Urteil des EuGH vom 16.02.2012

Verbraucher, Regierung, Vermittler, Reiseversicherung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
16. Februar 2012
)
„Richtlinie 90/314/EWG – Pauschalreisen – Art. 7 – Schutz gegen das Risiko der
Zahlungsunfähigkeit oder des Konkurses des Pauschalreiseveranstalters –
Geltungsbereich – Zahlungsunfähigkeit des Veranstalters, weil er die von den
Verbrauchern gezahlten Beträge in betrügerischer Absicht verwendet hat“
In der Rechtssache C‑134/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom
Landgericht Hamburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 2. März 2011, beim
Gerichtshof eingegangen am 18. März 2011, in dem Verfahren
Jürgen Blödel-Pawlik
gegen
HanseMerkur Reiseversicherung AG
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan sowie der Richter A. Borg Barthet
(Berichterstatter) und J.‑J. Kasel,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von Herrn Blödel-Pawlik, vertreten durch Rechtsanwalt M. Sauren,
– der HanseMerkur Reiseversicherung AG, vertreten durch Rechtsanwalt
G. Heinemann,
– der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als
Bevollmächtigte,
– der belgischen Regierung, vertreten durch T. Materne und J.‑C. Halleux als
Bevollmächtigte,
– der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als
Bevollmächtigte,
– der estnischen Regierung, vertreten durch M. Linntam als Bevollmächtigte,
– der griechischen Regierung, vertreten durch K. Paraskevopoulou und
I. Bakopoulos als Bevollmächtigte,
– der spanischen Regierung, vertreten durch S. Centeno Huerta als Bevollmächtigte,
– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im
Beistand von L. Ventrella, avvocato dello Stato,
– der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér Miklós, K. Szíjjártó und
Z. Tóth als Bevollmächtigte,
– der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch als Bevollmächtigten,
– der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar als Bevollmächtigten,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Owsiany‑Hornung und
S. Grünheid als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne
Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie
90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen (ABl. L 158, S. 59).
2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Blödel-Pawlik
und der HanseMerkur Reiseversicherung AG (im Folgenden: HanseMerkur
Reiseversicherung) über deren Weigerung, den Preis für eine Pauschalreise zu
erstatten, die vom Verbraucher bezahlt, aber vom Reiseveranstalter nicht durchgeführt
wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3
In den Erwägungsgründen 7, 18, 21 und 22 der Richtlinie 90/314 heißt es:
„Dem Fremdenverkehr kommt eine ständig wachsende Bedeutung im Wirtschaftsleben
der Mitgliedstaaten zu. Pauschalreisen bilden einen wichtigen Teil des
Fremdenverkehrs. Dieser Zweig des Reisegewerbes in den Mitgliedstaaten würde zu
stärkerem Wachstum und erhöhter Produktivität angeregt, wenn es ein Minimum an
stärkerem Wachstum und erhöhter Produktivität angeregt, wenn es ein Minimum an
gemeinsamen Regeln gäbe, um diesen Wirtschaftszweig auf Gemeinschaftsebene zu
strukturieren. …
Der Veranstalter und/oder Vermittler, der Vertragspartei ist, hat gegenüber dem
Verbraucher die Haftung für die ordnungsgemäße Erfüllung der sich aus dem Vertrag
ergebenden Verpflichtungen zu übernehmen. Ferner haben der Veranstalter und/oder
der Vermittler die Haftung für Schäden zu übernehmen, die dem Verbraucher aus der
Nichterfüllung oder der mangelhaften Erfüllung des Vertrages entstehen, es sei denn,
dass die bei der Ausführung des Vertrages festgestellten Mängel weder auf einem
Verschulden
ihrerseits
noch
auf
einem
Verschulden
eines
anderen
Dienstleistungsträgers beruhen.
Sowohl dem Verbraucher als auch der Pauschalreisebranche wäre damit gedient, wenn
der Reiseveranstalter und/oder -vermittler verpflichtet wäre, Sicherheiten für den Fall der
Zahlungsunfähigkeit oder des Konkurses nachzuweisen.
Die Mitgliedstaaten sollten die Möglichkeit haben, für den Bereich der Pauschalreisen
strengere Vorschriften zum Schutz der Verbraucher zu erlassen oder beizubehalten.“
4
Art. 1 der Richtlinie 90/314 bestimmt:
„Zweck dieser Richtlinie ist die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften
der Mitgliedstaaten über Pauschalreisen (einschließlich Pauschalurlaubsreisen und
Pauschalrundreisen), die in der Gemeinschaft verkauft oder zum Kauf angeboten
werden.“
5
Art. 4 Abs. 6 Unterabs. 1 der Richtlinie 90/314 lautet:
„Wenn der Verbraucher gemäß Absatz 5 vom Vertrag zurücktritt oder wenn der
Veranstalter – gleich aus welchem Grund, ausgenommen Verschulden des
Verbrauchers – die Reise vor dem vereinbarten Abreisetag storniert, hat der Verbraucher
folgende Ansprüche:
a) Teilnahme an einer gleichwertigen oder höherwertigen anderen Pauschalreise,
wenn der Veranstalter und/oder der Vermittler in der Lage ist, ihm eine solche
anzubieten. Ist die angebotene Pauschalreise von geringerer Qualität, so erstattet
der Veranstalter dem Verbraucher den Preisunterschied; oder
b) schnellstmögliche Erstattung aller von ihm aufgrund des Vertrages gezahlten
Beträge.“
6
Art. 5 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 90/314 sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit der Veranstalter
und/oder Vermittler, der Vertragspartei ist, gegenüber dem Verbraucher die Haftung für
die ordnungsgemäße Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen unabhängig davon
die ordnungsgemäße Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen unabhängig davon
übernimmt, ob er selbst oder andere Dienstleistungsträger diese Verpflichtungen zu
erfüllen haben, wobei das Recht des Veranstalters und/oder Vermittlers, gegen andere
Dienstleistungsträger Rückgriff zu nehmen, unberührt bleibt.
(2) Die Mitgliedstaaten treffen hinsichtlich der Schäden, die dem Verbraucher aus der
Nichterfüllung oder einer mangelhaften Erfüllung des Vertrages entstehen, die
erforderlichen Maßnahmen, damit der Veranstalter und/oder der Vermittler die Haftung
übernimmt, es sei denn, dass die Nichterfüllung oder die mangelhafte Erfüllung weder
auf ein Verschulden des Veranstalters und/oder Vermittlers noch auf ein Verschulden
eines anderen Dienstleistungsträgers zurückzuführen ist …“
7
Art. 7 der Richtlinie 90/314 bestimmt:
„Der Veranstalter und/oder Vermittler, der Vertragspartei ist, weist nach, dass im Fall der
Zahlungsunfähigkeit oder des Konkurses die Erstattung gezahlter Beträge und die
Rückreise des Verbrauchers sichergestellt sind.“
8
Art. 8 der Richtlinie 90/314 lautet:
„Die Mitgliedstaaten können in dem unter diese Richtlinie fallenden Bereich strengere
Vorschriften zum Schutze des Verbrauchers erlassen oder aufrechterhalten.“
Deutsches Recht
9
§ 651k Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, mit dem Art. 7 der Richtlinie
90/314 in deutsches Recht umgesetzt wurde, bestimmt:
„Der Reiseveranstalter hat sicherzustellen, dass den Reisenden erstattet werden:
1. der gezahlte Reisepreis, soweit Reiseleistungen infolge Zahlungsunfähigkeit oder
Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Reiseveranstalters
ausfallen …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
10
Herr Blödel-Pawlik buchte am 4. August 2009 für sich und seine Ehefrau eine
Pauschalreise bei der Rhein Reisen GmbH (im Folgenden: Rhein Reisen), die als
Reiseveranstalter
mit
der
HanseMerkur
Reiseversicherung
einen
Insolvenzversicherungsvertrag mit Vertragsbeginn am 1. August 2009 abgeschlossen
hatte.
11
Rhein Reisen überreichte Herrn Blödel-Pawlik zwei Sicherungsscheine, in denen
bestätigt wurde, dass ihm der gezahlte Reisepreis erstattet werde, soweit
Reiseleistungen infolge Zahlungsunfähigkeit des Reiseveranstalters ausfallen sollten.
12
Vor Beginn der Reise teilte Rhein Reisen Herrn Blödel-Pawlik mit, dass sie gezwungen
sei, Insolvenz anzumelden.
13
Aus den Akten geht hervor, dass Rhein Reisen, vertreten durch einen
Alleingeschäftsführer, in Wirklichkeit keineswegs die Absicht hatte, die betreffende Reise
durchzuführen. Sowohl die Chronologie der Ereignisse als auch die Aufstellung der
Buchungen auf dem Bankkonto dieses Reiseveranstalters sollen ein betrügerisches
Verhalten des Veranstalters erkennen lassen.
14
In diesem Zusammenhang verlangte Herr Blödel-Pawlik von der HanseMerkur
Reiseversicherung die Erstattung des Reisepreises, den er gezahlt hatte.
15
Die HanseMerkur Reiseversicherung macht jedoch geltend, dass sie eine solche
Erstattung nicht vornehmen müsse, da der Fall, dass die Ursache des Reiseausfalls
ausschließlich im betrügerischen Verhalten des Reiseveranstalters liege, nicht von Art. 7
der Richtlinie 90/314 erfasst werde.
16
Das vorlegende Gericht hat ebenfalls Zweifel, ob die Richtlinie 90/314 Verbraucher vor
betrügerischen Machenschaften von Reiseveranstaltern schützen soll.
17
Da das Landgericht Hamburg der Auffassung ist, dass die Entscheidung des bei ihm
anhängigen Rechtsstreits von der Auslegung der Richtlinie 90/314 abhängt, hat es das
Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung
vorgelegt:
Ist Art. 7 der Richtlinie 90/314 auch dann anzuwenden, wenn der Reiseveranstalter
deshalb zahlungsunfähig wird, weil er die von den Reisenden vereinnahmten Gelder in
von Anfang an betrügerischer Absicht in voller Höhe zweckfremd verwendet hat und eine
Durchführung der Reise nie geplant war?
Zur Vorlagefrage
18
Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 90/314
dahin auszulegen ist, dass ein Sachverhalt, bei dem die Zahlungsunfähigkeit des
Reiseveranstalters auf dessen betrügerisches Verhalten zurückzuführen ist, in den
Geltungsbereich dieses Artikels fällt.
19
Dazu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Art. 7 der Richtlinie 90/314 dem
Reiseveranstalter die Verpflichtung auferlegt, für den Fall der Zahlungsunfähigkeit oder
des Konkurses die Erstattung gezahlter Beträge und die Rückreise des Verbrauchers
sicherzustellen; diese Sicherstellung bezweckt den Schutz des Verbrauchers gegen die
mit der Zahlungsunfähigkeit oder dem Konkurs des Reiseveranstalters verbundenen
wirtschaftlichen Risiken (vgl. Urteil vom 8. Oktober 1996, Dillenkofer u. a., C‑178/94,
C‑179/94 und C‑188/94 bis C‑190/94, Slg. 1996, I‑4845, Randnrn. 34 und 35).
20
Somit besteht der wesentliche Zweck dieser Bestimmung darin, zu garantieren, dass
die Rückreise des Verbrauchers und die Erstattung der von diesem gezahlten Beträge
für den Fall der Zahlungsunfähigkeit oder des Konkurses des Reiseveranstalters
sichergestellt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Dillenkofer u. a., Randnrn. 35 und 36).
21
Diese Garantie ist jedoch nach dem Wortlaut von Art. 7 der Richtlinie 90/314 an keine
bestimmte Voraussetzung in Bezug auf die Ursachen der Zahlungsunfähigkeit des
Reiseveranstalters geknüpft.
Reiseveranstalters geknüpft.
22
Der Gerichtshof hat dazu in Randnr. 74 des Urteils vom 15. Juni 1999, Rechberger u. a.
(C‑140/97, Slg. 1999, I‑3499), festgestellt, dass Art. 7 der Richtlinie die Erfolgspflicht
aufstellt, den Pauschalreisenden für den Fall der Zahlungsunfähigkeit oder des
Konkurses des Reiseveranstalters ein Recht auf die Erstattung gezahlter Beträge und
auf Rückreise zu verleihen, und dass diese Garantie speziell dazu bestimmt ist, den
Verbraucher gegen die Folgen des Konkurses – unabhängig von seinen Ursachen – zu
schützen.
23
Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass Umstände wie das fahrlässige Verhalten
des Reiseveranstalters oder der Eintritt außergewöhnlicher oder unvorhersehbarer
Ereignisse der Erstattung der gezahlten Beträge und der Rückreise des Verbrauchers
nach Art. 7 der Richtlinie 90/314 nicht entgegenstehen könnten (vgl. Urteil Rechberger
u. a., Randnrn. 75 und 76).
24
Im Übrigen wird eine solche Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 90/314 durch das mit
dieser Richtlinie angestrebte Ziel bestätigt, nämlich ein hohes Niveau des
Verbraucherschutzes zu gewährleisten (vgl. Urteil Dillenkofer u. a., Randnr. 39).
25
Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass
Art. 7 der Richtlinie 90/314 dahin auszulegen ist, dass ein Sachverhalt, bei dem die
Zahlungsunfähigkeit des Reiseveranstalters auf dessen betrügerisches Verhalten
zurückzuführen ist, in den Geltungsbereich dieses Artikels fällt.
Kosten
26
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem
bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher
Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen
vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 7 der Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen
ist dahin auszulegen, dass ein Sachverhalt, bei dem die Zahlungsunfähigkeit des
Reiseveranstalters auf dessen betrügerisches Verhalten zurückzuführen ist, in den
Geltungsbereich dieses Artikels fällt.
Unterschriften
Verfahrenssprache: Deutsch.