Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 20.10.2015

stationäre behandlung, degenerative veränderung, rente, überprüfung

LSG Baden-Württemberg Urteil vom 20.10.2015, L 11 R 2841/15
Zulässigkeit der Zurückverweisung an die Verwaltung nach § 131 Abs 5 SGG -
unzureichende Sachaufklärung durch den Rentenversicherungsträger im
Rahmen eines Antrages auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente
Leitsätze
Zur (zulässigen) Zurückverweisung in die Verwaltung, wenn der
Rentenversicherungsträger zur Entscheidung über einen Antrag auf Gewährung einer
Erwerbsminderungsrente noch die behandelnden Ärzte befragen und mindestens ein,
ggf sogar mehrere ärztliche Sachverständigengutachten einholen muss.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts
Mannheim vom 19.06.2015 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im
Berufungsverfahren.
Tatbestand
1 Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Im
Berufungsverfahren wendet sich die Beklagte gegen die Aufhebung des
angefochtenen Bescheids und die Zurückverweisung zur weiteren
Sachaufklärung.
2 Die 1958 geborene Klägerin war zuletzt 2012 als Montagehelferin
versicherungspflichtig beschäftigt. Seither bezieht sie Arbeitslosengeld II.
3 Am 12.11.2014 beantragte sie die Gewährung einer Rente wegen
Erwerbsminderung. Sie legte Arztbriefe des Chirurgen Dr. H. vom 19.10.2012 und
17.03.2014 sowie des Radiologen Dr. P. vom 25.01.2013 vor, in denen ein
lumbales Bandscheibenleiden beschrieben wird sowie einen Arztbrief des
Neurochirurgen Dr. R. vom 27.06.2014, in dem neben Rückenschmerzen noch
über eine Raynaud-Symptomatik beidseits berichtet wird. Ferner legte sie einen
Entlassungsbericht über die vom 24.08. bis 21.09.2011 durchgeführte stationäre
Behandlung im Zentrum für Psychiatrie N. vor mit der Diagnose rezidivierende
depressive Störung, derzeit schwere Episode ohne psychotische Symptome
(F33.2). In einem vorgelegten Arztbrief des Rheumatologen Dr. W. vom 24.09.2014
wurde Weichteilrheuma, DD somatisierte Depression diagnostiziert mit seit drei
Monaten bestehender Arbeitsunfähigkeit. Dr. S. vom beratungsärztlichen Dienst
der Beklagten wertete ohne Untersuchung der Klägerin diese Unterlagen aus und
kam zu dem Ergebnis, die Klägerin könne noch leichte bis mittelschwere
Tätigkeiten mit qualitativen Einschränkungen verrichten. Mit Bescheid vom
27.11.2014 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab.
4 Mit ihrem Widerspruch vom 09.12.2014 machte die Klägerin geltend, sie habe ein
Bandscheibenleiden, Schmerzen im Bereich der Schulter, der Halswirbelsäule, der
Arme und Hände, Leiste, Beine und Füße sowie Kopfschmerzen und
Ohrgeräusche; ihre Psyche sei nicht in Ordnung, sie sei blaseninkontinent, habe
Magen- und Darmprobleme sowie Durchblutungsstörungen an Händen und
Füßen, sie sei oft müde, niedergeschlagen und leide unter
Konzentrationsstörungen. Nachts könne sie vor Schmerzen nicht schlafen und
müsse täglich Medikamente wegen ihrer Psyche nehmen. Dr. S. verblieb mit
Stellungnahme vom 15.12.2014 bei seiner Auffassung, weitere Aufklärung sei
nicht notwendig. Mit Widerspruchsbescheid vom 28.01.2015 wies die Beklagte den
Widerspruch zurück.
5 Hiergegen richtet sich die am 27.02.2015 zum Sozialgericht Mannheim (SG)
erhobene Klage, mit der die Klägerin die Verurteilung der Beklagten zur
Rentengewährung beantragt. Bereits die Sachaufklärung der Beklagten werde für
unzureichend gehalten. Aufgrund der massiven psychischen Erkrankung mit
massiven somatoformen Auswirkungen sei das Leistungsvermögen der Klägerin
derzeit auf unter drei Stunden reduziert.
6 Das SG hat die Beteiligten mit Schreiben vom 21.05.2015 darauf hingewiesen,
dass es die Zurückverweisung der Sache an die Beklagte nach § 131 Abs 5
Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid beabsichtige. Mit
Gerichtsbescheid vom 19.06.2015 hat es sodann den Bescheid vom 27.11.2014
in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.01.2015 aufgehoben und die
Streitsache zur erneuten Entscheidung an die Beklagte zurückverwiesen. Zur
Begründung hat das SG ausgeführt, die Voraussetzungen für eine
Zurückverweisung an die Verwaltung nach § 131 Abs 5 Satz 1 SGG lägen vor.
Entgegen ihrer Verpflichtung zur Ermittlung des medizinischen Sachverhalts habe
die Beklagte nicht die erforderlichen medizinischen Ermittlungen angestellt. Das
aktuelle berufliche Leistungsvermögen der Klägerin sei nicht geklärt. Weder habe
die Beklagte ihren medizinischen Dienst zur persönlichen Untersuchung und
Begutachtung der Klägerin eingeschaltet, noch seien die vorhandenen
medizinischen Untersuchungsergebnisse umfassend erhoben worden.
Insbesondere sei der Hausarzt nicht befragt worden, sondern die Beklagte habe
sich nur auf die von der Klägerin vorgelegten Befundberichte einzelner Fachärzte
gestützt. Vor allem im Hinblick auf die von Dr. W. fachfremd erhobene
Verdachtsdiagnose einer somatisierten Depression wären weitere Ermittlungen
erforderlich gewesen, denn die Klägerin habe sich zur Begründung ihres
Rentenantrags auf psychische Störungen berufen. Zwar könne das SG im Wege
seiner Amtsermittlungspflicht diese unterbliebenen umfangreichen Ermittlungen
während des Gerichtsverfahrens durchführen, das hätte jedoch zur Folge, dass
eine Behörde unter Verzicht auf ihre eigene Obliegenheit zur Amtsermittlung die
Gerichte dazu missbrauchen könnte, an ihrer Stelle den Sachverhalt aufzuklären.
Die Funktion der Sozialgerichtsbarkeit liege jedoch in der Überprüfung konkreter
Verwaltungsentscheidungen, nicht darin, die Funktion der Verwaltung selbst zu
übernehmen. Mit der Einführung der Vorschrift des § 131 Abs 5 Satz 1 SGG zum
01.04.2008 habe der Gesetzgeber verhindern wollen, dass Verwaltungen
sachwidrig den notwendigen Ermittlungsaufwand auf die Gerichte verlagerten. Die
noch erforderlichen Ermittlungen seien erheblich. Zunächst müsse über eine
Befragung der behandelnden Ärzte geprüft werden, welche Erkrankungen zu
diagnostizieren seien, anschließend werde deren Auswirkung auf das berufliche
Leistungsvermögen voraussichtlich gutachterlich zu prüfen sein. Die
Zurückverweisung berücksichtige auch die Interessen der Beteiligten. Für die
Klägerin entstehe der Nachteil einer zeitlichen Verzögerung, dem stehe jedoch der
Vorteil gegenüber, dass ihr Anspruch in dem vom Gesetz vorgesehenen
mehrstufigen Verfahren gründlich geprüft werde. Zu erheblichen wirtschaftlichen
Nachteilen komme es für die Klägerin nicht, da sie lediglich eine monatliche Rente
von 723,66 EUR zu erwarten habe, die nicht wesentlich über den derzeitigen
Einkünften aus dem Arbeitslosengeld II liegen dürfe.
7 Gegen den ihr am 23.06.2015 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am
06.07.2015 eingelegte Berufung der Beklagten. Der medizinische Dienst der
Beklagten sei nach Auswertung der medizinischen Unterlagen zu dem Ergebnis
gekommen, dass als bedeutsame Gesundheitsstörungen bei der Klägerin ein
Rücken-/Wirbelsäulensyndrom, Bandscheibenverlagerungen (lumbalbetont),
degenerative Veränderung, eine rezidivierende depressive Störung bzw
Anpassungsstörung mit Somatisierung, fibromyalgische Symptomatik,
Belastungsinkontinenz bei Harnblasensenkung und Übergewicht vorlägen. Die
Klägerin habe umfangreiche Unterlagen vorgelegt und im Widerspruchsverfahren
keine Verschlechterung geltend gemacht. Nach Aktenlage befinde sie sich nicht in
nervenärztlicher Behandlung; die stationäre Behandlung sei auf Grund einer
akuten psychischen Dekompensation erfolgt. Die Beklagte habe daher keine
Veranlassung gesehen, ins Blaue hinein zu ermitteln. Es hätten zeitnahe,
verwertbare und einschlägige Entscheidungsgrundlagen vorgelegen. Stelle die
Tatsacheninstanz Mängel in der Sachaufklärung fest, müsse sie diese Mängel
selbst beheben. Die Entscheidung nach § 131 Abs 5 SGG sei grundsätzlich eine
eng auszulegende Ausnahme von dem Grundsatz, dass das Gericht selbst eine
Sachentscheidung über eine zulässige Klage treffen müsse. Eine missbräuchliche
Verlagerung der Ermittlungstätigkeit an das Gericht liege nicht vor. Die monierte
Einholung von Berichten bei behandelnden Ärzten sei auch weder von Art noch
vom Umfang her erheblich, sie gehöre zu den typischen richterlichen Handlungen.
Eine Zurückverweisung sei auch nicht sachdienlich.
8 Die Beklagte beantragt,
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den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 19.06.2015 aufzuheben
und die Sache zur Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
10 Die Klägerin beantragt,
11 die Berufung zurückzuweisen.
12 Nach ihrer Auffassung sei keinesfalls ausreichend, wenn die Beklagte ohne
neurologisch-psychiatrische Begutachtung die zeitliche Leistungsfähigkeit der
Klägerin meine beurteilen zu können. Angesichts der sich aus dem Bericht des Z.
N. vom 08.10.2011 ergebenden Lebensgeschichte der Klägerin sei wegen der
erforderlichen Beurteilung des Längsschnittverlaufs der Erkrankung auch nicht
davon auszugehen, dass ins Blaue hinein zu ermitteln sei. Es liege auf der Hand,
dass psychische Beeinträchtigungen vorlägen.
13 Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt.
14 Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der
Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die
Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
15 Die Berufung der Beklagten, über die der Senat mit dem Einverständnis der
Beteiligten gemäß §§ 153 Abs 1, 124 Abs 2 SGG ohne mündliche Verhandlung
entscheidet, hat keinen Erfolg.
16 Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs 1 SGG) eingelegte Berufung ist statthaft (§
143 SGG) und damit zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Das SG hat zu
Recht den Bescheid vom 27.11.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 28.01.2015 aufgehoben, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Die in §
131 Abs 5 SGG genannten Voraussetzungen liegen vor.
17 Nach § 131 Abs 5 Satz 1 und 4 SGG (idF des Gesetzes vom 21.12.2008, BGBl I S
2933) kann das Sozialgericht binnen sechs Monaten seit Eingang der
Behördenakte bei Gericht den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid
aufheben ohne in der Sache selbst zu entscheiden, wenn es eine weitere
Sachaufklärung für erforderlich hält, nach Art und Umfang die noch erforderlichen
Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der
Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Die Anwendung dieser Vorschrift führt zu
einer vollständigen Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Behörde zum
Zweck erneuter Ermittlungen und neuer Bescheiderteilung. Die Entscheidung nach
§ 131 Abs 5 SGG beinhaltet eine - grundsätzlich eng auszulegende - Ausnahme
von dem Grundsatz, dass das Gericht selbst eine Sachentscheidung über eine
zulässige Klage treffen muss (BSG 17.04.2007, B 5 RJ 30/05 R, BSGE 98, 198 =
SozR 4-1500 § 131 Nr 2; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
27.01.2009, L 4 R 1519/08; LSG Nordrhein-Westfalen 17.03.2010, L 8 R 145/09;
LSG Sachsen-Anhalt 05.05.2011, L 7 SB 42/09; Sächsisches LSG 15.12.2011, L 3
AS 619/10, alle juris). Das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 131
Abs 5 SGG unterliegt der uneingeschränkten Überprüfung durch das
Rechtsmittelgericht (Keller in Meyer/Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl, § 131
RdNr 20; Aussprung in Roos/Wahrendorf, SGG, § 131 RdNr 92).
18 § 131 Abs 5 SGG wurde durch Art 8 Nr 1 des Ersten
Justizmodernisierungsgesetzes vom 24.08.2004 (BGBl. I S. 2198, 2205) mit
Wirkung vom 01.09.2004 dem bisherigen § 131 SGG angefügt und gilt seit dem
Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des
Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.03.2008 (BGBl I S 444) mit Wirkung vom
01.04.2008 nunmehr auch für die kombinierte Anfechtungs- und
Verpflichtungsklage bzw Leistungsklage. Die Vorschrift lehnt sich nach den
Motiven des Gesetzgebers unmittelbar an die bereits vorhandenen, fast
wortgleichen Vorschriften des § 113 Abs 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)
sowie des § 100 Abs 3 Finanzgerichtsordnung (FGO) an und soll dem Gericht zeit-
und kostenintensive Ermittlungen ersparen, die eigentlich der Behörde obliegen.
Nach Beobachtungen der Praxis wird die erforderliche Sachverhaltsaufklärung von
den Verwaltungsbehörden zum Teil unterlassen, was zu einer sachwidrigen
Aufwandsverlagerung auf die Gerichte führt (BR-Drs 15/1508 S 29; BR-Drs 378/03
S 67). Das öffentliche Interesse an einer Entlastung der Gerichte von
umfangreichen Sachverhaltsermittlungen steht jedoch im Widerstreit mit dem
Interesse der Beteiligten an einer abschließenden und verbindlichen gerichtlichen
Beurteilung des Sachverhalts. Nach dem Willen des Gesetzgebers im Rahmen der
Ausgangsregelung soll das Interesse an der Entlastung der Justiz nur in
besonderen Ausnahmefällen überwiegen (vgl Bundesverwaltungsgericht
18.11.2002, 9 C 2/02, BVerwGE 117, 200), denn in der amtlichen
Begründung zu § 113 Abs 3 VwGO wurde ausgeführt: „Bei der Anwendung der
Vorschrift wird weiter zu beachten sein, dass es den Interessen der
Rechtsuchenden, aber auch dem Rechtsfrieden oft mehr dient, wenn das Gericht
eine abschließende Streitentscheidung trifft“ (BT-Drs 11/7030 S 29). Diese
Wertung gilt auch für § 131 Abs 5 SGG (BSG 17.04.2007, aaO).
19 Die formellen Voraussetzungen für eine Zurückverweisung hat das SG
eingehalten, denn die Verwaltungsakten sind am 07.04.2015 beim SG
eingegangen und der Gerichtsbescheid wurde den Beteiligten bereits am
26.05.2015 zugestellt, also keine zwei Monate später.
20 Der Senat teilt auch die Auffassung des SG, dass noch weitere Ermittlungen
erforderlich sind. Die von der Klägerin vorgelegten fachärztlichen Berichte
umfassen weder vollständig die von ihr dargelegten Gesundheitsstörungen, noch
lässt sich allein auf der Grundlage der vorhandenen Unterlagen das berufliche
Leistungsvermögen der Klägerin bestimmen. Die Beklagte hat sich darauf
beschränkt, allein die von der Klägerin vorgelegten Unterlagen durch den
beratungsärztlichen Dienst auswerten zu lassen. Dies reicht vorliegend nicht aus,
um das berufliche Leistungsvermögen der Klägerin bestimmen zu können. Allein
aus Diagnosen lassen sich Funktionsbeeinträchtigungen nicht ableiten.
Angesichts der ausführlichen Darlegung der Klägerin im Widerspruchsverfahren
und insbesondere angesichts der aus den Akten bekannten Vorgeschichte mit
zwei Suizidversuchen und einer schon aus dem Befundbericht des
Rheumatologen ersichtlich auch aktuell fortbestehenden psychischen Problematik
kann sich die Beklagte auch nicht darauf zurückziehen, bei (bis zum Abschluss
des Widerspruchsverfahrens) fehlender nervenärztlicher Behandlung bestehe
offensichtlich kein Leidensdruck und daher auch keine tiefergehende
Beeinträchtigung. Eine möglicherweise durch den von der Klägerin benannten
Hausarzt durchgeführte Behandlung wurde ebenso wenig ermittelt wie die aktuelle
Ausprägung der bekannten rezidivierenden depressiven Störung.
21 Die noch vorzunehmenden Ermittlungen stellen sich auch als erheblich iSv § 131
Abs 5 SGG dar. Eine Erheblichkeit der Ermittlungen kann sich aus der Art,
Zeitdauer, dem Umgang und den personellen Möglichkeiten des Gerichts ergeben.
Die Ermittlungen sind insbesondere dann erheblich, wenn die Behörde nach ihrer
sachlichen und personellen Ausstattung eine Sachverhaltsermittlung besser bzw
schneller durchführen kann als das Gericht und es auch unter übergeordneten
Gesichtspunkten vernünftiger und sachgerechter ist, die Behörde tätig werden zu
lassen (BVerwG 18.11.2002, aaO; BT-Drs 11/7030 S 30; BSG 17.04.2007, aaO).
Dass der Gesetzgeber mit der Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 131
SGG auch auf Verpflichtungs- und Leistungsklagen die bekannte enge Auslegung
der Vorschrift in der höchstrichterlichen Rechtsprechung ändern wollte, lässt sich
der Gesetzesbegründung zwar an keiner Stelle entnehmen. Der Senat teilt jedoch
nicht die Auffassung, dass damit in Kauf genommen wurde, dass sich ein
praktischer Anwendungsbereich der Vorschrift kaum eröffnet (so LSG Nordrhein-
Westfalen 17.03.2010, aaO unter Hinweis auf die Ausführungen in BSG
17.04.2007, aaO RdNr 20). Angesichts des ausdrücklichen Zwecks der
Neuregelung zum 01.04.2008, die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten
(BT-Drs 16/7716 S 1), ist es nicht geboten, die Vorschrift derart restriktiv
auszulegen, dass ihr kein sinnvoller Anwendungsbereich mehr verbleibt (vgl
Hauck in Hennig, SGG, Stand Juni 2015, § 131 RdNr 187; SG Karlsruhe
09.05.2014, S 15 U 4024/13). Im vorliegenden Fall sind noch behandelnde Ärzte
zu befragen und mindestens ein, ggf sogar mehrere ärztliche
Sachverständigengutachten einzuholen. Die Beklagte hat die an eine
Sachaufklärung zu stellenden Mindestanforderungen unterschritten. Die noch
erforderlichen Ermittlungstätigkeiten sind nach alledem erheblich iSv § 131 Abs 5
SGG.
22 Die Aufhebung des angefochtenen Bescheids ohne Entscheidung in der Sache
selbst ist auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich.
Einen Vorteil hat die Ermittlung durch die Verwaltung schon dann, wenn Gutachten
auf mehreren medizinischen Fachgebieten erforderlich sind und dies konzentriert
durch Begutachtung an einem Termin durch Beratungsärzte des
Rentenversicherungsträgers erfolgen kann (zu diesem Aspekt LSG Berlin-
Brandenburg 25.04.2013, L 13 SB 73/12, juris). Insoweit ergibt sich eine erhebliche
Beschleunigung gegenüber der Einholung mehrerer gerichtlicher
Sachverständigengutachten (mit üblicher mehrmonatiger Dauer) nacheinander.
Zudem unterhält die Beklagte einen beratungsärztlichen Dienst, dem auch
mehrere Fachärzte verschiedener Fachrichtungen, ua Neurologie und Psychiatrie
angehören, so dass auch insoweit eine Beschleunigung der Ermittlungen möglich
ist. Darüber hinaus hat die Klägerin mit ihrer Berufungserwiderung deutlich
gemacht, dass sie selbst ein Interesse daran hat, keine „Stufe der Ermittlungen“ zu
verlieren und daher die Zurückverweisung an die Beklagte wünscht. Angesichts
der vorhandenen wirtschaftlichen Absicherung der Klägerin durch den Bezug von
Leistungen nach dem SGB II und der lediglich zu erwartenden Rente in Höhe von
723,66 EUR hängen Fragen der Existenzsicherung nicht von diesem Rechtsstreit
ab. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass bei Durchführung der Ermittlungen
durch das Gericht selbst die hierfür anfallenden Kosten nach § 192 Abs 4 SGG der
Beklagten aufzuerlegen wären. Die hierbei anfallenden Kosten könnten die
Aufwendungen der Beklagten für eigene Ermittlungen schon angesichts der
erforderlichen Beauftragung externer Gutachter erheblich übersteigen.
23 Im Rahmen der gemäß § 131 Abs 5 SGG zu treffenden Ermessensentscheidung
(vgl Hauck in Hennig, aaO, § 131 RdNr 191; aA Keller in Meyer/Ladewig ua, aaO,
§ 131 RdNr 18b: „Kompetenz-Kann“) ist das öffentliche Interesse an einer
Entlastung der Gerichte von umfangreichen Sachverhaltsermittlungen mit dem
Interesse der Beteiligten an einer abschließenden gerichtlichen Entscheidung des
Rechtsstreits abzuwägen. Das ihm bei der Überprüfung der sozialgerichtlichen
Entscheidung eingeräumte eigene Ermessen (vgl LSG Berlin-Brandenburg,
25.04.2013, L 13 SB 73/12, juris RdNr 32 mwN) übt der Senat in dem Sinne aus,
dass er die Zurückverweisung an die Verwaltung für geboten hält. Hierbei hat der
Senat nicht nur berücksichtigt, dass die noch erforderlichen erheblichen
Ermittlungen besser, insbesondere schneller durch die Beklagte durchgeführt
werden können, sondern auch den Wunsch der Klägerin nach einem erneuten
Tätigwerden der Beklagten.
24 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
25 Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG) liegen nicht
vor.