Urteil des KG Berlin vom 18.11.2005

KG Berlin: halle, bindungswirkung, klageerweiterung, willkür, anhörung, link, quelle, sammlung, widerklage, anwendungsbereich

1
2
3
4
5
6
7
8
Gericht:
KG Berlin 2. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
2 AR 22/06
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 147 ZPO, § 281 Abs 2 S 4
ZPO, § 506 Abs 1 ZPO
Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses: Verweisung
vom Amtsgericht wegen sachlicher Unzuständigkeit an das
Landgericht nach Prozessverbindung
Tenor
Das Landgericht Halle ist sachlich und örtlich zuständig.
Gründe
I.
Die Klägerin erwirkte gegen den Beklagten für die Erbringung von
Steuerberatungsleistungen in Höhe von 3.004,45 EUR nebst näher bezifferter Zinsen
einen Mahnbescheid des Amtsgerichts Wedding zu Geschäftsnr. 05-1152404-0-4 vom
18.11.2005 sowie für Leistungen in Form u.a. der Begleitung des Beklagten anlässlich
einer Betriebsprüfung durch das Finanzamt Halle einen Mahnbescheid des Amtsgerichts
Wedding zu Geschäftsnr. 05-1161299-0-5 vom 06.12.2005 in Höhe von 4.345,40 EUR
nebst näher bezifferter Zinsen. Beide Verfahren sind nach Widerspruch des Beklagten
antragsgemäß an das Amtsgericht Neukölln, das Gericht des Kanzleisitzes der Klägerin
abgegeben worden. Die Klägerin hat mit der jeweiligen Anspruchsbegründung sogleich
die Verbindung der Verfahren und Verweisung an das sachlich zuständige Landgericht,
zunächst Berlin, später Halle beantragt.
Die Verfahren sind dort zunächst unter den AZ.: 7 C 9/06 (Mahnbescheid vom
18.11.2005) und 10 C 7/06 (Mahnbescheid vom 06.12.2005) eingetragen und nach
Anhörung der Parteien mit Beschluss vom 10. März 2006 verbunden worden. Das
Verfahren 7 C 9/06 führt.
Zugleich hat sich das Amtsgericht Neukölln durch vorbezeichneten Beschluss für örtlich
und sachlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Landgericht Halle
verwiesen. Die Zuständigkeit des Landgerichts Halle ergebe sich gem. § 506 ZPO
analog, der nach seinem Sinn und Zweck auf die Fälle verbundener Verfahren
anwendbar sei. Dabei sei die Interessenlage mit den Fällen der Klageerweiterung bzw.
Widerklageerhebung vergleichbar, zumal der Kläger durch Zurücknahme der einen Klage
und anschließende Erweiterung ohnehin die unmittelbare Anwendung des § 506ZPO
erzwingen könne.
Das Landgericht Halle hat nach Anhörung der Parteien mit Beschluss vom 31. März
2006 die Übernahme des Rechtsstreits abgelehnt, da der Verweisungsbeschluss
aufgrund offensichtlicher objektiver Willkür keine Bindungswirkung entfalte. So ergebe
sich aus der veröffentlichten Rechtsprechung und einhelligen Kommentarliteratur, dass
der Anwendungsbereich des § 506 ZPO nicht eröffnet sei.
Das Amtsgericht Neukölln habe sich in seinem Beschluss nicht in vertretbarer Weise mit
diesen Auffassungen auseinandergesetzt und daher objektiv willkürlich gehandelt.
Weder entbinde die vertretene wünschenswerte Ausweitung der Verweisungsmöglichkeit
den Richter von der Anwendung des geltenden Rechts noch rechtfertigte die Möglichkeit
der Umgehung der gesetzlichen Vorschriften durch die Parteien die Ausweitung des
Anwendungsbereichs von § 506 ZPO.
Das Amtsgericht Neukölln hat die Sache dem Kammergericht gem. § 36 ZPO zur
Bestimmung der Zuständigkeit vorgelegt.
II.
Die Voraussetzungen für die Bestimmung des zuständigen Gerichts nach § 36 Abs. 1 Nr.
6 ZPO liegen vor, denn sowohl das Amtsgericht Neukölln als auch das Landgericht Halle
9
10
11
12
6 ZPO liegen vor, denn sowohl das Amtsgericht Neukölln als auch das Landgericht Halle
haben sich rechtskräftig (vgl. allg. zum Begriff BGH NJW 1988, 1794; NJW-RR 1997, 1161)
für unzuständig erklärt.
Nach dem Prioritätsprinzip folgt die Zuständigkeit des Kammergerichts für die
Zuständigkeitsbestimmung aus § 36 Abs. 2 ZPO, da das Amtsgericht Neukölln zuerst
mit der Sache befasst gewesen ist.
Das Landgericht Halle ist zur Entscheidung des Rechtsstreits sachlich zuständig, da das
Amtsgericht Neukölln den Rechtsstreit gem. § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO mit bindender
Wirkung verwiesen hat. Die grundsätzliche Bindungswirkung von
Verweisungsbeschlüssen entfällt nur in eng begrenzten Ausnahmefällen, insbesondere
wenn der Verweisung jegliche Grundlage fehlt und sie deshalb willkürlich erscheint (BGH
NJW 1993, 1273). Von Willkür kann in diesen Konstellationen gesprochen werden, wenn
die Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden
Gedanken nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar ist (BVerfGE 6, 45, 53;
BGH NJW-RR 1996, 877, 878) Dies ist der Fall, wenn das verweisende Gericht eine in
Rechtsprechung und Schrifttum einhellige Ansicht außer Acht gelassen und deswegen
seine Unzuständigkeit nicht nachvollziehbar begründet hat. Da das deutsche Recht eine
Präjudizienbindung nicht kennt, folgt das Willkürurteil nicht aus der schlichten
Abweichung von gefestigter höchstrichterlicher oder obergerichtlicher Rechtsprechung
(BGH NJW 2003, 3201, 3202), sondern allenfalls aus dem Fehlen einer ernsthaften
Auseinandersetzung mit ihr. Wenn das verweisende Gericht gesehen hat, dass es von
der einhelligen Meinung zu der streitrelevanten Rechtsfrage abweicht und die eigene
Auffassung demgegenüber begründet hat, kann die Entscheidung nicht als willkürlich
angesehen werden (KG KGReport 1999, 242; BayOblG MDR 1987, 59).
So liegt der Fall hier. Das Amtsgericht hat in seinem Beschluss ausdrücklich auf die
herrschende Ansicht, nach der Verbindung von Verfahren grundsätzlich nicht zu einer
Veränderung der Zuständigkeit führen sollen, hingewiesen. Es meint aber, dass dieser
Grundsatz vor dem Hintergrund des § 506 ZPO nicht gelten könne, wenn der Kläger
selbst die Verbindung beantragt. Es bestünde dann eine gleich Interessenlage, weil die
Parteien durch Klageerweiterung oder Widerklage auch Zuständigkeitswechsel erzwingen
könnten.
Die Frage, die das Landgericht Halle demgegenüber aufgeworfen hat, nämlich ob der
amtsgerichtlichen Entscheidung zum entscheidenden Punkt eine Begründung fehle und
sie daher unter einem Begründungsdefizit leide, ist für die Entscheidung über die
Willkürlichkeit der Verweisung nicht relevant. Zu prüfen ist nach dem oben dargestellten
Grundsatz lediglich, ob eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der herrschenden
Auffassung stattgefunden hat, nicht jedoch, die Entscheidung überzeugend und
schlüssig begründet ist. An der Ernsthaftigkeit der Argumentation des Amtsgerichts
bestehen keine Zweifel.
Datenschutzerklärung Kontakt Impressum