Urteil des LG Aachen vom 21.10.2008

LG Aachen: eltern, körperverletzung, wohnung, tod, stress, daten, angriff, polizei, kauf, untersuchungshaft

Landgericht Aachen, 91 KLs 401 Js 170/08 29/08
Datum:
21.10.2008
Gericht:
Landgericht Aachen
Spruchkörper:
1. große Jugendkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
91 KLs 401 Js 170/08 29/08
Normen:
StGB §§ 212, 223 Abs. 1, 230, 52 JGG 1, 105 ff.
Tenor:
Der Angeklagte wird wegen Totschlags in Tateinheit mit
Körperverletzung zu einer
Jugendstrafe von 6 Jahren
verurteilt.
Er hat die Kosten des Verfahrens, die notwendigen Auslagen der
Nebenkläger und seine eigenen Auslagen zutragen.
- §§ 212, 223 Abs.1, 230, 52 StGB, 1, 105 ff JGG -
Gründe
1
I.
2
Der zum Tatzeitpunkt 18 Jahre alte, staatenlose Angeklagte wurde in T geboren und
wuchs zusammen mit sechs weiteren Geschwistern bei seinen Eltern J und I B in
seinem Geburtsort auf. Die Eltern waren vor 22 oder 23 Jahren wegen des K nach E
geflohen. Ein älterer Bruder führt ein F, eine Schwester ist verheiratet, beide haben
einen eigenen Haushalt. Die anderen vier Geschwister leben wie der Angeklagte noch
bei den Eltern. Mit seinen Eltern spricht er arabisch, mit seinen Geschwistern deutsch.
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Sein heute 45 Jahre alter Vater war im Sicherheitsdienst tätig, ist jetzt jedoch
erwerbslos. Seine jetzt 44 Jahre alte Mutter, zu der der Angeklagte eine enge und
vertrauensvolle Beziehung hat, versorgt als Hausfrau die Familie.
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Der Angeklagte, der bis zu seiner Inhaftierung in dieser Sache nach wie vor bei seinen
Eltern wohnte, besuchte nach dem Kindergarten ab 1996 vier Jahre die Grundschule in
T-B1, wechselte von dort zunächst auf das S-Gymnasium, dann, da es ihm dort zu
"stressig" war, auf die Realschule und erlangte XXXX die Mittlere
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Reife/Fachoberschulreife.
Bis zu seiner Verhaftung (####) besuchte er dann seit August XXXX die Höhere
Handelsschule in T (Berufsfachschule für Wirtschaft und Verwaltung) mit dem Ziel, das
Abitur abzulegen. Wie sich aus deren in der Hauptverhandlung verlesenen Schreiben
vom 30. April 2008 ergibt, war sein Schulverhalten von Fehlzeiten und häufigen
Verspätungen gekennzeichnet. Aus diesem Grunde wurde er am 10. Januar 2007
zunächst in eine Parallelklasse und sodann nach T1 in die Außenstelle des
Berufskollegs versetzt. Aufgrund der hohen Fehlzeiten – und nicht etwa wegen
mangelnden Leistungsvermögens – wurde er jedoch nicht für die Oberstufe zugelassen.
Als sich auch die Fehlzeiten fortsetzten, wurde der Angeklagte Ende Februar 2008
wieder an den Schulort T zurückversetzt. Aufgrund einer besonderen Vereinbarung mit
dem Schulleiter (regelmäßige Meldepflicht) verringerten sich seine Fehlzeiten.
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Aktuell stellt sich der Angeklagte vor, eine Ausbildung zum Glaser oder Bürokaufmann
zu absolvieren, ist aber diesbezüglich noch "ziemlich" offen.
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In seiner Freizeit spielt er Fußball, macht Musik – er hat sein Zimmer als Studio
eingerichtet – und trifft sich mit Freunden. Er erhält Taschengeld und erzielte einen
kleinen Nebenverdienst in einem Eiscafe. Der Angeklagte verfügt über eine
Fahrerlaubnis.
8
Politisch ist der Angeklagte weder engagiert noch interessiert.
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Der Angeklagte hat eine feste Freundin, T2, die Beziehung ist aber "jetzt stressig,
wegen der Sache hier".
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"Speed und Marihuana" hat er mal probiert, konsumiert aber nicht. Alkohol nimmt er
gelegentlich zu sich.
11
Nennenswerte Unfälle hat der Angeklagte nicht erlitten. Wegen einer Virusinfektion war
er 2007 für einige Zeit stationär im Krankenhaus, ohne bleibende Folgen.
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Jetzt in der Untersuchungshaft arbeitet der Angeklagte als Hausarbeiter, also in einer
Vertrauensposition, wofür er monatlich etwa 50 € erhält.
13
Die Eltern des Angeklagten sind wegen des Tatgeschehens, das außerordentlich
großes öffentliches Aufsehen in allen Publikationen erregt hat und von
rechtsextremgerichteten Gruppen massiv zu Propagandazwecken und Demonstrationen
missbraucht worden ist, inzwischen in eine andere Stadt verzogen.
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Die vorstehend zur Person getroffenen Feststellungen beruhen auf den Angaben des
Angeklagten, den Ausführungen der Jugendgerichtshilfe und auf den von der
Sachverständigen K1 erhobenen biographischen Daten.
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Der Angeklagte ist bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten. Sein in der
Hauptverhandlung verlesener und von ihm als richtig bestätigter
Bundeszentralregisterauszug vom 7. April 2008 nebst seinen Erläuterungen weist vier
Eintragungen auf:
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Mit Verfügung vom 21. September 2006 sah die Staatsanwaltschaft B2 zum
17
Aktenzeichen 204 Js 1197/06 von der weiteren Verfolgung der Tat einer
gefährlichen Körperverletzung nach 45 Abs. 1 JGG ab.
Dem Angeklagten war vorgeworfen worden, an einer Schlägerei in einem
Omnibus am 28. Juni 2006 beteiligt gewesen zu sein. Nach Angaben des
Angeklagten sei er mit dem Zeugen B3 unterwegs gewesen, als jemand dessen
Freundin "angemacht" habe.
18
Durch Beschluss vom 19. März 2007 stellte das Amtsgericht F1 zum
Aktenzeichen 204 Js 1140/06 der Staatsanwaltschaft B2 ein Verfahren gegen den
Angeklagten wegen des Vorwurfes des Diebstahls nach § 47 JGG ein.
19
Am 15 Juli 2006 sah die Staatsanwaltschaft B2 im Verfahren 204 Js 540/07 in
einem Verfahren gegen den Angeklagten wegen des Vorwurfes der
Sachbeschädigung von der weiteren Verfolgung nach § 45 Abs. 2 JGG ab.
20
Am 26. Juni 2007 sah die Staatsanwaltschaft B2 (204 Js 1686/06) wegen des
Vorwurfes der gefährlichen Körperverletzung von der weiteren Verfolgung nach §
45 Abs. 1 JGG ab.
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Dem Angeschuldigten war vorgeworfen worden, am 14. September 2006 in der
Euregio-Bahn am Bahnhof T-Hauptbahnhof Pfefferspray versprüht zu haben.
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Der Angeklagte wurde in vorliegender Sache am 5. April 2008 vorläufig festgenommen
und befindet aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Aachen vom 6. April 2008 (521
Gs 16/08) seitdem in Untersuchungshaft in der JVA L.
23
II.
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Zur Tat, zu dem, was ihr vorausging und was sich danach ereignete hat die Kammer die
folgenden Feststellungen getroffen:
25
Zum Geschehen vor der Tat:
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Im Internet existiert unter dem Namen "Schüler.cc" eine Kommunikationsplattform, die
es ihren Nutzern ermöglicht, unter Einstellung ihrer persönlichen Daten miteinander zu
kommunizieren.
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Neben dem Angeklagten hatten dessen Bruder, der Zeuge L1 B, sowie das spätere
Opfer, der am 7. Dezember 1988 geborene, zur Tatzeit also 18 Jahre alte Q, ihre Daten
in diesem Forum eingestellt.
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Im Februar 2008 nahm der Q Kontakt zu der Zeugin F2 auf, die der Zeuge L1 Bals seine
Freundin betrachtete. L1 B war deshalb mit der Kontaktaufnahme nicht einverstanden
und sprach hierauf den Q auf virtuellem Wege an. In der Folgezeit entwickelte sich
daraus zwischen dem Q und dem L1 B eine rein virtuelle, auch durch den Austausch
von Auch heftigen Beleidigungen geführte Auseinandersetzung. An dieser
Auseinandersetzung nahmen alsbald auf beiden Seiten eine Vielzahl von Freunden
und Bekannten teil. Die Auseinandersetzung bekam mit Ausweitung des
Teilnehmerkreises immer mehr den Charakter eines Streites zwischen Jugendlichen
aus T auf der einen und Jugendlichen aus F1 auf der anderen Seite. Auch der
29
Angeklagte nahm an der Auseinandersetzung auf Seiten seines Bruders teil.
Im März 2008, etwa drei bis vier Wochen vor der nachfolgend geschilderten Tat, trafen
sich der Q und der L1 B und legten unter Vermittlung der Zeugin I1 ihren Streit bei. Der
Angeklagte wusste hiervon zum Tatzeitpunkt nicht.
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Hinsichtlich des Q verzeichnet der in der Hauptverhandlung verlesene Auszug
aus dem Bundeszentralregister vom 13. Oktober 2008, dass am 8. März 2006 ein
Verfahren wegen des Vorwurfs einer gefährlichen Körperverletzung gemäß § 45
Abs.2 JGG eingestellt worden ist; eine weitere Eintragung findet sich nicht.
31
Zu den Vorgängen unmittelbar vor der Tat
32
Am Abend des 4. April 2008 trafen sich zwischen 18:00 und 20:00 Uhr in der Wohnung
des Zeugen T2 in T der Q, die Zeugen A, N, T3 und L2 sowie die T4, um zusammen
Musik zu hören und Alkohol zu trinken. Der Zeuge T2 verließ im Laufe der Feier
zusammen mit seiner Freundin T4 die Wohnung und begab sich nach I2-K2. Die
übrigen Personen verblieben zunächst in der Wohnung.
33
Gegen 22:00 Uhr erhielt der Zeuge T3 einen Anruf des Zeugen T5 . Dieser hatte ab
19:30 Uhr an einer Versammlung der NPD in der Gaststätte "L3" in T teilgenommen und
wollte zu der Gruppe um den Q stoßen.
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Kurze Zeit nach seinem ersten Anruf nahm der T5 erneut fernmündlich Kontakt zu dem
T3 auf und gab an, dass er mit irgendwelchen Leute Stress hätte. Soro erklärte: "Wir
kommen runter". Daraufhin verließ die Gruppe um den Q die Wohnung des 2T, um dem
T5 entgegen zu gehen. Als sie ihn trafen, erklärte er, er wäre geschubst und angepöbelt
worde. Zwischenzeitlich hatte der L2 die Gruppe verlassen.
35
In der T6-straße passierten der Q und die weiteren Mitglieder seiner Gruppe den
Schnellimbiß "W" und nahmen die dort sich vor dem Imbiß aufhaltenden jugendlichen
Zeugen T7, M und N1 wahr. Zu einer Kontaktaufnahme zwischen beiden Gruppen kam
es zu dieser Zeit nicht.
36
Auch umgekehrt waren den Zeugen T7, N1 und dem M die Gruppe um den Q
aufgefallen. Insbesondere deshalb, weil dem T7 bekannt war, daß der L1 B mit dem Q
den vorbeschriebenen Streit im Forum "Schüler.cc" gehabt hatte.
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Der T7 war zudem der Auffassung, in der Gruppe um den Q einen "N2" erkannt zu
haben. Da man diesen nicht leiden konnte, wurde der T8, der ebenfalls eine Streitigkeit
mit dem N2 hatte, angerufen und gebeten zu kommen. Kurze Zeit später stieß dann der
T8 tatsächlich dazu und man folgte der Gruppe Q in Richtung C-straße. T8 wird vom
Angeklagten als "guter Freund" bezeichnet. Man beschloss, auch den Angeklagten per
Handy hinzuzurufen, da man annahm, dass dieser seinerseits auf den Q wegen dessen
Streites mit dessen Bruder L1 Bnicht gut zu sprechen war.
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Der Angeklagte befand sich zu dem Zeitpunkt, als ihn der Anruf des Z8 erreichte, in
Gesellschaft der Zeugen A1, B4, A2 und B5 im Café "X" in T in der T6-straße und sah
diesen beim Kartenspiel zu, spielte zeitweise auch mit. Er trank bei dieser Gelegenheit
eine Flasche Bier. Auf das Begehren des T8 , zu ihnen zu kommen und an der
Begegnung mit dem Q teilzunehmen ("Hier sind ein paar aus F1, die machen Stress,
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auch Q, der hat mal mit Deinem Bruder Stress gehabt"), ging er sofort ein.
Die dem Angeklagten im Ermittlungsverfahren noch zur Last gelegte Äußerung
gegenüber den Zeugen B5: "Ich muss mich mit einem aus F1 schlagen" vermochte die
Kammer nicht festzustellen.
40
Der Angeklagte verließ das Café "X" und begab sich binnen weniger Minuten zu der
Gruppe umZ8 , die er auf der N3 traf. Dabei führte er zu Verteidigungszwecken ("zur
Sicherheit") – wie immer, wenn er unterwegs war, außer in der Schule – ein
Taschenmesser mit aufklappbarer Klinge mit einer Klingenlänge von ca. 10 Zentimetern
und einer Klingenbreite von ca. 2 Zentimetern bei sich.
41
Zum Tatgeschehen
42
Gegen 22:45 Uhr trafen der Angeklagte zusammen mit der Gruppe um den Zeugen T8
in der Nähe der C-Straße in T-N4 auf die Gruppe umQ. Aus der Gruppe um T8 wurde
die andere Gruppe sinngemäß angerufen, "Hey, bleibt stehen".
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Es kam dann zunächst zu einem kurzen Wortwechsel, ob sich bei der Gruppe um Q der
N2 befinde. Der Angeklagte sprach dann den Q an, der zu diesem Zeitpunkt unter dem
Einfluss einer Blutalkoholkonzentration von 0,41 o/oo stand. Der Angeklagte wollte
wissen, ob er Q sei, weil der Streit mit seinem, des Angeklagten Bruder habe.
44
Als sich aus der Gruppe um den Q die Zeugin N zwischen die beiden stellte, um zu
schlichten ("Lasst den Kinderscheiss" oder/und "Geh’ doch einfach"), nahm dies der
Angeklagte zum Anlass, der Zeugin, die ihn zuvor nicht beleidigt hat, mit solcher Wucht
mit der flachen Hand in das Gesicht zu schlagen, dass diese strauchelte und zu Boden
stürzte. Sie erlitt durch den Schlag Schmerzen im Gesicht. Der Zeuge A half ihr hoch.
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Währenddessen kam es zu einer vom Angeklagten durchaus erwarteten Prügelei, an
der der Zeuge T8 , der Angeklagte und ein Dritter aus dieser Gruppe auf der einen
sowie der Q und der Zeuge T5 auf der anderen Seite beteiligt waren.
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Zumindest der Q zog nun einen Teleskopschlagstock mit einer Gesamtlänge von ca. 60
cm heraus. Dass noch ein weiterer Totschläger benutzt wurde, vermochte die Kammer
allerdings nicht festzustellen.
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Q schlug mit dem Totschläger nach dem Angeklagten und traf ihn auch am Hals,
wodurch dieser dort eine leichte Streifwunde erlitt.
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Hierauf kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Q undT8 , in die sogleich der
Zeuge T5 eingriff. T8 stürzte zu Boden, lag dort bäuchlings und wurde dort von T5
attackiert.
49
Der Angeklagte hatte sich zu diesem Zeitpunkt fluchtartig wenige Meter entfernt. Q stand
in unmittelbarer Nähe zu T5 und T8.
50
Da der Angeklagte, der sich umgedreht hatte und sah, dass T8 am Boden lag, annahm,
Q wolle T8 ebenfalls massiv angreifen – was die Kammer zu Gunsten des Angeklagten
im Zweifel auch annimmt – , zog der Angeklagte aufgrund eines spontanen
Entschlusses sein Klappmesser aus der rechten Jackentasche, öffnete es mit beiden
51
Händen und lief auf die Gruppe zu, um T8 zu helfen, um ihn, so der Angeklagte,
"rauszuholen".
Der Angeklagte entschloss sich spätestens jetzt, das Messer gegen Q auch
einzusetzen.
52
Gegenüber dem Zeugen K3 schilderte der Angeklagte später seinen Entschluss: "ich
wollte ihn stechen".
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Ohne Vorwarnung, etwa durch einen Zuruf oder eine optische Drohung, stach der
Angeklagte sofort viermal gezielt und mit großer Wucht auf den Oberkörper des Q ein.
Dabei führte der Angeklagte die Stiche, wie er in der Hauptverhandlung demonstriert
hat, gerade nach vorn, den Daumen oben auf dem Messer. Sämtliche Stiche wurden
vom Angeklagten in die Nähe des Herzens in den linken Brustkorb des Q gesetzt. Nach
dem ersten oder zweiten Stich klappte das Messer von selbst ein und wurde von dem
Angeklagten erneut aufgeklappt. Den Tod seines Kontrahenten nahm er bei diesem
Vorgehen nach alledem billigend in Kauf.
54
Zwei der Stiche prallten an den Rippenbögen ab. Einer drang in die Leber ein. Ein
anderer traf das Herz, öffnete den Herzbeutel und durchtrennte die linke
Herzkammerwand. Die Stiche in Herz und Leber führten zu massiven Einblutungen in
die Brusthöhle.
55
Q brach schreiend ("Helft mir, ich blute") zusammen, der Zeuge T5 bemühte sich, mit
dessen T-Shirt die Blutungen zu stillen.
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Obwohl die Auseinandersetzung nach den Stichen von allen Beteiligten sofort beendet
und ein Krankenwagen herbeigerufen wurde, verstarb der Q kurze Zeit später trotz sofort
eingeleiteter Notmaßnahmen im Krankenhaus T ausschließlich wegen der erlittenen
Verletzungen an einem Blutvolumenmangelschock.
57
Zur Tatzeit war die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrechte seines Tuns einzusehen
und nach dieser Einsicht zu handeln, nicht erheblich eingeschränkt.
58
Zum Nachtatgeschehen
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Als der Angeklagte bemerkte, dass der Q blutete, forderte er die Mitglieder seiner
Gruppe durch Zuruf ("Weg hier" o.ä.) auf, wegzulaufen.
60
Ob der Angeklagte die Tatwaffe auf der Flucht in einen Flusslauf geworfen hat – wie er
angibt – oder sie noch bei sich führte, konnte die Kammer nicht feststellen.
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Gemeinsam lief man zurück in das Cafe "X" und traf auf die weiterhin Karten spielenden
Zeugen A1, B4, A2 und B5. Dort erklärte der Angeklagten, sie hätten sich "geprügelt", er
habe "helfen" wollen und "zugestochen" oder "reingestochen" oder "einen Jungen aus
F1 abgestochen". Der Angeklagte rief mit dem Handy seinen Bruder an, der konnte ihn
aber nicht wunschgemäß abholen. Daraufhin begab sich der Angeklagte mit Hilfe eines
Freundes nach Hause in die Wohnung seiner Eltern, es war jetzt etwa 23:00 Uhr. Um
diese Zeit etwa telefonierte er dann mit seinem Bruder, dem Zeugen L1 B, und teilte ihm
mit, es habe eine Schlägerei gegeben.
62
In der Wohnung einer Eltern wurde er in den Morgenstunden des 5. April 2008
festgenommen. Hier erfuhr der Angeklagte von der Polizei, dass Q tot ist. Auf diese
Mitteilung reagierte der Angeklagte erschrocken, geriet in Luftnot. Er äußerte spontan, er
habe die Tatwaffe in einen Bach geworfen. Gegenüber dem Zeugen I3 gab der
Angeklagte an, "was soll man denn machen, wenn die mit Schlagstöcken kommen".
63
III.
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Die unter II. zur Sache getroffenen Feststellungen beruhen auf den Angaben des
Angeklagten, soweit die Kammer ihnen Glauben schenken konnte, sowie auf den
ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls erhobenen Beweisen.
65
Der Angeklagte hat sich zur Sache im Wesentlichen wie unter II. festgestellt
eingelassen. Abweichend hat er lediglich das Folgende angegeben:
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Die Zeugin N habe ihn vor der Ohrfeige beleidigt, er habe aber vergessen, womit, und
ihn geschubst. Später in der Hauptverhandlung fiel ihm ein, das Mädchen habe ihn
"Hurensohn" genannt.
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Das ist jedoch widerlegt durch die Angaben dieser Zeugin, die ausgesagt hat,
beschwichtigend eingegriffen und den Angeklagten nicht berührt zu haben. Auch nach
dem persönlichen Eindruck von der Zeugin hält die Kammer das für glaubhaft. Nicht nur,
dass die Zeugin dem Angeklagten körperlich ersichtlich unterlegen ist, sie hat auch
plausibel und mit nachvollziehbaren Gefühlsregungen geschildert, dass sie ohnehin
unter den gegebenen Umständen große Angst und "Respekt" hatte, die Sache könne es
eskalieren, da hätte sie niemals Öl ins Feuer geschüttet. Den gegenteiligen Angaben
der Zeugen T8 und N1, die Zeugin N1 habe gesagt: "Ihr Kanaken, Scheißausländer,
verpißt Euch, geht doch zurück in Euer Land" bzw. "Hurensohn, fick Dich" kann die
Kammer angesichts der Situation, mit der sich die Zeugin N konfrontiert sah, aber auch
im Hinblick auf den persönlichen Eindruck von den Zeugen nicht folgen. Ihre Angaben
stimmen im Übrigen mit den Angaben des Angeklagten nicht überein.
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Der Angeklagte hat angegeben, er habe nur zwei Mal auf Q eingestochen.
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Die gerichtsmedizinische Untersuchung des Opfers, wie sie von dem Sachverständigen
D der Kammer widerspruchfrei vermittelt wurden, die Feststellungen der Polizei am
Tatort und die von der Kammer in Augenschein genommenen Lichtbilder des Opfers im
Krankenhaus und bei der Obduktion belegen hingegen ohne Zweifel, dass Q in der
bezeichneten Körpergegend von insgesamt vier Stichen getroffen wurde. Ein anderes
Tatwerkzeug, das solche Stiche hätte verursachen können, ist von niemandem
geschildert worden, so dass für alle vier Stiche nur der Angeklagte als Verursacher in
Betracht kommt.
70
Im Übrigen ergibt sich der festgestellte Sachverhalt – in Übereinstimmung bzw. ohne
Widerspruch zu der Einlassung des Angeklagten – aus den Aussagen der Zeugen P
(erste Polizeibeamtin am Tatort; hat u.a. die Stichverletzungen bei Q gesehen), I3
(Festnahme des Angeklagten und erste Anhörung, stellte keine Ausfallerscheinungen
fest), K3 (vergebliche Suche nach der Tatwaffe, Vernehmung des Angeklagten), P1 (zu
Verletzungen des T8), L1 B (u.a. Vorgeschichte mit dem Streit mit Q ), F2 (auch zur
Vorgeschichte), I1 (zum Streit und dessen Beilegung zwischen L1 B und Q), N5 (zur
Vorgeschichte), N, T3, T5, T8, T7, M, N1 und A (jeweils zum Geschehen am Tattag), T2
71
und L2 (zum Geschehen vor der eigentlichen Tat), B6 (hörte von T8 von dem
Geschehen) sowie M1 und T9 (zu den Angaben ihrer Söhne nach der Tat), soweit die
Kammer deren Angaben Glauben schenken konnte.
Die Aussagen der Zeugen A1, B4, A2 und B5 zu den Geschehnissen im Café "X" über
den von der Kammer bereits festgestellten Sachverhalt hinaus waren derart weitgehend
von dem Bestreben geprägt, als unwissend zu erscheinen, sich nicht erinnern zu
können (z.B. B5: "Ich habe Gedächtnisschwund.") und die Beteiligten zu schonen, dass
die Kammer ihren Angaben keinerlei Beweiswert beimißt.
72
Lichtbilder vom Tatort und den von der Polizei in der Nähe des Tatortes sichergestellte
Schlagstock hat die Kammer in Augenschein genommen.
73
Die Feststellungen zu den Verletzungen des Q und iher Ursächlichkeit für dessen Tod
entnimmt die Kammer den Ausführunen des sachverständigen Rechtsmediziners D von
der Universität zu L.
74
Zur Schuldfähigkeit des Angeklagten hat die psychiatrische Sachverständige K1, der
Kammer aus einer Vielzahl von Verfahren als kompetent, umsichtig und erfahren
bekannt, im Wesentlichen ausgeführt, dass die kognitiven und voluntativen Leistungen
des Angeklagten auch nicht ansatzweise eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung im
Sinne einer Alkoholintoxikation oder infolge eines affektiven Erregungszustandes
erkennen lassen. Eine handlungsanalytische Betrachtung des Gesamtgeschehens
lasse erkennen, dass der Angeklagte in einem zeitlich und räumlich ausgedehnten
Geschehensablauf mit dynamischen Vorgängen unter zwei Gruppen mit jeweils
mehreren Personen situationsgerecht und innerhalb eines "intentionalen Bogens ohne
Brüche" geordnet und interessengerecht analysiert und gehandelt habe.
75
Die anderen Eingangsmerkmale der §§ 20, 21 StGB lägen ohnehin nicht vor.
76
Die Kammer sieht keine dem entgegenstehenden Anhaltspunkte und schließt sich dem
nach eigener Überzeugungsbildung an.
77
IV.
78
Nach den getroffenen Feststellungen hat sich der Angeklagte eines Totschlags (an Q) in
Tateinheit mit Körperverletzung (zum Nachteil der Zeugin N) schuldig gemacht.
79
Der Angeklagte hat mit einem Messer mit einer Klingenlänge von ca. 10 cm und einer
Klingenbreite von ca. 2 cm vier Stiche in eine Körperregion des Q geführt, bei der er
annehmen musste, damit lebensnotwendige Organe zu verletzen. Wer mit einem
solchen gefährlichen Werkzeug in den zentralen Oberkörperbereich eines Menschen
sticht, weiß also, dass der Andere daran sterben kann. Wenn der Täter gleichwohl diese
Hemmschwelle überwindet, so muss davon ausgegangen werden, dass er diese Folge,
den Tod des Anderen, zumindest billigend in Kauf nimmt; die Annahme einer bloß
bewussten Fahrlässigkeit nach Wertung der Kammer scheidet aus.
80
Die spätere Reaktion des Angeklagten, als er vom Tod des Q erfuhr, führt zu keiner
anderen Betrachtungsweise. Nachvollziehbar war er betroffen und auch körperlich
mitgenommen, als er von der Endgültigkeit seines Tuns bei seiner Festnahme erfuhr.
81
Der Totschlag war nicht durch Notwehr, § 32 Abs. 2 StGB, gerechtfertigt.
82
Zwar nimmt die Kammer zu Gunsten des Angeklagten an, dass er unmittelbar vor den
Stichen von einem gegenwärtigen Angriff des Q auf den T8 ausgehen durfte. Das zur
Abwehr dieses Angriffs erforderliche Maß an Gegengewalt hat er jedoch – auch und
insbesondere für ihn erkennbar – deutlich überschritten (zum Problemkreis vgl. Fischer,
StGB, 55.A., § 32 Rn. 30). Es war auch für ihn erkennbar nicht erforderlich, einen oder
gar mehrere Stiche in die Brust-/ Herzregion des Q zu führen, vielmehr hätten ihm
naheliegende mildere Mittel zur Verfügung gestanden, den von ihm angenommenen
Angriff abzuwehren. Beispielsweise hätte ein Anrufen des Q unter Hinweis auf das
gefährliche Messer schon ausreichen können, Q von (möglichen) Aggressionen gegen
T8 abzuhalten. Auch ein Eingriff mit einfacher körperlicher Gewalt lag nahe.
Äußerstenfalls wäre ein ein-, nicht mehrfacher Einsatz des Messers gegen andere
Körperregionen in Betracht gekommen, der einen Angriff gestoppt hätte, ohne
lebensgefährliche Verletzungen zu verursachen, etwa in den Arm oder ein Bein. Das
war dem Angeklagten auch zumutbar, drohte ihm doch keine andere Gefahr; der
möglichen Bedrohung durch den Totschläger wäre er auf diese Weise Herr geworden.
83
Ein Überschreiten der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, § 33 StGB, liegt
ersichtlich nicht vor. Während des engeren Tatgeschehens hat der Angeklagte aus
seiner Sicht folgerichtig und mit Übersicht gehandelt, ohne selbst bedroht gewesen oder
sonst in seiner Entschlussfreiheit beeinträchtigt gewesen zu sein.
84
Eine Körperverletzung mit Todesfolge annehmen zu wollen, würde den bedingten
Tötungsvorsatz negieren.
85
Hinsichtlich der vorsätzlichen Körperverletzung zum Nachteil der Zeugin N hat die
Staatsanwaltschaft das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht.
86
V.
87
Auf den zur Tatzeit wie heute heranwachsenden Angeklagten findet gemäß § 105 Abs.1
Nr.1 JGG Jugendstrafrecht Anwendung. Eine Gesamtwürdigung seiner Persönlichkeit
ergibt nämlich, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung
einem Jugendlichen wesentlich näher stand als einem Erwachsenen. Er wohnte bei
seinen Eltern und war wirtschaftlich von ihnen abhängig (die Vertreterin der
Jugendgerichtshilfe formulierte: in muslimischer Familie mit Rundumversorgung
aufgewachsen), zeigte in seiner schulischen Entwicklung sehr wenig
Eigenverantwortung, Einsatzbereitschaft und Zukunftsorientierung und legte ein
jugendtypisches, weitestgehend unbekümmertes Freizeitverhalten an den Tag. Eine
selbständige Lebensstellung hatte er noch bei weitem nicht erreicht.
88
Angesichts der Schwere der Schuld im Hinblick auf die Tötung des Q kommt gemäß §
17 Abs.2 JGG nur die Verhängung von Jugendstrafe in Betracht.
89
Bei der Strafzumessung hält die Kammer dem Angeklagten in erster Linie und mit
besonderem Gewicht zugute, dass er das Geschehen in den meisten wesentlichen
Punkten in tatsächlicher Hinsicht gestanden hat. Sein Geständnis ist nach dem Eindruck
der Kammer auch ernsthaft geprägt von Reue und Einsicht in sein Fehlverhalten und
den unwiederbringlich angerichteten schwersten Schaden.
90
Es darf auch nicht übersehen werden, dass sich sein tödliches Verhalten auf einen
spontanen, nicht geplanten Entschluss gründete. Zwar suchte er – gemeinsam mit
seinen Begleitern – die Auseinandersetzung mit der anderen Gruppe. Insofern mag die
Ohrfeige gegenüber der Zeugin N noch von dem ursprünglichen Plan umfasst gewesen
sein. Dieses in verschiedenen Kreisen Jugendlicher zu beobachtende irrationale
Kräftemessen ("Zoff") ist zwar gemeinschaftsschädlich und nicht zu dulden, aber leider
verbreitet und häufig ein Ventil für Frust, Verärgerung oder das Gefühl von sozialem
Ungleichgewicht. Dass er den Tod eines anderen Menschen verschulden könnte, hat
der Angeklagte aber sicher bis zum letzten Augenblick nicht einkalkuliert.
91
Weiter berücksichtigt die Kammer, dass es sich insgesamt um ein gruppendynamisches
Geschehen handelte, das der Angeklagte zwar maßgeblich mit ausgelöst hat, dem er
sich aber in der Eskalationsphase dann nicht mehr entziehen konnte bzw. mochte.
92
Der Angeklagte verbüßt erstmals Haft und ist deshalb als besonders haftempfindlich
anzusehen.
93
Dass der Angeklagte dem T8 zu Hilfe kommen wollte, kann sich angesichts des
Umstandes, dass der Angeklagte die Provokation zuvor geschürt hatte, nicht
strafmildernd auswirken. Ein minder schwerer Fall im Sinne von § 213 StGB liegt
keinesfalls vor.
94
Für eine empfindliche Strafe spricht das hohe Gewicht des sinnlosen Tötungsdelikts
und die Nichtigkeit des Anlasses. Neben dem Totschlag an Q hat der Angeklagte
außerdem einen zweiten Tatbestand an einem zweiten Opfer, den der Körperverletzung
an der Zeugin N, verwirklicht. Strafschärfend – insbesondere unter dem Gesichtspunkt
des das Jugendstrafrecht beherrschenen Erziehungsgedankens – muss sich auswirken,
dass es der Angeklagte war, der die Kette der Aggressionen in Gang gesetzt und
schließlich für deren Eskalation gesorgt hat. Er hat es nicht bei einem oder wenigen
Stichen belassen.
95
Unter Berücksichtigung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände,
im Hinblick auf seine aufzuarbeitenen Erziehungsdefizite und in Anbetracht des
schweren menschlichen Schadens, den er angerichtet hat, hält die Kammer eine
96
Jugendstrafe von sechs Jahren
97
für notwendig und angemessen.
98
VI.
99
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 465 Abs.1, 472 Abs.1 StPO. Anlass, gemäß §§
109 Abs.2, 74 JGG von der Auferlegung von Kosten und Auslagen abzusehen, besteht
nicht.
100
O
C1
G
101