 - B 1 KR
5/05 R -; Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 1 KR 8/06 R -, jeweils in juris). Dieses
Verfahren ist entgegen früherer Andeutung (vgl. BSG, Urteil vom 28. September
1993 - 1 RK 37/92 -, in juris) auch zu fordern in Fällen, in denen von vornherein
feststand, dass eine durch Gesetz oder Verordnung von der Versorgung
ausgeschlossene Sachleistung verweigert werden würde und sich der Versicherte
dadurch gezwungen gesehen hat, die Leistung selbst zu beschaffen (vgl.
eingehend BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 1 KR 8/06 R -, in juris). Nur bei
einer Vorabprüfung können die Krankenkassen ihre - Gesundheitsgefahren und
wirtschaftlichen Risiken vorbeugenden - Beratungsaufgaben erfüllen, die
Versicherten vor dem Risiko der Beschaffung nicht zum Leistungskatalog
gehörender Leistungen zu schützen und ggf. aufzeigen, welche Leistungen an
Stelle der begehrten in Betracht kommen. Dem kann nicht der Einwand der
"Förmelei" entgegengehalten werden, weil der Wortlaut des § 13 Abs. 3 Satz 1
SGB V unmissverständlich einen Ursachenzusammenhang zwischen
rechtswidriger Ablehnung und Kostenlast verlangt (vgl. BSG, Urteile vom 14.
Dezember 2006 - B 1 KR 8/06 R - aaO und 2. November 2007 - B 1 KR 14/07 R -,
in juris).
31 Der Kläger hat seinen Antrag auf Kostenerstattung bzw. Übernahme der Kosten
erst am 21. September 2011 gestellt. Zu diesem Zeitpunkt hatten wegen des
Kinderwunsches bereits vom 28. Juni bis 19. September 2011 Behandlungen
stattgefunden, für die dem Kläger und M.K. insgesamt EUR 478,96 in Rechnung
gestellt worden sind. Die insoweit geltend gemachte Kostenerstattung, wobei der
Senat offen lässt, ob der Kläger überhaupt die Erstattung der Kosten für
Behandlungen bei M.K. geltend machen kann, betrifft damit einen Zeitraum, der
bereits bei Antragstellung vollständig in der Vergangenheit lag. In der Zeit vor und
während dieser Behandlung hatte der Kläger keinerlei Kontakt mit der Beklagten
aufgenommen, um sie über die begonnene Kinderwunschbehandlung mit dem Ziel
der PID und IVF zu unterrichten. Dadurch hat er der Beklagten die Möglichkeit
genommen, die Notwendigkeit und Übernahmefähigkeit der Behandlung sowie die
gestellte Diagnose zu überprüfen und gegebenenfalls andere
Behandlungsmethoden vorzuschlagen bzw. darauf hinzuweisen, dass eine
Übernahme dieser Kosten nicht möglich ist. Der Kläger hat sich eine Leistung
besorgt, ohne die Krankenkasse einzuschalten und deren Entscheidung
abzuwarten. Zumindest für diese Kosten war der ablehnende Bescheid der
Beklagten vom 28. September 2011 deshalb nicht ursächlich.
32 Die Behandlungen zwischen dem 28. Juni und 19. September 2011 waren auch
nicht unaufschiebbar im Sinne von § 13 Abs. 3 Satz 1 Alternative 1 SGB V. Eine
Leistung ist unaufschiebbar, wenn eine Leistungserbringung im Zeitpunkt ihrer
tatsächlichen Durchführung so dringlich ist, dass aus medizinischer Sicht keine
Möglichkeit eines nennenswerten zeitlichen Aufschubs bis zu einer Entscheidung
der Krankenkasse mehr besteht. Die medizinische Dringlichkeit ist indessen nicht
allein ausschlaggebend. Denn neben der Unaufschiebbarkeit wird vorausgesetzt,
dass die Krankenkasse die in Rede stehenden Leistungen nicht rechtzeitig
erbringen konnte. Davon kann im Regelfall nur ausgegangen werden, wenn sie mit
dem Leistungsbegehren konfrontiert war und sich dabei ihr Unvermögen
herausgestellt hat. Nur da, wo eine vorherige Einschaltung der Krankenkasse vom
Versicherten nach den Umständen des Falles nicht verlangt werden konnte, darf
die Unfähigkeit zur rechtzeitigen Leistungserbringung unterstellt werden (BSG,
Urteil vom 25. September 2000 - B 1 KR 5/99 R -; Urteil vom 2. November 2007 - B
1 KR 14/07 R -, jeweils in juris). Grund hierfür ist wiederum, dass nur bei einer
Vorabprüfung die Krankenkassen ihre Gesundheitsgefahren und wirtschaftlichen
Risiken vorbeugenden Beratungsaufgaben erfüllen können, die Versicherten vor
dem Risiko der Beschaffung nicht zum Leistungskatalog gehörender Leistungen
zu schützen und gegebenenfalls aufzeigen, welche Leistungen an Stelle der
begehrten in Betracht kommen.
33 Eine solche medizinische Unaufschiebbarkeit oder Dringlichkeit hat mit Blick auf
die zwischen dem 28. Juni und 19. September 2011 durchgeführten
Behandlungen nicht vorgelegen. Die Behandlungen mussten nicht derart
kurzfristig erbracht werden. Dies ergibt sich schon daraus, dass der Kläger schon
im August 2010 ein erstes humangenetisches Beratungsgespräch führte. Auch
waren der 1976 geborene Kläger und die 1982 geborene M.K. im Jahr 2011 erst
35 bzw. 29 Jahre alt und weitere Behandlungszyklen sind geplant. Dies lässt den
Schluss darauf zu, dass die im Juni 2011 begonnene Behandlung nicht
unaufschiebbar war.
34 b) Insgesamt scheitert der Kostenerstattungsanspruch des Klägers mit Blick auf
die PID aber auch daran, dass die PID weder den Anspruchsregelungen der §§
25, 26 SGB V als Maßnahme der Früherkennung (hierzu aa)) unterfällt, noch stellt
sie eine Maßnahme der Krankenbehandlung nach § 27 SGB V dar (hierzu bb)).
Die begehrten Leistungen sind auch nicht nach § 27a SGB V zu erstatten (hierzu
cc)) und es liegt insoweit auch kein Systemmangel vor (hierzu dd)).
35 aa) Anspruch auf Früherkennungsuntersuchungen nach §§ 25, 26 SGB V haben
bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen lebende Versicherte (Bayerisches
Landessozialgericht, Urteil vom 7. August 2008 - L 4 KR 259/07 -, in juris;
Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 18. April 2012 - L 5 KR
2538/10 -, nicht veröffentlicht). Die PID dient im Vorfeld der Entscheidung über eine
künstliche Befruchtung dem möglichen Ausschluss einer Befruchtung von
genetisch belasteten Eizellen mit genetisch belasteten Spermien. Die PID soll die
Zeugung eines kranken Kindes und damit gegebenenfalls eine zum Abbruch
führende Schwangerschaft oder eine schwerwiegende Gesundheitsstörung beim
Embryo verhindern. Sie findet weder am Körper des Klägers noch der M.K., aber
auch nicht bei einem schon gezeugten Embryo statt, weshalb §§ 25, 26 SGB V
schon deshalb, weil die Untersuchung nicht an einem lebenden Körper erfolgt, den
Anspruch des Klägers auf Durchführung einer PID nicht stützen.
36 bb) Die PID stellt auch keine Maßnahme der Krankenbehandlung im Sinne des §
27 SGB V dar. Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf
Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu
heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.
Die Krankenbehandlung umfasst nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB V ärztliche
Behandlung durch zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung berechtigte
Behandler (§ 76 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Krankheit im Sinne dieser Vorschrift ist ein
regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder
Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen
arbeitsunfähig macht (ständige Rechtsprechung, z.B. BSG, Urteile vom 19.
Oktober 2004 - B 1 KR 3/03 R - und vom 28. September 2010 - B 1 KR 5/10 R -,
jeweils in juris). Eine Krankenbehandlung ist hierbei notwendig, wenn durch sie der
regelwidrige Körper- oder Geisteszustand behoben, gebessert oder vor einer
Verschlimmerung bewahrt wird oder Schmerzen und Beschwerden gelindert
werden können (ständige Rechtsprechung seit BSG, Urteil vom 28. April 1967 - 3
RK 12/65 -, in juris). Eine Krankheit liegt nur vor, wenn der Versicherte in den
Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder wenn die anatomische Abweichung
entstellend wirkt (vgl. BSG, Urteil vom 9. Juni 1998 - B 1 KR 18/96 R -; Urteil vom
13. Juli 2004 - B 1 KR 11/04 R -; Urteil vom 28. September 2010 - B 1 KR 5/10 R -,
alle in juris).
37 Ob die beim Kläger bestehende Genmutation selbst eine Krankheit in diesem
Sinne darstellt, nachdem sie ursächlich für die beim Kläger vorliegende CADASIL-
Erkrankung ist, oder ob nur die CADASIL-Erkrankung selbst als Krankheit zu
werten ist, lässt der Senat dahingestellt. Jedenfalls kann mithilfe der PID dieser
Gendefekt und die CADASIL-Erkrankung nicht behandelt werden. Die PID vermag
beim Kläger die Genmutation und auch die CADASIL-Erkrankung weder zu heilen,
noch ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.
Die PID ist keine Maßnahme mit Therapiecharakter, sondern eine solche, die
ausschließlich dazu dient, erbgesunde Zellen aufzufinden. Etwas anderes ergibt
sich auch nicht mit Blick auf das Kind. Bei Durchführung der PID ist noch kein Kind
gezeugt, weshalb auch noch keine Krankenbehandlung an ihm stattfinden kann.
Auch das Vorbringen des Klägers, wonach mithilfe der PID die Erbkrankheit
tragende befruchtete Eizellen vom weiteren Fortpflanzungsvorgang
ausgeschlossen werden könnten und damit sein erhöhtes Risiko an CADASIL
erkrankende erbkranke Kinder zu zeugen, aufgehoben wird, vermag einen
Anspruch gestützt auf § 27 SGB V nicht zu rechtfertigen. Der Kläger leidet nicht
unter einer Zeugungsunfähigkeit, die als beeinträchtigte Körperfunktion gewertet
werden kann, und die, wenn sie einer ärztlichen Behandlung zugänglich ist (BSG,
Urteil vom 28. April 1967 - 3 RK 12/65 -, Urteil vom 13. Februar 1975 - 3 RK 68/73,
jeweils in juris), unter den Krankheitsbegriff fällt. Dahingestellt bleiben kann, ob die
Unfähigkeit an CADASIL erkrankende Kinder zu zeugen, unter den
Krankheitsbegriff fallen würde. Denn eine solche Unmöglichkeit liegt beim Kläger
nicht vor. Dies wird daraus deutlich, dass es gesunde befruchtete Eizellen gibt, die
M.K. eingepflanzt werden können. Wenn dies nicht der Fall wäre, könnte auch die
PID dem Kläger nicht zu gesunden Nachkommen verhelfen. Allein durch das bei
ihm bestehende erhöhte Risiko an CADASIL erkrankende erbkranke Kinder zu
zeugen, wird der Kläger aber nicht in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt und
es handelt sich insoweit auch nicht um eine entstellende anatomische
Abweichung. Die eigentliche Körperfunktion der Zeugung ist beim Kläger nicht
gestört. Er kann auch nicht nur kranke Kinder zeugen. Ein regelwidriger Körper-
oder Geisteszustand scheidet deshalb aus. Eine Krankheit unter diesem Aspekt
liegt nicht vor. Folglich schuldet die Beklagte auch nicht die Behandlung dieser
Beeinträchtigung des Klägers.
38 cc) Die Erstattung der Kosten der PID kann auch nicht auf § 27a SGB V gestützt
werden. Das SGB V regelt in § 27a Abs. 1 und 3 Satz 1 SGB V, dass medizinische
Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft zu den Sachleistungen der
Krankenbehandlung gehören, wenn u.a. diese Maßnahmen nach ärztlicher
Feststellung erforderlich sind und nach ärztlicher Feststellung hinreichende
Aussicht besteht, dass durch die Maßnahmen eine Schwangerschaft herbeigeführt
wird. Die Voraussetzungen hat der GBA in der auf der Grundlage der gesetzlichen
Ermächtigung in § 27a Abs. 4 i.V.m. § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 und i.V.m. § 135
Abs. 1 SGB V erlassenen Richtlinie über künstliche Befruchtung, die nach Erlass
des Urteils des SG mit Blick auf die Zählweise der Behandlungsversuche am 18.
Oktober 2012 erneut geändert wurde, näher definiert. Nach Nr. 11.3 der Richtlinie
gelten als medizinische Indikationen zur Durchführung einer IVF, teilweise unter
Vorliegen weiterer Voraussetzungen, eine Tubenamputation, ein Tubenverschluss,
ein tubarer Funktionsverlust, eine Sterilität und eine Subfertilität des Mannes. Diese
Indikationen für die Durchführung einer IVF-Behandlung erfüllt der Kläger - wie von
ihm selbst vorgetragen - nicht. Die im Vorfeld der künstlichen Befruchtung
durchzuführende PID soll nicht deshalb erfolgen, weil nur auf diesem Weg bei M.K.
eine Schwangerschaft herbeizuführen ist, sondern weil die Möglichkeit der PID die
Chance bietet, durch eine mögliche Selektion erbgesunder Zellen und die
nachfolgende Implantation die Chance des Klägers und der M.K. auf die Geburt
eines gesunden Kindes zu erhöhen. Dies stellt keine Indikation für die
Durchführung einer künstlichen Befruchtung mittels IVF dar. Damit scheidet § 27a
SGB V auch als Anspruchsgrundlage für die vom Kläger im Zusammenhang mit
der künstlichen Befruchtung begehrte Erstattung der Kosten für die PID aus.
39 Abgesehen davon wären die Kosten der PID auch für den Fall des Vorliegens der
Voraussetzungen für eine IVF nicht nach § 27a Abs. 1 SGB V zu erstatten, denn
die PID gehört nicht zu den Maßnahmen, die im Zusammenhang mit einer
künstlichen Befruchtung in Betracht kommen. In der Richtlinie über künstliche
Befruchtung ist unter Nr. 12 der Umfang der Maßnahmen, die im Zusammenhang
mit der künstlichen Befruchtung in Betracht kommen, abschließend aufgezählt.
Hierbei ist die PID nicht erwähnt. Eine Analogie kommt nicht in Betracht. Hiervon ist
auch nicht deshalb abzugehen, weil nach § 3a Abs. 3 ESchG in der Fassung vom
21. November 2011, gültig ab 8. Dezember 2011, nunmehr unter bestimmten
Voraussetzungen die PID nicht mehr strafbar ist. Der Gesetzgeber hat insoweit nur
eine Regelung mit Blick auf die Strafbarkeit getroffen. Bezüglich der Leistungen der
gesetzlichen Krankenversicherung erfolgte im SGB V keine Änderung. Die Frage,
ob die PID vorliegend in Deutschland strafrechtlich bewehrt ist oder nach Maßgabe
des § 3a Abs. 2 ESchG als nicht rechtswidrig durchgeführt werden kann, ist von
der Frage nach dem aus § 27a SGB V resultierenden Anspruch auf Maßnahmen
der Befruchtungsmedizin zu trennen. Nach § 27a SGB V schuldet die beklagte
Krankenkasse nur diejenigen Maßnahmen, die zur Herbeiführung einer
Schwangerschaft erforderlich sind, nicht aber solche, die sich darüber hinaus auf
die Geburt eines gesunden Kindes richten. Eine erweiternde Auslegung des § 27a
SGB V oder des § 27 SGB V im klägerischen Sinne scheidet aus. Die einen
ethisch-rechtlich umstrittenen Sachverhalt betreffende Entscheidung, ob über die
Änderung des ESchG hinaus krankenversicherungsrechtlich ein Anspruch für die
PID unter bestimmten Voraussetzungen auch immer bestehen soll, bedarf einer
eindeutigen gesetzgeberischen Entscheidung. Eine solche Entscheidung wäre
wünschenswert, liegt aber tatsächlich nicht vor. Allein die Tatsache, dass eine
bestimmte Untersuchungsmethode nicht strafbar ist, hat nicht zur Folge, dass in
diesem Fall die Krankenkasse dann auch diese Untersuchungsmethode zu
gewähren hat. Es gibt eine Vielzahl von Untersuchungsmethoden, die nicht
strafbewehrt sind, die aber dennoch nicht zu Lasten der gesetzlichen
Krankenversicherung durchzuführen sind, sondern vom Einzelnen selbst zu tragen
sind.
40 dd) Ein Leistungsanspruch des Klägers ergibt sich auch nicht unter dem
Gesichtspunkt eines Systemmangels. Danach kann eine Leistungspflicht der
Krankenkasse ausnahmsweise dann bestehen, wenn die fehlende Anerkennung
einer neuen Behandlungsmethode darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren
vor dem GBA trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen formalen und
inhaltlichen Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wurde
(„Systemversagen“). Ein derartiger Systemmangel wird angenommen, wenn das
Verfahren vor dem GBA von den antragsberechtigten Stellen oder dem GBA selbst
überhaupt nicht, nicht zeitgerecht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde
(vgl. BSG, Urteil vom 17. Februar 2010 - B 1 KR 10/09 R -, in juris). Voraussetzung
für die Annahme eines Systemmangels ist, dass die neue Untersuchungs- und
Behandlungsmethode der Behandlung einer Krankheit dient. Letzteres ist im
Zusammenhang mit der PID indessen nicht der Fall. Wie bereits ausgeführt (vgl. 1.
b) bb)) stellt die PID keine Maßnahme der Krankenbehandlung dar und das Risiko
erbkranke Kinder zu zeugen, ist keine Krankheit. Ein Systemmangel kommt
deshalb von vornherein nicht in Betracht.
41 c) Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die IVF. Als
Anspruchsgrundlage für die künstliche Befruchtung in Form der IVF kommt allein §
27a SGB V in Betracht. § 27a SGB V ist mit Blick auf die künstliche Befruchtung lex
specialis zu § 27 SGB V. § 27 SGB V deckt im Rahmen der Krankenbehandlung
außerhalb der künstlichen Befruchtung erfolgende Maßnahmen zur Behandlung
einer - beim Kläger nicht vorliegenden - Zeugungsunfähigkeit ab (Adelt/Kraftberger
in LPK-SGB V, 3. Auflage 2009, § 27 Rd. 102f.). Wie ebenfalls bereits ausgeführt
(vgl. 1. b) cc)) liegt beim Kläger keine Indikation für die Durchführung einer
künstlichen Befruchtung vor, da der Kläger nicht zeugungsunfähig ist. Die
künstliche Befruchtung soll nicht wegen einer Fertilitätsstörung des Klägers,
sondern ausschließlich deshalb erfolgen, weil allein die im Zusammenhang mit der
Befruchtung durchzuführende PID die Möglichkeit eröffnet, für die Implantation
erbgesunde Zellen aufzufinden und damit die Chance zur Geburt eines gesunden
Kindes zu erhöhen. Maßnahmen, die sich auf die Geburt eines gesunden Kindes
richten, schuldet die Beklagte nicht.
42 d) Eine Ungleichbehandlung des Klägers, die zu einer Leistungspflicht wegen
Verletzung des Art. 3 GG führen könnte, ist nicht erkennbar. Der Kläger wird
gegenüber anderen Versicherten nicht benachteiligt. PID und nachfolgende IVF
würden den Kläger vielmehr gegenüber anderen Menschen, bei denen auch ein -
wenn auch kleineres - Risiko besteht, ein behindertes Kind zu zeugen,
bevorzugen.
43 Etwas anderes lässt sich auch nicht darauf stützen, dass die Beklagte
gegebenenfalls eine Abtreibung gewähren würde und die Kosten für die
Behandlung eines behinderten und kranken Kindes zu übernehmen hätte.
Abtreibung und Behandlung des Kindes sind im Gegensatz zur PID und IVF für
den Fall, dass das Risiko besteht, ein erbkrankes Kind zu zeugen, im
Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung enthalten. Die Frage, ob
dies hinsichtlich der Abtreibung rechtsethisch vertretbar ist, hat der Gesetzgeber zu
entscheiden.
44 Auch das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. März 2013
(- L 5 KR 177/10 -, in juris) steht dem nicht entgegen. Der dortige Anspruch auf
Versorgung mit einem grundsätzlich nicht mehr zu Lasten der Krankenkasse
verordnungsfähigen Arzneimittels ergab sich unter Berücksichtigung des
Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 (- 1 BvR
347/98 -, in juris) aus einer grundrechtsorientierten Auslegung der
leistungsrechtlichen Vorschriften des SGB V. Die Voraussetzungen waren deshalb
zu bejahen, weil eine lebensbedrohliche Erkrankung vorlag, da das Leben des
ungeborenen Kindes der dortigen Klägerin von einer Fehlgeburt bedroht war, es
keine andere in Betracht kommende Behandlungsmöglichkeit gab und es eine
gewisse Erfolgsaussicht zur Vermeidung einer Fehlgeburt mithilfe der Behandlung
gab. So liegt der Fall des Klägers nicht. Die Voraussetzungen einer
grundrechtsorientierten Auslegung auf der Grundlage dieses Beschlusses des
Bundesverfassungsgerichts, mittlerweile umgesetzt in § 2 Abs. 1a SGB V, sind hier
nicht gegeben. Es besteht zwar eine Erfolgsaussicht, dass mithilfe der PID und IVF
erbkranke Zellen aussortiert werden und es gibt auch keine andere
Behandlungsmöglichkeit, es fehlt aber an einer lebensgefährlichen und regelmäßig
zum Tod führenden Erkrankung des - noch nicht gezeugten - Kindes. Eine solche
ist auch nicht wegen einer möglichen Abtreibung zu bejahen. Eine Abtreibung
würde auf einer Entscheidung des Klägers und M.K. beruhen und wäre
vermeidbar.
45 2. Mit Blick auf die vorangegangenen Ausführungen (1. b)) kann der Kläger auch
für die Zukunft von der Beklagten nicht verlangen, dass ihm weitere
Behandlungsversuche mit PID und IVF als Sachleistung (§ 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V)
gewährt werden.
46 3. Ein Anspruch des Klägers auf Erstattung der Kosten für die in Belgien
durchgeführten bzw. durchzuführenden Maßnahmen ergibt sich auch nicht nach §
13 Abs. 4 Satz 1 SGB V. Nach § 13 Abs. 4 Satz 1 SGB V sind Versicherte
berechtigt, auch Leistungserbringer u.a. in einem anderen EU-Mitgliedsstaat
anstelle der Sach- oder Dienstleistung im Wege der Kostenerstattung in Anspruch
zu nehmen, es sei denn, Behandlungen für diesen Personenkreis im anderen
Staat sind auf der Grundlage eines Pauschbetrages zu erstatten oder unterliegen
auf Grund eines vereinbarten Erstattungsverzichts nicht der Erstattung. Der
Anspruch ist von einem konkreten primären Sach- oder Dienstleistungsanspruch
des Versicherten abhängig (BSG, Urteil vom 30. Juni 2009 - B 1 KR 19/08 R -, in
juris). Dies wird im Wortlaut des Satzes 1 durch die Formulierung „anstelle“
verdeutlicht. Der danach in Betracht kommende Kostenerstattungsanspruch setzt
daher - wie der Erstattungsanspruch bei im Inland in Anspruch genommenen
Leistungen nach § 13 Abs. 3 SGB V - voraus, dass die selbstbeschaffte
Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in
Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben. Maßgeblich für den
Versicherungsschutz ist insoweit der Leistungsumfang der deutschen gesetzlichen
Krankenversicherung. Von diesem Leistungsumfang ist die vom Kläger bereits
durchgeführte und noch durchzuführende PID und IVF - wie ausgeführt - nicht
umfasst, so dass offenbleiben kann, ob die genannten weiteren
Tatbestandsvoraussetzungen des § 13 Abs. 4 SGB V erfüllt sind.
47 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
48 Die Revision wird zugelassen.