Urteil des FG Münster vom 11.02.2003

FG Münster (Vollziehung, Aussetzung, Öffentliches Interesse, Einkünfte, Markt, Steigerung, Einspruch, Hauptsache, Verwaltungsakt, Verfügung)

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
1
2
3
4
5
Aktenzeichen:
Finanzgericht Münster, 11 V 6957/02 AO
11.02.2003
Finanzgericht Münster
Senat
Beschluss
11 V 6957/02 AO
Die Vollziehung des Auskunftsersuchens vom 17. Juni 2002 in Gestalt
der Einspruchsentscheidung vom 21. November 2002 wird bis einen
Monat nach Bekanntgabe des Urteils im Hauptsacheverfahren oder
anderweitiger Erledigung der Klage ausgesetzt.
Die Kosten des Verfahrens fallen dem Antragsgegner zur Last.
Die Beschwerde wird zugelassen.
G r ü n d e:
I.
Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über die Rechtmäßigkeit eines
Sammelauskunftsersuchens, welches der Aufdeckung und Ermittlung noch unbekannter
Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften (§ 23 EStG, sog. Spekulationsgewinne)
dienen soll.
Die Antragstellerin ist eine Kreissparkasse. Mit Schreiben vom 17. Juni 2002 richtete der
Antragsgegner - im Rahmen eines Pilotverfahrens - ein Auskunftsersuchen im
Besteuerungsverfahren gemäß § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO iVm § 93 AO an die
Antragstellerin. Hier heißt es u.a.
"... wie aus allgemein zugänglichen Quellen bekannt ist, haben in den Jahren ab 1997 eine
Vielzahl von Bankkunden verstärkt Aktien und Fondanteile von Kapitalgesellschaften
insbesondere am sogenannten "Neuen Markt" erworben und zeitnah wieder veräußert.
Nach hier aus einem Einzelfall vorliegenden Erkenntnissen, der auch Gegenstand des
BFH Beschlusses vom 21.03.2002 (Az. VII B 152/01) war, haben in 1998 über 50% der
betreffenden Anleger ihre Aktien innerhalb eines Monats wieder veräußert. Unter
Zugrundelegung aller Verkäufe sind 1998 mindestens 80% und 1999 mindestens 67% der
Verkäufe innerhalb der Spekulationsfrist des § 23 EStG erfolgt. Die dort bisher gemachten
Erfahrungen haben gezeigt, dass diese Kunden, die innerhalb der Spekulationsfrist von
sechs Monaten bis 31.12.1998 bzw. von einem Jahr (ab Veranlagungszeitraum 1999)
erzielten Veräußerungsgewinne nicht versteuert haben. Entgegen der allgemein bekannten
Kursentwicklung und dem einsetzenden Kaufboom für derartige Papiere am sogenannten
"Neuen Markt" war im Einzugsbereich Ihres Institutes keine signifikante Veränderung im
Erklärungsverhalten der Steuerpflichtigen festzustellen, obwohl durch die extreme
Kursentwicklung am Aktienmarkt zahlreiche zusätzliche steuerpflichtige Tatbestände im
Sinne des § 23 EStG verwirklicht sein mussten. So erklärten im Bereich der zuständigen
6
7
8
9
10
Finanzämter N. und S. 1996 insgesamt 43 Steuerpflichtige, 1997 insgesamt 52
Steuerpflichtige, 1998 insgesamt 88 Steuerpflichtige, 1999 insgesamt 237 Steuerpflichtige
und 2000 insgesamt 248 Steuerpflichtige die gleichzeitig auch Kunden ihres Hauses sind,
Einkünfte aus Spekulationsgeschäften. Bei diesen Zahlen ist zu berücksichtigen, dass bis
einschließlich dem Jahr 1999 hiermit sämtliche Spekulationstatbestände, also von
Grundstücksgeschäften bis zu Einkünften aus sonstigen privaten Veräußerungsgeschäften
abgedeckt waren. Angesichts der Einwohnerzahl von rd. 470.000 Personen im
Einzugsbereich Ihres Institutes kann die Zahl erklärter Einkünfte aus
Spekulationsgeschäften daher nur als verschwindend gering bezeichnet werden. In den
Besteuerungsverfahren dieser weiteren bisher noch unbekannten Kunden sind Auskünfte
Ihres Bankinstitutes daher erforderlich. Zur Aufdeckung und Ermittlung dieser unbekannten
Steuerfälle bitte ich um Erteilung von Auskünften aus sämtlichen Wertpapierabrechnungen
und Orderaufträgen über Veräußerungsgeschäfte für in- und ausländische Aktien und
Fondanteile von Kunden für die Zeit vom 01.05.1998 bis zum 31.12.2000, soweit diese den
sogenannten "Neuen Markt" (hierbei Neuemissionen nach dem 30.10.1997) betreffen und
zwar hierbei sämtliche Veräußerungsgeschäfte die unter Einbeziehung der hierzu
gehörigen Käufe der Wertpapiere zu einem Spekulationsgewinn von mindestens 1.000 DM
aus einem einzelnen Veräußerungsgeschäft geführt haben und von einer natürlichen
Person getätigt worden sind. Wertpapiergeschäfte, die außerhalb der Spekulationsfrist
liegen und die zu keinem Spekulationsgewinn geführt haben bleiben unberücksichtigt.
Sofern ein Kunde durch mindestens ein getätigtes Veräußerungsgeschäft die
vorgenannten Kriterien erfüllt bitte ich um Mitteilung des Kunden mit folgenden Angaben.....
...Aus den von Ihnen veröffentlichten Zahlen ergibt sich, dass die für Kunden ausgeführten
Wertpapieraufträge in Ihrem Hause auf mehr als 80.000 im Jahre 1999 gestiegen sind, was
eine Steigerung um 68% bedeutet (1998: 47.680). Die Anzahl von 18.300 Depotkonten im
Jahre 1999 bedeutet eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr um fast 30% (1998: 14.200)
und der Wertpapierumsatz im Kundengeschäft in Ihrem Hause von über 400 Mio. DM in
1999 stellt eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr um 28% dar. Die Anzahl der
Depotkunden wuchs im Jahr 2000 um weitere 50% auf 30.000 Stück. Diese Zahlen
untermauern das Missverhältnis zwischen den erklärten Spekulationsgewinnen im
örtlichen Zuständigkeitsbereich der Finanzämter N. und S. zu der Anzahl der von den
Kunden Ihres Hauses insgesamt getätigten Wertpapiergeschäften......"
Der Einspruch der Antragstellerin blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 21.
November 2002). Über die hiergegen gerichtete Klage (11 K 6956/02 AO) hat der Senat
noch nicht entschieden.
Die begehrte Aussetzung der Vollziehung hat der Antragsgegner versagt und auch den
Einspruch der Antragstellerin hiergegen zurückgewiesen.
Die Antragstellerin ist der Auffassung, dass die Aussetzung der Vollziehung bereits wegen
der durch den Bundesfinanzhof geäußerten Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der
Besteuerung sog. Spekulationsgewinne gerechtfertigt sei. Des Weiteren seien die Folgen,
die sich aus einer Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung ergeben, zu berücksichtigen.
Denn die einmal erteilten Auskünfte könnten nicht mehr zurückgefordert werden. Außerdem
wäre die Vertrauensbasis zu den Kunden unwiederbringlich zerstört, was wiederum
erhebliche Wettbewerbsnachteile bedeutete.
Ferner sei das Auskunftsersuchen rechtswidrig, weil das vom Antragsgegner genannte
Zahlenwerk zu den Depotkonten, Steigerungsraten und Spekulationsgeschäften
widersprüchlich sei und in keinem Zusammenhang zu dem Gegenstand des
Auskunftsersuchens, welches sich auf den Neuen Markt für den Zeitraum vom 1. Mai 1998
bis 31. Dezember 2000 beziehe, stehe.
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
die Vollziehung des Auskunftsersuchens im Besteuerungsverfahren vom 17.
Juni 2002 bis zur rechtskräftigen Entscheidung über das Hauptsacheverfahren
auszusetzen,
hilfsweise
die Beschwerde zum Bundesfinanzhof zuzulassen.
Der Antragsgegner ist dem entgegen getreten.
Zur Begründung verweist er auf die Ausführungen der Einspruchsentscheidung betreffend
die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die zwischen den Beteiligten
gewechselten Schriftsätze sowie die Steuerakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag ist begründet.
1. Der Senat lässt es dahingestellt, ob im Streitfall neben allgemein zugänglichen
Informationen sonstige - insbesondere sparkasseninterne - Informationen vorliegen, die
einen hinreichenden Anlass für die auf § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Abgabenordnung (AO)
gestützten Ermittlungen bieten (vgl. hierzu BFH Beschluss vom 21. März 2002 VII B 152/01,
BFHE 198, 42). Denn die Aussetzung der Vollziehung des Auskunftsersuchens ist bereits
wegen der zumindest zweifelhaften Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung sog.
Spekulationsgewinne geboten.
a. Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht der
Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise
aussetzen. Die Aussetzung soll insbesondere dann erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an
der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen (§ 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz
2 FGO). Ernstliche Zweifel im Sinne von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO sind zu bejahen, wenn bei
summarischer Prüfung des angefochtenen Steuerbescheides neben für seine
Rechtmäßigkeit sprechende Umstände gewichtige Gründe zu Tage treten, die
Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken (vgl.
Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447,
BStBl III 1967, 182; seitdem ständige Rechtsprechung). Ernstliche Zweifel können auch
verfassungsrechtliche Zweifel an der Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt
zugrundeliegenden Norm sein, sofern ein berechtigtes Interesse an der Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes besteht (z.B. BFH Beschluss vom 23. Oktober 2002 II B
153/01, BFH/NV 2003, 235, BFH Beschluss vom 15. Dezember 2000 IX B 128/99, BFHE
194, 157, BFH Beschluss vom 19. August 1994 X B 318/93, BFH/NV 1995, 143). Ein
solches liegt vor, wenn die öffentlichen Belange - insbesondere das öffentliche Interesse an
einer geordneten Haushaltsführung - nicht in solch einem Ausmaß berührt sind, dass das
Interesse der Antragstellerin, das Auskunftsersuchen abzuwehren, dahinter zurücktreten
müsste.
b. Der Senat teilt die vom Bundesfinanzhof im Beschluss vom 16. Juli 2002 (IX R 62/99,
BFHE nn, NJW 2003, 83) dargelegte Auffassung, dass die Besteuerung von
Spekulationsgewinnen im Sinne von § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. b EStG a.F. wegen des
Bestehens struktureller Vollzugshindernisse nicht mit dem Grundgesetz (Art. 3 GG)
vereinbar ist. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf den o. g. Beschluss Bezug
genommen.
23
24
25
26
27
28
Bestehen aber derlei verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Besteuerung von
Spekulationsgewinnen, so schlagen diese aus Sicht des Senates zwingend auf die Frage
der Rechtmäßigkeit von Auskunftsersuchen durch, sofern diese - wie im Streitfall - der
Aufdeckung und Ermittlung noch unbekannter Einkünfte aus Spekulationsgeschäften
dienen sollen. Denn eine Maßnahme, die Grundlage der - nachfolgendenden -
verfassungsrechtlich bedenklichen Besteuerung von Spekulationsgewinnen ist, unterliegt
den gleichen rechtlichen Bedenken wie die Besteuerung selbst.
Die Aufhebung des Vollzugsdefizites im Bereich der Gewinne aus Spekulationsgeschäften
durch eine "großzügige" Handhabung der vom Gesetzgeber bereit gestellten
Instrumentarien ist weder Aufgabe der Finanzverwaltung noch der Gerichte, sondern allein
dem Gesetzgeber vorbehalten. Erst wenn dieser die Voraussetzungen für eine dem
Gleichheitsgrundsatz entsprechende Besteuerung der Spekulationsgewinne schafft, sind
hierauf zielende Ermittlungsmaßnahmen statthaft.
Solange aber das vom Gesetzgeber zur Verfügung gestellte Instrumentarium -
einschließlich etwaiger unter bestimmten Voraussetzungen zulässiger
Sammelauskunftsersuchen - nicht ausreicht, um die vom Grundgesetz geforderte
gleichmäßige Besteuerung der Gewinne aus Spekulationsgeschäften zu gewährleisten,
und gerade deswegen die Besteuerung dieser Einkünfte als verfassungswidrig anzusehen
ist, erfassen diese Bedenken erst recht jene Einzelmaßnahmen, die die - gleichheitswidrige
- Besteuerung Einzelner zum Ergebnis haben sollen. Die verfassungswidrige
Ungleichbehandlung liegt schließlich gerade darin, dass lediglich ein kleiner Teil
derjenigen, die tatsächlich Spekulationsgewinne erzielen, aufgrund ihrer Erklärung oder
aber infolge diesbezüglicher punktueller Ermittlungsmaßnahmen der Finanzbehörden zur
Besteuerung herangezogen werden. Mithin droht auch den Kunden der Antragstellerin eine
verfassungswidrige Ungleichbehandlung, da sie als Folge des Auskunftsersuchens zu den
Wenigen gehörten, die zur Besteuerung ihrer Spekulationsgewinne herangezogen werden,
während eine Vielzahl anderer Kunden von anderen Kreditinstituten - insbesondere
überregional tätigen Großbanken -, die Geschäfte gleicher Art getätigt haben, unbehelligt
bleiben.
c. Auch besteht seitens der Antragstellerin ein berechtigtes Interesse an der Aussetzung
der Vollziehung, denn ihre Interessen gehen den öffentlichen Belangen vor. Dies ergibt
sich zum einen aus dem vom Gesetzgeber selbst als besonders schutzwürdig erachteten
(vgl. § 30a AO) Vertrauensverhältnis zwischen der Antragstellerin und ihren Kunden,
welches durch die Vollziehung eines auf eine gleichheitswidrige Besteuerung zielenden
Auskunftsersuchens unwiederbringlich zerstört wäre. Zum anderen folgt dies aus dem für
die Antragstellerin drohenden Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen, insbesondere
überregional tätigen Kreditinstituten. Ein demgegenüber vorrangiges öffentliches Interesse
vermag der Senat nicht zu erkennen, da die Haushaltslage im Hinblick auf das tatsächlich
bestehende Vollzugsdefizit nicht durch die Aussetzung der Vollziehung punktueller
Ermittlungsmaßnahmen nachhaltig beeinträchtigt ist.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
3. Die Beschwerde war gemäß § 128 Abs. 3, § 115 Abs. 2 FGO wegen der grundsätzlichen
Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.