Urteil des FG Münster vom 24.06.2002

FG Münster (Vollziehung, Öffentliches Interesse, Aussetzung, Einkünfte, Einspruch, Hauptsache, Verfügung, Verwaltungsakt, Vertrauensverhältnis, Bekanntgabe)

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Finanzgericht Münster, 11 V 6946/02 AO
24.06.2002
Finanzgericht Münster
11. Senat
Beschluss
11 V 6946/02 AO
Die Vollziehung des Auskunftsersuchens vom 24. Juni 2002 in Gestalt
der Einspruchsentscheidung vom 26. November 2002 wird bis einen
Monat nach Bekanntgabe des Urteils im Hauptsacheverfahren oder
anderweitiger Erledigung der Klage ausgesetzt.
Die Kosten des Verfahrens fallen dem Antragsgegner zur Last.
Die Beschwerde wird zugelassen.
G r ü n d e:
I.
Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über die Rechtmäßigkeit eines
Sammelauskunftsersuchens, welches der Aufdeckung und Ermittlung noch unbekannter
Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften (§ 23 EStG, sog. Spekulationsgewinne)
dienen soll.
Die Antragstellerin ist eine in der Rechtsform der Genossenschaft geführte Volksbank. Mit
Schreiben vom 24. Juni 2002 richtete der Antragsgegner - im Rahmen eines
Pilotverfahrens - ein Auskunftsersuchen im Besteuerungsverfahren gemäß § 208 Abs. 1
Satz 1 Nr. 3 AO iVm § 93 AO an die Antragstellerin. Mit dem Ersuchen erstrebt der
Antragsgegner unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesfinanzhofes vom 21.
März 2002 (VII B 152/01, BFHE 198, 42) Auskünfte über innerhalb der Spekulationsfrist
durch Privatkunden getätigte Veräußerungen von Aktien und Fondsanteilen des sog.
neuen Marktes (Neuemissionen nach dem 31. Oktober 1997) für die Zeit vom 1. Mai 1998
bis zum 31. Dezember 2000.
Der hiergegen gerichtete Einspruch der Antragstellerin blieb ohne Erfolg
(Einspruchsentscheidung vom 26. November 2002). Über die Klage (11 K 6945/02 AO) hat
der Senat noch nicht entschieden.
Die weiterhin begehrte Aussetzung der Vollziehung hat der Antragsgegner versagt und
auch den Einspruch der Antragstellerin hiergegen zurückgewiesen.
Die Antragstellerin ist der Auffassung, dass ein hinreichender Anlass für das Tätigwerden
des Antragsgegners fehle. Insbesondere lägen institutsbezogene Informationen nicht vor.
Außerdem bedeute die Vollziehung des Verwaltungsaktes eine unbillige Härte.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
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die Vollziehung des Auskunftsersuchens im Besteuerungsverfahren vom 24.
Juni 2002 bis zur rechtskräftigen Entscheidung über das Hauptsacheverfahren
auszusetzen.
Der Antragsgegner ist dem entgegen getreten.
Zur Begründung verweist er auf die Ausführungen der Einspruchsentscheidung betreffend
die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung. Ergänzend führt er aus, dass sich der
hinreichende Anlass für das Auskunftsersuchen sowohl aus den eigenen Lageberichten
der Antragstellerin als auch nach den Feststellungen der durch das Finanzamt für Groß-
und Konzernbetriebsprüfungen Herne durchgeführten (regelmäßigen) Betriebsprüfung
ergebe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die zwischen den Beteiligten
gewechselten Schriftsätze sowie die Steuerakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag ist begründet.
1. Der Senat lässt es dahingestellt, ob im Streitfall neben allgemein zugänglichen
Informationen sonstige - insbesondere bankinterne - Informationen vorliegen, die einen
hinreichenden Anlass für die auf § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Abgabenordnung (AO)
gestützten Ermittlungen bieten (vgl. hierzu BFH-Beschluss vom 21. März 2002 VII B
152/01, BFHE 198, 42). Denn die Aussetzung der Vollziehung des Auskunftsersuchens ist
bereits wegen der zumindest zweifelhaften Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung sog.
Spekulationsgewinne geboten.
a. Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht der
Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise
aussetzen. Die Aussetzung soll insbesondere dann erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an
der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen (§ 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz
2 FGO). Ernstliche Zweifel im Sinne von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO sind zu bejahen, wenn bei
summarischer Prüfung des angefochtenen Steuerbescheides neben für seine
Rechtmäßigkeit sprechende Umstände gewichtige Gründe zu Tage treten, die
Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken (vgl.
Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447,
BStBl III 1967, 182; seitdem ständige Rechtsprechung). Ernstliche Zweifel können auch
verfassungsrechtliche Zweifel an der Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt
zugrundeliegenden Norm sein, sofern ein berechtigtes Interesse an der Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes besteht (z.B. BFH-Beschluss vom 23. Oktober 2002 II B
153/01, BFH/NV 2003, 235, BFH-Beschluss vom 15. Dezember 2000 IX B 128/99, BFHE
194, 157, BFH-Beschluss vom 19. August 1994 X B 318/93, BFH/NV 1995, 143). Ein
solches liegt vor, wenn die öffentlichen Belange - insbesondere das öffentliche Interesse an
einer geordneten Haushaltsführung - nicht in solch einem Ausmaß berührt sind, dass das
Interesse der Antragstellerin, das Auskunftsersuchen abzuwehren, dahinter zurücktreten
müsste.
b. Der Senat teilt die vom Bundesfinanzhof im Beschluss vom 16. Juli 2002 (IX R 62/99,
BFHE nn, NJW 2003, 83) dargelegte Auffassung, dass die Besteuerung von
Spekulationsgewinnen im Sinne von § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. b Einkommensteuergesetz
(EStG a.F.) wegen des Bestehens struktureller Vollzugsdefizite nicht mit dem Grundgesetz
(Art. 3 GG) vereinbar ist. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf den o. g. Beschluss
Bezug genommen.
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Bestehen aber derlei verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Besteuerung von
Spekulationsgewinnen, so schlagen diese aus Sicht des Senates zwingend auf die Frage
der Rechtmäßigkeit von Auskunftsersuchen durch, sofern diese - wie im Streitfall - der
Aufdeckung und Ermittlung noch unbekannter Einkünfte aus Spekulationsgeschäften
dienen sollen. Denn eine Maßnahme, die Grundlage der - nachfolgendenden -
verfassungsrechtlich bedenklichen Besteuerung von Spekulationsgewinnen ist, unterliegt
den gleichen rechtlichen Bedenken wie die Besteuerung selbst.
Die Aufhebung des Vollzugsdefizites im Bereich der Gewinne aus Spekulationsgeschäften
durch eine "großzügige" Handhabung der vom Gesetzgeber bereit gestellten
Instrumentarien ist weder Aufgabe der Finanzverwaltung noch der Gerichte, sondern allein
dem Gesetzgeber vorbehalten. Erst wenn dieser die Voraussetzungen für eine dem
Gleichheitsgrundsatz entsprechende Besteuerung der Spekulationsgewinne schafft, sind
hierauf zielende Ermittlungsmaßnahmen statthaft.
Solange aber das vom Gesetzgeber zur Verfügung gestellte Instrumentarium -
einschließlich etwaiger unter bestimmten Voraussetzungen zulässiger
Sammelauskunftsersuchen - nicht ausreicht, um die vom Grundgesetz geforderte
gleichmäßige Besteuerung der Gewinne aus Spekulationsgeschäften zu gewährleisten,
und gerade deswegen die Besteuerung dieser Einkünfte als verfassungswidrig anzusehen
ist, erfassen diese Bedenken erst recht jene Einzelmaßnahmen, die die - gleichheitswidrige
- Besteuerung Einzelner zum Ergebnis haben sollen. Die verfassungswidrige
Ungleichbehandlung liegt schließlich gerade darin, dass lediglich ein kleiner Teil
derjenigen, die tatsächlich Spekulationsgewinne erzielen, aufgrund ihrer Erklärung oder
aber infolge diesbezüglicher punktueller Ermittlungsmaßnahmen der Finanzbehörden zur
Besteuerung herangezogen werden. Mithin droht auch den Kunden der Antragstellerin eine
verfassungswidrige Ungleichbehandlung, da sie als Folge des Auskunftsersuchens zu den
Wenigen gehörten, die zur Besteuerung ihrer Spekulationsgewinne herangezogen werden,
während eine Vielzahl anderer Kunden von anderen Kreditinstituten - insbesondere
überregional tätigen Großbanken -, die Geschäfte gleicher Art getätigt haben, unbehelligt
bleiben.
c. Auch besteht seitens der Antragstellerin ein berechtigtes Interesse an der Aussetzung
der Vollziehung, denn ihre Interessen gehen den öffentlichen Belangen vor. Dies ergibt
sich zum einen aus dem vom Gesetzgeber selbst als besonders schutzwürdig erachteten
(vgl. § 30a AO) Vertrauensverhältnis zwischen der Antragstellerin und ihren Kunden,
welches durch die Vollziehung eines auf eine gleichheitswidrige Besteuerung zielenden
Auskunftsersuchens unwiederbringlich zerstört wäre. Zum anderen folgt dies aus dem für
die Antragstellerin drohenden Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen, insbesondere
überregional tätigen Kreditinstituten. Ein demgegenüber vorrangiges öffentliches Interesse
vermag der Senat nicht zu erkennen, da die Haushaltslage im Hinblick auf das tatsächlich
bestehende Vollzugsdefizit nicht durch die Aussetzung der Vollziehung punktueller
Ermittlungsmaßnahmen nachhaltig beeinträchtigt ist.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
3. Die Beschwerde war gemäß § 128 Abs. 3, § 115 Abs. 2 FGO wegen der grundsätzlichen
Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.