Urteil des KG Berlin vom 22.01.2008

KG Berlin: vergütung, gebühr, prozesskosten, aufwand, entlastung, vertretung, vorverfahren, prozessvertreter, gleichbehandlung, mandat

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Gericht:
KG Berlin 1. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 W 111/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 91 ZPO, § 103 ZPO, §§ 103ff
ZPO, § 2 Abs 2 S 1 Anl 1
Vorbem 3 Abs 4 RVG, Nr 2300
RVG
Rechtsanwaltsgebühr: Zulassung der Rechtsbeschwerde
bezüglich der Berücksichtigung der Anrechnung der
Geschäftsgebühr im Kostenfestsetzungsverfahren
Leitsatz
Der Beschluss des BGH vom 22.1.2008 - VIII ZB 57/07 - hat die Rechtslage nicht geklärt. Zur
Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ist die Zulassung der Rechtsbeschwerde
weiterhin erforderlich.
Beschluss des Einzelrichters gemäß § 568 S. 2 ZPO
Tenor
Die Sache wird dem Senat zur Entscheidung übertragen.
Gründe
Die Sache ist gemäß § 568 Satz 2 ZPO dem Senat zu übertragen, da die zu
entscheidende Rechtsfrage trotz des kürzlich ergangenen Beschlusses des
Bundesgerichtshofs vom 22.1.2008 - VIII ZB 57/07 - nach Auffassung des Einzelrichters
weiterhin ungeklärt und die Rechtsbeschwerde gemäß § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO
zuzulassen ist. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine
nochmalige Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Der Einzelrichter vermag den
Gründen des Beschlusses des BGH, soweit sie die hier zu entscheidenden Rechtsfragen
betreffen, nicht zu folgen.
Der BGH führt aus, im Falle der Anrechnung der vorgerichtlich entstandenen
Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen
Verfahrens gemäß Teil 3 Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG entstehe die nach Nr. 3100 VV RVG
anfallende Verfahrensgebühr von vornherein nur in gekürzter Höhe; dies sei bei der
Kostenfestsetzung auf den Einwand des Erstattungsschuldners zu berücksichtigen.
Dem gegenüber hat der erkennende Senat entschieden (Beschl. v. 17.7.2007 - 1 W
256/07 -, AGS 07, 439), dass die Anrechnung lediglich dann zu einer Verkürzung der
vom Prozessgegner zu erstattenden Verfahrensgebühr führt, wenn dieser auch zur
Erstattung der anzurechnenden Geschäftsgebühr verpflichtet ist, und dass dieser –
materiell-rechtliche – Einwand bei der Kostenfestsetzung nur zu berücksichtigen ist,
wenn die Verpflichtung bereits gegen den Prozessgegner tituliert oder unstreitig von ihm
erfüllt worden ist. Den Ausführungen des BGH ist entgegen zu halten:
1. Die in Vorbem. 3 Abs. 4 angeordnete Anrechnung führt nicht dazu, dass lediglich eine
verkürzte Verfahrensgebühr nach VV 3100, 3101 zur Entstehung gelangt. Die Gebühr
entsteht in der für ihren Tatbestand im Vergütungsverzeichnis bestimmten Höhe, § 2
Abs. 2 RVG. Ob sie in dieser Höhe festgesetzt werden kann, hängt davon ab, ob die
Anrechnung der Geschäftsgebühr bei der Kostenfestsetzung berücksichtigt wird. Dies ist
für die Kostenfestsetzung im Zivilprozess zu verneinen.
Die Verfahrensgebühr nach VV 3100, 3101 RVG entsteht nach Vorbem. 3 Abs. 2 im
gerichtlichen Verfahren für das Betreiben des Geschäfts. Auch die Geschäftsgebühr
nach VV 2300 ff. entsteht nach Vorbem. 2.3 Abs. 3 für das Betreiben des Geschäfts bei
der außergerichtlichen Vertretung des Auftraggebers. Die Anrechnungsvorschriften in
diesen und den vergleichbaren Fällen (außer Vorbem.3 Abs. 5 und 6 vgl. etwa VV 2303,
2503 Anm. 2, 3100 Anm. 3, 3101 Anm. 1) tragen dem Umstand Rechnung, dass in
aufeinander folgenden, aber nach § 15 Abs. 1 und 2 RVG selbständig abzurechnenden
Angelegenheiten jeweils Gebühren für das Betreiben des Geschäfts entstehen, die einen
deckungsgleichen Aufwand abgelten. In der Regel wird die Anrechnung der bereits
entstandenen auf die in der nachfolgenden Angelegenheit entstehende Gebühr
angeordnet.
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Die Anrechnung betrifft nur das Gebührenaufkommen eines Rechtsanwalts für seine
Tätigkeit in mehreren Angelegenheiten eines Auftraggebers, § 7 Abs. 1 RVG. Werden
jeweils verschiedene Anwälte oder wird ein Anwalt auf Rechnung verschiedener
Auftraggeber tätig, kann eine Anrechnung nicht erfolgen. Die Anrechnung der Gebühren
aufeinander setzt ein gemeinsames Abrechnungsverhältnis voraus. Für die
Kostenfestsetzung folgt daraus, dass die Anrechnung nur solche Gebühren betrifft, die
dem Gegner im Rahmen der ihm mitzuteilenden Kostenberechnung (§ 103 Abs. 2 Satz 2
ZPO) aufgegeben werden können. Eine Geschäftsgebühr, die der Festsetzung nicht
unterliegt, ist bei der Kostenfestsetzung auch nicht im Wege der Anrechnung zu
berücksichtigen. Sie betrifft ein Abrechnungsverhältnis, das nicht Gegenstand der
Kostenfestsetzung ist. Die hieraus hergeleitete - materiell-rechtliche - Einwendung ist
nur ausnahmsweise zu berücksichtigen.
2. Dass der BGH die Festsetzungsfähigkeit sowohl der ungekürzten Verfahrensgebühr
als auch der anzurechnenden Geschäftsgebühr verneint, erscheint widersprüchlich.
Festzusetzen sind nach § 91 ZPO die der obsiegenden Partei erwachsenen Kosten des
Rechtsstreits, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder
Rechtsverteidigung notwendig waren. Dass auch vorprozessuale Maßnahmen – wie
Mahnung, Abmahnung auf der Klägerseite, Anspruchsabwehr, Schutzschrift auf
Beklagtenseite – sachdienlich und zur Erzielung des vollen Prozesserfolgs sogar
notwendig (vgl. § 93 ZPO) sein können, sollte nicht bezweifelt werden. Fraglich ist
hingegen die Prozessbezogenheit eines vorprozessual auf die Prozessvermeidung
gerichteten Aufwandes. Ein solcher Aufwand ist jedenfalls nach Vorbem. 3 Abs. 3 durch
die neu geschaffene Terminsgebühr zu vergüten, wenn dem Anwalt ein unbedingter
Prozessauftrag erteilt wurde (BGH Urt. v. 08.02.2007 – IX ZR 215/05 – MDR 07, 863).
Diese Gebühr ist auch als Teil der Prozesskosten festsetzbar, wenn im anschließenden
gerichtlichen Verfahren eine Kostenentscheidung ergeht. Dasselbe muss aber für die
zugrunde liegende Geschäftsgebühr gelten. Wenn wegen des deckungsgleichen
Aufwandes eine Anrechnung auf die im anschließenden gerichtlichen Verfahren
erwachsene Verfahrensgebühr erfolgt, ist damit auch die Prozessbezogenheit dieses
Aufwandes hergestellt. Daher hat der 1. ZS des BGH im Beschl. v. 20.10.2005 – I ZB
21/05 – die Festsetzbarkeit auch nur für die nicht anrechenbare Geschäftsgebühr nach
(damals) Nr. 2400 VV verneint.
3. Der BGH entnimmt der Gesetzesbegründung (BT Drs. 15/1971 S. 209), dass der
Gesetzgeber mit der Anrechnungsvorschrift dem voraussichtlich geringeren Aufwand
des bereits vorprozessual befassten Anwalts im Rahmen der von § 91 ZPO erfassten
Prozessführung Rechnung getragen und dem Prozessbevollmächtigten nur eine insoweit
gekürzte Vergütung zugebilligt habe. Diese Entscheidung dürfe im prozessualen
Erstattungsverhältnis nicht wieder korrigiert werden. Dem ist zu widersprechen:
Wie dargelegt wurde, betrifft die Anrechnung die Vergütung eines deckungsgleichen
Aufwandes in mehreren, nach § 15 Abs. 2 RVG selbständig zu vergütenden
Angelegenheiten. Das spricht dagegen, im Kostenfestsetzungsverfahren die Anrechnung
von Gebühren aus einer Angelegenheit zu berücksichtigen, für die die Kostenfestsetzung
nicht erfolgt. Die Anrechnung käme damit dem Erstattungspflichtigen zugute, sofern er
nach materiellem Recht nicht zum Ersatz des vorprozessualen, auf Prozessvermeidung
gerichteten Aufwandes verpflichtet ist. Hierfür liefern die Gesetzesmaterialien keine
tragfähige Begründung. Ein solches Ergebnis war offenbar auch nicht gewollt.
Die Gesetzesbegründung verweist auf § 118 Abs. 2 BRAGO, der die volle Anrechnung der
für eine Tätigkeit außerhalb eines gerichtlichen oder behördlichen Verfahrens
angefallenen Geschäftsgebühr nach § 118 Abs. 1 Nr. 1 auf die entsprechenden
Gebühren für ein anschließendes gerichtliches oder behördliches Verfahren vorsah. Mit
Rücksicht darauf, dass die (jetzt in VV 2300 geregelte) Gebühr für die außergerichtliche
Vertretung auch die frühere, nicht anzurechnende Besprechungs- und
Beweisaufnahmegebühr nach § 118 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BRAGO einschloss und dafür
einen weiteren Rahmen enthielt, wurde die Anrechnung nunmehr begrenzt. Eine
Änderung zum geltenden Recht sollte lediglich bei verwaltungsrechtlichen Mandaten
eintreten, die von der Anrechnung nach § 118 Abs. 2 Satz 1 BRAGO ausgenommen
waren, wenn ein behördliches Verfahren voranging, während andererseits das
Verwaltungsverfahren mit dem Vorverfahren nach § 119 Abs. 1 BRAGO eine
Angelegenheit bildete. Die Begründung verweist dazu auf die Neuregelung in § 17 Nr. 1
RVG, die spürbare Verbesserungen der Vergütung in verwaltungsrechtlichen Mandaten
zur Folge habe; insoweit ist auch auf die das Vorverfahren betreffende Regelung in VV
2301 mit Anm. 1 hinzuweisen, wo dem verminderten Umfang der Tätigkeit in
Folgeverfahren durch Herabsetzung des Gebührenrahmens – ohne Anrechnung –
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Folgeverfahren durch Herabsetzung des Gebührenrahmens – ohne Anrechnung –
Rechnung getragen wird.
Nach der Gesetzesbegründung liegen der Anrechnungsregel systematische und
prozessleitende Überlegungen zugrunde. Als systematischer Grund wird dargestellt,
dass die Gebühr für das Betreiben des Geschäfts im gerichtlichen Verfahren in
erheblichem Umfang auch für Tätigkeiten anfalle, die dem Rechtsanwalt bereits für seine
vorgerichtliche Tätigkeit zu vergüten seien; das ist der Gesichtspunkt des
deckungsgleichen Aufwandes. Als „prozessleitende Überlegung“ wird offenbar die
Erwägung bezeichnet, die Anrechnung sei erforderlich, um eine außergerichtliche
Erledigung zu fördern, es müsse „der Eindruck vermieden werden, der Rechtsanwalt
habe ein gebührenrechtliches Interesse an einem gerichtlichen Verfahren“. Diese
Erwägung liegt, wie erwähnt, auch der in Vorbem. 3 Abs. 3 bestimmten Terminsgebühr
zugrunde.
Die mit der Anrechnung verfolgten Ziele betreffen das Verhältnis des Rechtsanwalts zu
seinem Auftraggeber oder demjenigen, der hinsichtlich der Vergütung in beiden von der
Anrechnung betroffenen Angelegenheiten an dessen Stelle tritt. Eine Entlastung des
lediglich für die Kosten des Rechtsstreits (§ 91 ZPO) Erstattungspflichtigen um die
bereits vorgerichtlich angefallenen Kosten ist damit nicht beabsichtigt. Sie erfolgt nicht
aus systematischen Gründen: Die im Rechtsstreit entstandene Verfahrensgebühr gehört
zu den Kosten des Rechtsstreits, die Anrechnung einer vorgerichtlich entstandenen
Geschäftsgebühr mindert lediglich die für beide Angelegenheiten insgesamt
angefallenen Gebühren und hat bei Festsetzung nur der Prozesskosten außer Betracht
zu bleiben. Dem Erstattungspflichtigen wird nicht angesonnen, einen nicht
prozessbezogenen Aufwand zu vergüten. Soweit die Gesetzesbegründung ausführt, eine
Gleichbehandlung des Rechtsanwalts, der unmittelbar einen Prozessauftrag erhält, mit
dem Rechtsanwalt, der zunächst außergerichtlich tätig war, sei nicht zu rechtfertigen,
betrifft dies die Vergütung, die ein Rechtsanwalt erhalten soll, wenn er nach dem
vorgerichtlichen Mandat für das anschließende gerichtliche Verfahren Prozessauftrag
erhält. Im Verhältnis zum Prozessgegner stellt sich die Gleichbehandlungsproblematik
nicht. Vielmehr wäre es nicht zu rechtfertigen, den Prozessgegner hinsichtlich der zu
erstattenden Prozesskosten besser zu stellen, wenn der Prozessvertreter der Partei
schon vorprozessual für sie tätig war. Dass die vorprozessuale Tätigkeit des
Prozessbevollmächtigen bei der Kostenerstattung keine Rolle spielt, weil deren Kosten
nicht zu den Kosten des Rechtsstreits gehören, hat der 1. Zivilsenat des BGH in dem zu
§ 118 BRAGO ergangenen Beschluss vom 12.12.2002 – I ZB 29/02 – (NJW 03, 901)
ausgeführt und daraus abgeleitet, dass aus der Sicht der zur Kostentragung
verpflichteten Gegenseite keine Kostenersparnis durch die Beauftragung eines bereits
vorprozessual tätig gewesenen Anwalts eintritt.
Die prozessleitende Überlegung der Gesetzesbegründung führt zum selben Ergebnis.
Durch die Anrechnungsregel soll einem lediglich gebührenrechtlichen Interesse an einem
gerichtlichen Verfahren entgegen- und auf eine – nur - aufwandsbezogene Vergütung
hingewirkt werden. Dieses Ziel würde verfehlt, wenn auf Prozessvermeidung gerichtete
Bemühungen des Rechtsanwalts im nachfolgenden Rechtsstreit eine Entlastung der
Gegenseite von den anfallenden Verfahrenskosten zur Folge hätten. Die Tatsache, dass
der Gegner nach materiellem Recht nicht zur Erstattung vorprozessual aufgewendeter
Kosten verpflichtet ist, bedeutet noch lange nicht, dass er im Hinblick auf diese Kosten
von den Prozesskosten zu entlasten ist. Schließlich dienten diese Kosten dem Zweck,
ein Gerichtsverfahren zu vermeiden und damit dem Gegner die Prozesskosten zu
ersparen.
4. Nach alledem entsprach die Erstattungspraxis, die die Anrechnungsregelung des §
118 Abs. 2 BRAGO (ebenso des § 132 Abs. 2 BRAGO im Falle der Beratungshilfe) bei
Festsetzung der Prozessgebühr nach §§ 31, 32 BRAGO unberücksichtigt ließ, der
Rechtslage. Diese Rechtslage sollte durch die Anrechnungsregel in Vorbem. 3 Abs. 4 VV
RVG nicht geändert werden, so dass es auch keine unzulässige Korrektur einer
Entscheidung des Gesetzgebers darstellt, wenn die zutreffende Praxis beibehalten wird.
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