Urteil des EuGH vom 26.09.2013

Verordnung, Entschädigung, Civ, Eisenbahnverkehr

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
26. September 2013
)
„Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 – Rechte und Pflichten der Fahrgäste im
Eisenbahnverkehr – Art. 17 – Fahrpreisentschädigung bei Verspätungen – Ausschluss in
Fällen höherer Gewalt – Zulässigkeit – Art. 30 Abs. 1 Unterabs. 1 – Befugnisse der für
die Durchsetzung dieser Verordnung benannten nationalen Stelle – Möglichkeit, einem
Eisenbahnbeförderungsunternehmen vorzuschreiben, seine Bedingungen für die
Entschädigung der Fahrgäste zu ändern“
In der Rechtssache C‑509/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom
Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 8. September 2011, beim
Gerichtshof eingegangen am 30. September 2011, in dem Verfahren
ÖBB-Personenverkehr AG,
Beteiligte:
Schienen-Control Kommission,
Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richterin M. Berger sowie der
Richter A. Borg Barthet (Berichterstatter), E. Levits und J.‑J. Kasel,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22.
November 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der ÖBB-Personenverkehr AG, vertreten durch Rechtsanwalt A. Egger,
– der Schienen-Control Kommission, vertreten durch G. Hellwagner, N. Schadler und
G. Redl als Bevollmächtigte,
– der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als
– der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als
Bevollmächtigte,
– der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als
Bevollmächtigte,
– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im
Beistand von W. Ferrante, avvocato dello Stato,
– der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun und H. Støvlbæk als
Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. März
2013
folgendes
Urteil
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 17 und 30 der
Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.
Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr (ABl.
L 315, S. 14).
2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen einer Beschwerde der ÖBB-Personenverkehr AG
(im Folgenden: ÖBB-Personenverkehr) gegen den Bescheid der Schienen-Control
Kommission vom 6. Dezember 2010 zu den Bedingungen der Entschädigung von
Fahrgästen im Eisenbahnverkehr durch ÖBB-Personenverkehr.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
3
Die Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und der Zwischenstaatlichen
Organisation für den Internationalen Eisenbahnverkehr über den Beitritt der
Europäischen Union zum Übereinkommen über den Internationalen Eisenbahnverkehr
vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999
(im Folgenden: COTIF), die am 23. Juni 2011 in Bern (Schweiz) unterzeichnet wurde, ist
gemäß ihrem Art. 9 am 1. Juli 2011 in Kraft getreten.
4
Art. 2 dieser Vereinbarung bestimmt:
„Unbeschadet des Ziels und des Zwecks des Übereinkommens, den
grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr zu fördern, zu verbessern und zu erleichtern,
sowie unbeschadet seiner uneingeschränkten Anwendung gegenüber anderen
Vertragsparteien des Übereinkommens wenden Vertragsparteien des Übereinkommens,
die Mitgliedstaaten der Union sind, in ihren Beziehungen untereinander die
die Mitgliedstaaten der Union sind, in ihren Beziehungen untereinander die
Rechtsvorschriften der Union an und wenden dementsprechend nicht die Vorschriften
aufgrund des Übereinkommens an, außer wenn für den betreffenden Gegenstand keine
Unionsvorschriften bestehen.“
Unionsrecht
5
Die Erwägungsgründe 1 bis 3 der Verordnung Nr. 1371/2007 lauten:
„(1) Im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik ist es wichtig, die Nutzerrechte der
Fahrgäste im Eisenbahnverkehr zu schützen und die Qualität und Effektivität der
Schienenpersonenverkehrsdienste zu verbessern, um dazu beizutragen, den
Verkehrsanteil der Eisenbahn im Vergleich zu anderen Verkehrsträgern zu
erhöhen.
(2) In der Mitteilung der Kommission ‚Verbraucherpolitische Strategie 2002-2006‘… ist
das Ziel festgelegt, gemäß Artikel 153 Absatz 2 [EG] ein hohes
Verbraucherschutzniveau im Bereich des Verkehrs zu erreichen.
(3) Da der Fahrgast die schwächere Partei eines Beförderungsvertrags ist, sollten
seine Rechte in dieser Hinsicht geschützt werden.“
6
Die Erwägungsgründe 6, 13 und 14 dieser Verordnung lauten:
„(6) Bei der Stärkung der Rechte der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr sollte das
bereits bestehende einschlägige internationale Regelwerk im Anhang A –
Einheitliche Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale
Eisenbahnbeförderung von Personen und Gepäck (CIV) zum [COTIF] [im
Folgenden: ER CIV] – zugrunde gelegt werden. Es ist jedoch wünschenswert, den
Anwendungsbereich dieser Verordnung auszuweiten und nicht nur die Fahrgäste
im grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr, sondern auch die Fahrgäste im
inländischen Eisenbahnverkehr zu schützen.
(13) Die Stärkung der Rechte auf Entschädigung und Hilfeleistung bei Verspätungen,
verpassten Anschlüssen oder Zugausfällen sollte auf dem Markt für
Schienenpersonenverkehrsdienste zu größeren Anreizen zum Nutzen der
Fahrgäste führen.
(14) Es ist wünschenswert, dass durch diese Verordnung ein System für die
Entschädigung von Fahrgästen bei Verspätungen geschaffen wird, das mit der
Haftung des Eisenbahnunternehmens verknüpft ist und auf der gleichen Grundlage
beruht wie das internationale System, das im Rahmen des COTIF, insbesondere in
dessen Anhang betreffend die Fahrgastrechte (CIV), besteht.“
7
Die Erwägungsgründe 22 und 23 der Verordnung Nr. 1371/2007 lauten:
„(22) Die Mitgliedstaaten sollten für Verstöße gegen diese Verordnung Sanktionen
festlegen und die zu ihrer Anwendung erforderlichen Maßnahmen treffen. Die
Sanktionen, zu denen auch die Zahlung einer Entschädigung an die betreffende
Sanktionen, zu denen auch die Zahlung einer Entschädigung an die betreffende
Person gehören könnte, sollten wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.
(23) Da die Ziele dieser Verordnung, nämlich die Entwicklung der Eisenbahnen der
Gemeinschaft und die Einführung von Fahrgastrechten, auf Ebene der
Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können und daher besser auf
Gemeinschaftsebene zu verwirklichen sind, kann die Gemeinschaft im Einklang mit
dem in Artikel 5 [EG] niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden.
Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit geht diese Verordnung nicht über das für die Erreichung dieser
Ziele erforderliche Maß hinaus.“
8
Art. 3 der Verordnung Nr. 1371/2007 bestimmt:
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:
1. ‚Eisenbahnunternehmen‘ ein Eisenbahnunternehmen im Sinne des Artikels 2 der
Richtlinie 2001/14/EG … sowie jedes öffentlich-rechtliche oder private
Unternehmen, dessen Tätigkeit im Erbringen von Eisenbahnverkehrsleistungen zur
Beförderung von Gütern und/oder Personen besteht, wobei dieses Unternehmen
die Traktion sicherstellen muss; dies schließt auch Unternehmen ein, die
ausschließlich die Traktionsleistung erbringen;
8. ‚Beförderungsvertrag‘ einen Vertrag über die entgeltliche oder unentgeltliche
Beförderung
zwischen
einem
Eisenbahnunternehmen
oder
einem
Fahrkartenverkäufer und dem Fahrgast über die Durchführung einer oder mehrerer
Beförderungsleistungen;
16. ‚Allgemeine Beförderungsbedingungen‘ die in Form von Allgemeinen
Geschäftsbedingungen oder Tarifen in jedem Mitgliedstaat rechtsgültigen
Bedingungen des Beförderers, die mit Abschluss des Beförderungsvertrages
dessen Bestandteil geworden sind;
…“
9
Art. 6 der Verordnung lautet:
„(1) Die Verpflichtungen gegenüber Fahrgästen gemäß dieser Verordnung dürfen –
insbesondere durch abweichende oder einschränkende Bestimmungen im
Beförderungsvertrag – nicht eingeschränkt oder ausgeschlossen werden.
(2) Die Eisenbahnunternehmen können Vertragsbedingungen anbieten, die für den
Fahrgast günstiger sind als die in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen.“
10
Art. 11 der Verordnung sieht vor:
„Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels und unbeschadet geltender nationaler
„Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels und unbeschadet geltender nationaler
Rechtsvorschriften, die Fahrgästen weiter gehenden Schadensersatz gewähren, ist die
Haftung von Eisenbahnunternehmen in Bezug auf Fahrgäste und deren Gepäck in
Anhang I Titel IV Kapitel I, III und IV sowie Titel VI und Titel VII geregelt.“
11
Art. 15 der Verordnung bestimmt:
„Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels ist die Haftung der
Eisenbahnunternehmen für Verspätungen, verpasste Anschlüsse und Zugausfälle in
Anhang I Titel IV Kapitel II geregelt.“
12
Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 lautet:
„(1) Ohne das Recht auf Beförderung zu verlieren, kann ein Fahrgast bei
Verspätungen vom Eisenbahnunternehmen eine Fahrpreisentschädigung verlangen,
wenn er zwischen dem auf der Fahrkarte angegebenen Abfahrts- und Zielort eine
Verspätung erleidet, für die keine Fahrpreiserstattung nach Artikel 16 erfolgt ist. Die
Mindestentschädigung bei Verspätungen beträgt
a) 25 % des Preises der Fahrkarte bei einer Verspätung von 60 bis 119 Minuten;
b) 50 % des Preises der Fahrkarte ab einer Verspätung von 120 Minuten.
Fahrgäste, die eine Zeitfahrkarte besitzen und denen während der Gültigkeitsdauer ihrer
Zeitfahrkarte wiederholt Verspätungen oder Zugausfälle widerfahren, können
angemessene Entschädigung gemäß den Entschädigungsbedingungen des
Eisenbahnunternehmens verlangen. In den Entschädigungsbedingungen werden die
Kriterien zur Bestimmung der Verspätung und für die Berechnung der Entschädigung
festgelegt.
Die Entschädigung für eine Verspätung wird im Verhältnis zu dem Preis berechnet, den
der Fahrgast für den verspäteten Verkehrsdienst tatsächlich entrichtet hat.
Wurde der Beförderungsvertrag für eine Hin- und Rückfahrt abgeschlossen, so wird die
Entschädigung für eine entweder auf der Hin- oder auf der Rückfahrt aufgetretene
Verspätung auf der Grundlage des halben entrichteten Fahrpreises berechnet. In
gleicher Weise wird der Preis für einen verspäteten Verkehrsdienst, der im Rahmen
eines sonstigen Beförderungsvertrags mit mehreren aufeinanderfolgenden Teilstrecken
angeboten wird, anteilig zum vollen Preis berechnet.
Verspätungen, für die das Eisenbahnunternehmen nachweisen kann, dass sie
außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des Vertrags zur Gründung der
Europäischen Gemeinschaft eingetreten sind, werden bei der Berechnung der
Verspätungsdauer nicht berücksichtigt.
(2) Die Zahlung der Entschädigung erfolgt innerhalb von einem Monat nach
Einreichung des Antrags auf Entschädigung. Die Entschädigung kann in Form von
Gutscheinen und/oder anderen Leistungen erfolgen, sofern deren Bedingungen
(insbesondere bezüglich des Gültigkeitszeitraums und des Zielorts) flexibel sind. Die
Entschädigung erfolgt auf Wunsch des Fahrgasts in Form eines Geldbetrags.
Entschädigung erfolgt auf Wunsch des Fahrgasts in Form eines Geldbetrags.
(3) Der Entschädigungsbetrag darf nicht um Kosten der Finanztransaktion wie
Gebühren, Telefonkosten oder Porti gekürzt werden. Die Eisenbahnunternehmen dürfen
Mindestbeträge festlegen, unterhalb deren keine Entschädigungszahlungen
vorgenommen werden. Dieser Mindestbetrag darf höchstens 4 [Euro] betragen.
(4) Der Fahrgast hat keinen Anspruch auf Entschädigung, wenn er bereits vor dem
Kauf der Fahrkarte über eine Verspätung informiert wurde oder wenn bei seiner Ankunft
am Zielort eine Verspätung aufgrund der Fortsetzung der Reise mit einem anderen
Verkehrsdienst oder mit geänderter Streckenführung weniger als 60 Minuten beträgt.“
13
Art. 18 Abs. 1 bis 3 der Verordnung sieht vor:
„(1) Bei einer Verspätung bei der Abfahrt oder der Ankunft sind die Fahrgäste durch
das Eisenbahnunternehmen oder den Bahnhofsbetreiber über die Situation und die
geschätzte Abfahrts- und Ankunftszeit zu unterrichten, sobald diese Informationen zur
Verfügung stehen.
(2) Bei einer Verspätung nach Absatz 1 von mehr als 60 Minuten ist den Fahrgästen
Folgendes kostenlos anzubieten:
a) Mahlzeiten und Erfrischungen in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit, sofern
sie im Zug oder im Bahnhof verfügbar oder vernünftigerweise lieferbar sind;
b) die Unterbringung in einem Hotel oder einer anderweitigen Unterkunft und die
Beförderung zwischen dem Bahnhof und der Unterkunft in Fällen, in denen ein
Aufenthalt von einer oder mehreren Nächten notwendig wird oder ein zusätzlicher
Aufenthalt notwendig wird, sofern dies praktisch durchführbar ist;
c) ist der Zug auf der Strecke blockiert, die Beförderung vom Zug zum Bahnhof, zu
einem alternativen Abfahrtsort oder zum Zielort des Verkehrsdienstes, sofern dies
praktisch durchführbar ist.
(3) Besteht keine Möglichkeit zur Fortsetzung eines Verkehrsdienstes mehr, so
organisiert das Eisenbahnunternehmen so rasch wie möglich einen alternativen
Beförderungsdienst für die Fahrgäste.
…“
14
Art. 30 der Verordnung bestimmt:
„(1) Jeder Mitgliedstaat benennt eine oder mehrere für die Durchsetzung dieser
Verordnung zuständige Stellen. Jede dieser Stellen ergreift die notwendigen
Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Rechte der Fahrgäste gewahrt werden.
Jede Stelle ist in Aufbau, Finanzierung, Rechtsstruktur und Entscheidungsfindung von
den Betreibern der Infrastruktur, den Entgelt erhebenden Stellen, den Zuweisungsstellen
und den Eisenbahnunternehmen unabhängig.
Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission die gemäß diesem Absatz benannte Stelle
oder benannten Stellen und ihre jeweiligen Zuständigkeiten mit.
oder benannten Stellen und ihre jeweiligen Zuständigkeiten mit.
(2) Jeder Fahrgast kann bei der geeigneten nach Absatz 1 benannten Stelle oder
jeder anderen geeigneten von einem Mitgliedstaat benannten Stelle Beschwerde über
einen mutmaßlichen Verstoß gegen diese Verordnung einreichen.“
15
Art. 32 der Verordnung sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten legen für Verstöße gegen diese Verordnung Sanktionen fest und
treffen die zu ihrer Anwendung erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen
wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Die Mitgliedstaaten teilen der
Kommission diese Vorschriften und Maßnahmen bis zum 3. Juni 2010 mit und melden
ihr spätere Änderungen unverzüglich.“
16
Anhang I der Verordnung Nr. 1371/2007 enthält einen Auszug aus den ER CIV.
17
Kapitel II („Haftung bei Nichteinhaltung des Fahrplans“) von Titel IV der ER CIV enthält
als einzigen Artikel den Art. 32, der lautet:
„(1) Der Beförderer haftet dem Reisenden für den Schaden, der dadurch entsteht, dass
die Reise wegen Ausfall, Verspätung oder Versäumnis des Anschlusses nicht am selben
Tag fortgesetzt werden kann oder dass unter den gegebenen Umständen eine
Fortsetzung am selben Tag nicht zumutbar ist. Der Schadensersatz umfasst die dem
Reisenden im Zusammenhang mit der Übernachtung und mit der Benachrichtigung der
ihn erwartenden Personen entstandenen angemessenen Kosten.
(2) Der Beförderer ist von dieser Haftung befreit, wenn der Ausfall, die Verspätung
oder das Anschlussversäumnis auf eine der folgenden Ursachen zurückzuführen ist:
a) außerhalb des Eisenbahnbetriebes liegende Umstände, die der Beförderer trotz
Anwendung der nach Lage des Falles gebotenen Sorgfalt nicht vermeiden und
deren Folgen er nicht abwenden konnte,
b) Verschulden des Reisenden oder
c) Verhalten eines Dritten, das der Beförderer trotz Anwendung der nach Lage des
Falles gebotenen Sorgfalt nicht vermeiden und dessen Folgen er nicht abwenden
konnte; ein anderes Unternehmen, das dieselbe Eisenbahninfrastruktur benutzt, gilt
nicht als Dritter; Rückgriffsrechte bleiben unberührt.
(3) Ob und inwieweit der Beförderer für andere als die in Absatz 1 vorgesehenen
Schäden Ersatz zu leisten hat, richtet sich nach Landesrecht. Artikel 44 bleibt unberührt.“
Österreichisches Recht
18
§ 22a Abs. 1 des Bundesgesetzes über Eisenbahnen, Schienenfahrzeuge auf
Eisenbahnen und den Verkehr auf Eisenbahnen (Eisenbahngesetz 1957 – EisbG, BGBl.
Nr. 60/1957) in geänderter Fassung (BGBl. I Nr. 25/2010) sieht vor:
„Die Tarife für die Erbringung von Eisenbahnverkehrsleistungen auf Hauptbahnen und
vernetzten Nebenbahnen haben auch Entschädigungsbedingungen jeweils zur
vernetzten Nebenbahnen haben auch Entschädigungsbedingungen jeweils zur
Anwendung der Regelungen über die Fahrpreisentschädigung gemäß § 2 des
Bundesgesetzes zur Verordnung … Nr. 1371/2007 … und gemäß Art. 17 der
Verordnung … Nr. 1371/2007 … zu enthalten.“
19
In § 78b Abs. 2 EisbG heißt es:
„Die Schienen-Control Kommission hat von Amts wegen:
2. die Entschädigungsbedingungen nach der Verordnung … Nr. 1371/2007 ganz
oder teilweise für unwirksam zu erklären, wenn sie das Eisenbahnverkehrsunternehmen
nicht nach den Kriterien des Art. 17 der Verordnung … Nr. 1371/2007 festsetzt.“
20
§ 167 Nr. 1 EisbG bestimmt, dass eine Verwaltungsübertretung begeht und von der
Bezirksverwaltungsbehörde mit einer Geldstrafe bis zu 2 180 Euro zu bestrafen ist, wer
keine Entschädigungsbedingungen gemäß § 22a Abs. 1 dieses Gesetzes veröffentlicht.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
21
ÖBB-Personenverkehr ist ein Eisenbahnunternehmen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der
Verordnung Nr. 1371/2007.
22
Da die Bedingungen für die Fahrpreisentschädigung, die dieses Unternehmen in
seinen mit den Reisenden geschlossenen Beförderungsverträgen anwendet, nach
Ansicht der Schienen-Control Kommission nicht mit Art. 17 der Verordnung Nr.
1371/2007 im Einklang stehen, gab sie ÖBB-Personenverkehr mit Bescheid vom 6.
Dezember 2010 auf, diese Bedingungen zu ändern.
23
Die Schienen-Control Kommission ordnete u. a. die Streichung einer Klausel an, nach
der ein Anspruch auf Entschädigung oder Ersatz von Kosten aufgrund von
Zugverspätungen in folgenden Fällen nicht besteht:
– bei Verschulden des Reisenden;
– bei Verhalten eines Dritten, das der Beförderer trotz Anwendung der nach Lage
des Falles notwendigen Sorgfalt nicht vermeiden und dessen Folgen er nicht
abwenden konnte;
– bei Vorliegen eines außerhalb des Eisenbahnbetriebs liegenden Umstands, den
der Beförderer trotz Anwendung der nach Lage des Falles notwendigen Sorgfalt
nicht vermeiden und dessen Folgen er nicht abwenden konnte;
– bei Verkehrsbeschränkungen infolge Streiks, wenn der Reisende hierüber
angemessen informiert wurde;
– wenn die Verspätung auf Verkehrsleistungen zurückzuführen ist, die nicht Teil des
Beförderungsvertrags sind.
24
Gegen diesen Bescheid erhob ÖBB-Personenverkehr Beschwerde an den
24
Gegen diesen Bescheid erhob ÖBB-Personenverkehr Beschwerde an den
Verwaltungsgerichtshof.
25
Das Unternehmen macht geltend, zum einen sei die Schienen-Control Kommission
nicht befugt, eine Änderung seiner Allgemeinen Geschäftsbedingungen anzuordnen,
und zum anderen gehe aus der Verordnung Nr. 1371/2007 hervor, dass die
Eisenbahnunternehmen von der Pflicht zur Entschädigung der Fahrgäste befreit seien,
wenn die Verspätung auf höherer Gewalt beruhe. Insoweit macht ÖBB-Personenverkehr
insbesondere geltend, dass Art. 15 der Verordnung auf Art. 32 der ER CIV verweise, so
dass die in der letztgenannten Vorschrift angeführten Fälle einer Haftungsbefreiung auch
im Rahmen von Art. 17 der Verordnung gälten.
26
Hingegen vertritt die Schienen-Control Kommission die Ansicht, dass sich die
Anordnung an ein Eisenbahnunternehmen, bestimmte Entschädigungsbedingungen zu
verwenden oder die Verwendung von Beförderungsbedingungen zu unterlassen, die die
in der Verordnung Nr. 1371/2007 festgelegten Fahrgastrechte beschränkten, unmittelbar
auf Art. 30 Abs. 1 der Verordnung stützen könne. Außerdem sei Art. 17 der Verordnung
abschließend. Ein Eisenbahnunternehmen, das nach Art. 6 Abs. 1 der Verordnung seine
Verpflichtungen weder beschränken noch sich gegenüber den Fahrgästen davon
befreien könne, könne dies folglich im Rahmen von Art. 17 ebenso wenig tun, Fälle
höherer Gewalt eingeschlossen.
27
Unter diesen Umständen hat der Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren
auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 30 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1371/2007 dahin auszulegen,
dass die für die Durchsetzung dieser Verordnung benannte nationale Stelle befugt
ist, einem Eisenbahnunternehmen, dessen Entschädigungsbedingungen für die
Fahrpreisentschädigung nicht den in Art. 17 dieser Verordnung festgelegten
Kriterien
entsprechen,
den
konkreten
Inhalt
der
von
diesem
Eisenbahnunternehmen
zu
verwendenden
Entschädigungsbedingungen
verbindlich vorzuschreiben, auch wenn das nationale Recht ihr lediglich die
Möglichkeit einräumt, derartige Entschädigungsbedingungen für unwirksam zu
erklären?
2. Ist Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 dahin auszulegen, dass ein
Eisenbahnunternehmen
die
Verpflichtung
zur
Leistung
von
Fahrpreisentschädigungen in Fällen höherer Gewalt ausschließen darf, dies
entweder in analoger Anwendung der in den Verordnungen (EG) Nr. 261/2004 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine
gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste
im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von
Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1), (EU)
Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November
2010 über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr und zur Änderung
der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 (ABl. L 334, S. 1) oder (EU) Nr. 181/2011 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 über die
Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr.
2006/2004 (ABl. L 55, S. 1) vorgesehenen Ausschlussgründe oder durch
Heranziehung der Haftungsbefreiungen, wie sie in Art. 32 Abs. 2 der ER CIV
enthalten sind, auch für Fälle der Fahrpreisentschädigung?
Zu den Vorlagefragen
Zur zweiten Frage
28
Mit seiner zweiten Frage, die zuerst zu beantworten ist, möchte das vorlegende Gericht
wissen, ob Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 dahin auszulegen ist, dass ein
Eisenbahnunternehmen berechtigt ist, in seine Allgemeinen Beförderungsbedingungen
eine Klausel aufzunehmen, wonach es von seiner Pflicht zur Fahrpreisentschädigung
bei Verspätungen befreit ist, wenn die Verspätung auf höherer Gewalt oder einem der in
Art. 32 Abs. 2 der ER CIV angeführten Gründe beruht.
29
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1371/2007
Mindestentschädigungen vorsieht, die die Fahrgäste bei Verspätungen von den
Eisenbahnunternehmen verlangen können und deren Höhe sich nach dem Preis der
Fahrkarte richtet.
30
Nach Art. 17 Abs. 4 dieser Verordnung haben die Fahrgäste jedoch keinen Anspruch
auf Entschädigung, wenn sie bereits vor dem Kauf ihrer Fahrkarte über eine Verspätung
informiert wurden oder wenn die Verspätung weniger als 60 Minuten beträgt. Außerdem
werden nach Art. 17 Abs. 1 letzter Unterabsatz der Verordnung Verspätungen, für die das
Eisenbahnunternehmen nachweisen kann, dass sie außerhalb des räumlichen
Geltungsbereichs des EG-Vertrags eingetreten sind, bei der Berechnung der
Verspätungsdauer nicht berücksichtigt.
31
Hingegen ist in keiner Vorschrift der Verordnung Nr. 1371/2007 vorgesehen, dass
Eisenbahnunternehmen von der in Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung festgelegten
Entschädigungspflicht befreit sind, wenn die Verspätung auf höherer Gewalt beruht.
32
Allerdings sieht Art. 15 der Verordnung Nr. 1371/2007 vor, dass die Haftung der
Eisenbahnunternehmen für Verspätungen, verpasste Anschlüsse und Zugausfälle
vorbehaltlich der Art. 16 bis 18 dieser Verordnung in Art. 32 der ER CIV geregelt ist.
33
Wie aus dem 14. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1371/2007 hervorgeht, hielt es
der Unionsgesetzgeber nämlich für wünschenswert, dass die Regelung für die
Entschädigung von Fahrgästen bei Verspätungen auf der gleichen Grundlage beruht wie
das internationale System im Rahmen des COTIF, zu dem die ER CIV gehören.
34
Nach Art. 32 Abs. 1 der ER CIV haftet das Eisenbahnbeförderungsunternehmen dem
Reisenden für den Schaden, der dadurch entsteht, dass die Reise wegen Ausfall,
Verspätung eines Zugs oder Versäumnis des Anschlusses nicht am selben Tag
fortgesetzt werden kann. Der Schadensersatz, den der Fahrgast unter diesen Umständen
beanspruchen kann, umfasst die dem Reisenden im Zusammenhang mit der
Übernachtung und mit der Benachrichtigung der ihn erwartenden Personen
entstandenen angemessenen Kosten.
35
Art. 32 Abs. 2 der ER CIV nennt Gründe für eine Befreiung des Beförderers von der in
dieser Vorschrift festgelegten Haftung.
36
In diesem Zusammenhang fragt das vorlegende Gericht erstens, ob ein
Eisenbahnbeförderungsunternehmen unter den in Art. 32 Abs. 2 angeführten Umständen
berechtigt ist, sich von seiner Pflicht zur Entschädigung des Fahrgasts nach Art. 17 der
Verordnung Nr. 1371/2007 zu befreien.
37
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich Art. 32 der ER CIV auf den Anspruch der
Fahrgäste im Eisenbahnverkehr auf Ersatz des infolge Verspätung oder Ausfall eines
Zuges entstandenen Schadens bezieht.
38
Hingegen soll die in Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 vorgesehene
Entschädigung, da sie auf der Grundlage des Preises der Fahrkarte berechnet wird, den
vom Fahrgast als Gegenleistung für eine Dienstleistung, die letztlich nicht im Einklang
mit dem Beförderungsvertrag erbracht wurde, gezahlten Preis kompensieren. Außerdem
handelt es sich dabei um einen finanziellen Ausgleich in pauschalierter und
standardisierter Form, während die in Art. 32 Abs. 1 der ER CIV vorgesehene
Haftungsregelung mit einer individualisierten Bewertung des erlittenen Schadens
verbunden ist.
39
Da der Zweck und die Durchführungsmodalitäten der oben angeführten Vorschriften
somit voneinander abweichen, kann die vom Unionsgesetzgeber in Art. 17 der
Verordnung Nr. 1371/2007 vorgesehene Entschädigungsregelung nicht der
Haftungsregelung für das Eisenbahnbeförderungsunternehmen in Art. 32 Abs. 1 der ER
CIV gleichgestellt werden.
40
Daraus folgt im Licht von Art. 15 der Verordnung Nr. 1371/2007, dass die
Entschädigung der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr nach Art. 17 dieser Verordnung
diese nicht daran hindert, überdies nach Art. 32 Abs. 1 der ER CIV oder, in Anwendung
von deren Art. 32 Abs. 3, auf der Grundlage des einschlägigen nationalen Rechts eine
Schadensersatzklage zu erheben.
41
Diese Auslegung ist im Übrigen vereinbar mit den erläuternden Bemerkungen zu den
einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale
Eisenbahnbeförderung von Personen (CIV), der im „Bericht des Zentralamtes über die
Revision des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF)
vom 9. Mai 1980 und erläuternde Bemerkungen zu den von der 5. Generalversammlung
angenommenen Texten“ vom 1. Januar 2011 enthalten ist; darin heißt es: „Verspätungen
im Reiseverkehr stellen eine typische Schlechterfüllung des Beförderungsvertrages dar.
In zahlreichen Rechtsordnungen berechtigt eine Schlechterfüllung zur Minderung der
Gegenleistung, das hieße hier des Beförderungsentgeltes.“
42
Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die in Art. 32 Abs. 2 der ER CIV
vorgesehenen Gründe für eine Haftungsbefreiung des Beförderers nicht als im Rahmen
von Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 anwendbar angesehen werden können.
43
Bestätigt wird diese Auslegung durch die Vorarbeiten zur Verordnung Nr. 1371/2007,
aus denen hervorgeht, dass sich der Unionsgesetzgeber zwar dafür entschieden hat, die
aus denen hervorgeht, dass sich der Unionsgesetzgeber zwar dafür entschieden hat, die
Bestimmungen zur Haftung der Eisenbahnunternehmen für Verspätungen, verpasste
Anschlüsse und Zugausfälle den entsprechenden Kapiteln der ER CIV anzugleichen,
doch hat er es daneben für notwendig erachtet, in dieser Verordnung besondere
Bestimmungen zur Regelung der Erstattung und der Weiterreise sowie der
Fahrpreisentschädigung und der Pflicht, Fahrgästen im Fall einer Verspätung Hilfe zu
leisten, vorzusehen.
44
Wie aber die Ablehnung einer vom Europäischen Parlament in zweiter Lesung
angenommenen Änderung, mit der klargestellt werden sollte, dass Art. 32 Abs. 2 der ER
CIV ebenfalls auf die Bestimmungen in den Art. 16 und 17 der Verordnung Nr.
1371/2007 anwendbar sei, durch den Rat der Europäischen Union zeigt, hat es der
Unionsgesetzgeber bewusst abgelehnt, eine Befreiung der Eisenbahnunternehmen von
ihrer Pflicht zur Fahrpreisentschädigung bei Verspätungen unter den in Art. 32 Abs. 2
angeführten Umständen vorzusehen.
45
Der Unionsgesetzgeber ging somit davon aus, dass das
Eisenbahnbeförderungsunternehmen eine Entschädigungspflicht in Bezug auf den
Preis, der als Gegenleistung für eine nicht im Einklang mit dem Beförderungsvertrag
erbrachte Beförderungsleistung gezahlt wurde, auch dann trifft, wenn die Verspätung auf
einem der in Art. 32 Abs. 2 der ER CIV angeführten Gründe beruht.
46
Zweitens fragt das vorlegende Gericht, ob die in den Verordnungen Nrn. 261/2004,
1177/2010 und 181/2011 für die Beförderung von Reisenden im Flug-, Schiffs- und
Kraftomnibusverkehr vorgesehenen Gründe für den Ausschluss der Haftung des
Beförderers für die Beförderung im Eisenbahnverkehr analog gelten könnten.
47
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die jeweilige Lage der in den verschiedenen
Verkehrssektoren tätigen Unternehmen nicht miteinander vergleichbar ist, da die
einzelnen Beförderungsformen unter Berücksichtigung ihrer Funktionsweise, ihrer
Zugänglichkeit und der Aufteilung ihrer Netze hinsichtlich ihrer Nutzungsbedingungen
nicht austauschbar sind. Unter diesen Umständen war der Unionsgesetzgeber
berechtigt, Vorschriften aufzustellen, die ein unterschiedliches Verbraucherschutzniveau
vorsehen, je nachdem, welcher Verkehrssektor betroffen ist (Urteil vom 31. Januar 2013,
McDonagh, C‑12/11, Randnrn. 56 und 57).
48
Demnach können die im Unionsrecht für die anderen Beförderungsformen
vorgesehenen Ausschlussgründe nicht analog auf die Beförderung im Eisenbahnverkehr
angewandt werden.
49
Ebenso wenig kann dem Vorbringen gefolgt werden, wonach der allgemeine
unionsrechtliche Grundsatz in Bezug auf höhere Gewalt unter Umständen wie denen des
Ausgangsverfahrens Anwendung finden müsse, mit der Folge, dass ein
Eisenbahnbeförderungsunternehmen
berechtigt
sei,
die
Zahlung
einer
Fahrpreisentschädigung an die betroffenen Fahrgäste bei Verspätungen aufgrund
höherer Gewalt zu verweigern.
50
Weder höhere Gewalt noch ein anderer vergleichbarer Umstand werden nämlich in
Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 oder einer anderen, für die Auslegung dieses
Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 oder einer anderen, für die Auslegung dieses
Artikels relevanten Vorschrift der Verordnung erwähnt.
51
Unter diesen Umständen hätte eine abweichende Auslegung von Art. 17 der
Verordnung Nr. 1371/2007 zur Folge, dass das mit ihr verfolgte und in ihren
Erwägungsgründen 1 bis 3 angesprochene wesentliche Ziel des Schutzes der Rechte
der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr in Frage gestellt würde.
52
Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 17 der Verordnung Nr.
1371/2007 dahin auszulegen ist, dass ein Eisenbahnunternehmen nicht berechtigt ist, in
seine Allgemeinen Beförderungsbedingungen eine Klausel aufzunehmen, wonach es
von seiner Pflicht zur Fahrpreisentschädigung bei Verspätungen befreit ist, wenn die
Verspätung auf höherer Gewalt oder einem der in Art. 32 Abs. 2 der ER CIV angeführten
Gründe beruht.
Zur ersten Frage
53
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 30 Abs. 1
Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1371/2007 dahin auszulegen ist, dass die für die
Durchsetzung dieser Verordnung benannte nationale Stelle im Fall des Fehlens einer
dahin gehenden nationalen Rechtsvorschrift einem Eisenbahnunternehmen, dessen
Entschädigungsbedingungen für die Fahrpreisentschädigung nicht den in Art. 17 der
Verordnung festgelegten Kriterien entsprechen, den konkreten Inhalt dieser
Bedingungen vorschreiben darf.
54
Es ist nämlich der Ansicht, dass Art. 78b Abs. 2 EisbG, wonach die Schienen-Control
Kommission Entschädigungsbedingungen, die Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007
nicht entsprechen, für unwirksam zu erklären hat, die Wahrung der Rechte der Fahrgäste
im Eisenbahnverkehr nicht in allen Fällen ermögliche.
55
Insbesondere könnte nicht gewährleistet werden, dass die Fahrgäste im
Eisenbahnverkehr in den Genuss der in Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr.
1371/2007 vorgesehenen Entschädigungsbedingungen kommen, wenn die betreffenden
Klauseln für nichtig erklärt würden, ohne dass sich daran die erforderlichen Änderungen
zur Herbeiführung ihrer Vereinbarkeit mit der genannten Bestimmung anschlössen.
56
Vor diesem Hintergrund ist die erste Frage des vorlegenden Gerichts dahin zu
verstehen, dass es wissen möchte, ob sich die Schienen-Control Kommission in
Anbetracht der begrenzten Befugnisse, über die sie nach österreichischem Recht verfügt,
unmittelbar auf Art. 30 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1371/2007 stützen kann, um
Maßnahmen zu erlassen, mit denen die Wahrung der Rechte der Fahrgäste im
Eisenbahnverkehr gewährleistet werden soll.
57
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen einer Verordnung aufgrund
ihrer Rechtsnatur und ihrer Funktion im Rechtsquellensystem des Unionsrechts im
Allgemeinen unmittelbare Wirkung in den nationalen Rechtsordnungen haben, ohne
dass die nationalen Behörden Durchführungsmaßnahmen ergreifen müssten (Urteil vom
28. Oktober 2010, SGS Belgium u. a., C‑367/09, Slg. 2010, I‑10761, Randnr. 32 und die
dort angeführte Rechtsprechung).
58
Allerdings können manche Bestimmungen einer Verordnung zu ihrer Durchführung des
Erlasses entsprechender Maßnahmen seitens der Mitgliedstaaten bedürfen (vgl. Urteil
SGS Belgium, Randnr. 33).
59
Im vorliegenden Fall sieht Art. 30 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1371/2007 vor, dass die für
die Durchsetzung dieser Verordnung zuständige nationale Stelle die notwendigen
Maßnahmen ergreifen muss, um sicherzustellen, dass die Rechte der Fahrgäste gewahrt
werden.
60
Gleichwohl ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber die konkreten Maßnahmen,
zu deren Erlass diese Stelle befugt sein soll, nicht festgelegt hat.
61
Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 30 Abs. 1
Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 1371/2007 verpflichtet sind, der Kommission die
Zuständigkeiten dieser Stelle mitzuteilen.
62
Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Art. 30 Abs. 1 der Verordnung Nr.
1371/2007 zu seiner Durchführung den Erlass von Durchführungsmaßnahmen seitens
der Mitgliedstaaten erfordert, mit denen die Befugnisse der nationalen Kontrollstelle
festgelegt werden.
63
Demnach kann Art. 30 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1371/2007 entgegen der
Auffassung der Schienen-Control Kommission nicht als Rechtsgrundlage verstanden
werden, die die nationalen Stellen ermächtigte, den Eisenbahnunternehmen den
konkreten Inhalt ihrer die Entschädigungsbedingungen betreffenden Vertragsklauseln
vorzuschreiben.
64
Dessen ungeachtet ist es nach Art. 4 Abs. 3 EUV Aufgabe aller Stellen der
Mitgliedstaaten, einschließlich der Gerichte, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten
die geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen zu ergreifen, die sich aus
der Verordnung Nr. 1371/2007 ergeben. Um deren volle Wirksamkeit zu gewährleisten
und den Schutz der Rechte sicherzustellen, die sie dem Einzelnen einräumt, sind diese
Stellen verpflichtet, das nationale Recht so weit wie möglich im Licht des Wortlauts und
des Zwecks der Verordnung auszulegen und anzuwenden, um das mit ihr angestrebte
Ergebnis zu erreichen.
65
In Anbetracht der in den Erwägungsgründen 1 bis 3 der Verordnung Nr. 1371/2007
genannten Ziele sind die einschlägigen Vorschriften des österreichischen Rechts,
einschließlich derjenigen, die die bei einem Verstoß gegen die Verordnung
anwendbaren Sanktionen regeln, im vorliegenden Fall dahin auszulegen und
anzuwenden, dass sie mit dem Erfordernis eines hohen Schutzniveaus für die Fahrgäste
im Eisenbahnverkehr im Einklang stehen, so dass die ihnen eingeräumten Rechte
gewährleistet sind.
66
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 30 Abs. 1 Unterabs. 1 der
Verordnung Nr. 1371/2007 dahin auszulegen ist, dass die für die Durchsetzung dieser
Verordnung benannte nationale Stelle im Fall des Fehlens einer dahin gehenden
nationalen
Rechtsvorschrift
einem
Eisenbahnunternehmen,
dessen
Entschädigungsbedingungen für die Fahrpreisentschädigung nicht den in Art. 17 der
Verordnung festgelegten Kriterien entsprechen, nicht den konkreten Inhalt dieser
Bedingungen vorschreiben darf.
Kosten
67
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem
bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher
Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen
vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
1
. Art. 30 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über die
Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr ist dahin
auszulegen, dass die für die Durchsetzung dieser Verordnung benannte
nationale Stelle im Fall des Fehlens einer dahin gehenden nationalen
Rechtsvorschrift
einem
Eisenbahnunternehmen,
dessen
Entschädigungsbedingungen für die Fahrpreisentschädigung nicht den in
Art. 17 der Verordnung festgelegten Kriterien entsprechen, nicht den
konkreten Inhalt dieser Bedingungen vorschreiben darf.
2
. Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 ist dahin auszulegen, dass ein
Eisenbahnunternehmen nicht berechtigt ist, in seine Allgemeinen
Beförderungsbedingungen eine Klausel aufzunehmen, wonach es von seiner
Pflicht zur Fahrpreisentschädigung bei Verspätungen befreit ist, wenn die
Verspätung auf höherer Gewalt oder einem der in Art. 32 Abs. 2 der
Einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale
Eisenbahnbeförderung von Personen und Gepäck zum Übereinkommen über
den Internationalen Eisenbahnverkehr vom 9. Mai 1980 in der Fassung des
Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 angeführten Gründe
beruht.
Unterschriften
Verfahrenssprache: Deutsch.