Urteil des EuG vom 12.11.2013

Grundsatz der Gleichbehandlung, Verkehr, Verordnung, Irrtum

URTEIL DES GERICHTS (Dritte Kammer)
12. November 2013
)
„Zollunion – Einfuhr von Pilzkonserven aus China – Beschluss, mit dem festgestellt wird,
dass es nicht gerechtfertigt ist, die Einfuhrabgaben zu erlassen – Art. 220 Abs. 2
Buchst. b und Art. 239 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 – Erkennbarer Irrtum der
Zollbehörden – Offensichtliche Fahrlässigkeit des Einführers – Vertrauensschutz –
Verhältnismäßigkeit – Ordnungsgemäße Verwaltung – Gleichbehandlung“
In der Rechtssache T‑147/12
Wünsche Handelsgesellschaft International mbH & Co. KG
(Deutschland), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte K. Landry und G. Schwendinger,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission,
Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung des Beschlusses K(2011) 6393 endgültig der Kommission vom
16. September 2011, mit dem festgestellt wird, dass es nicht gerechtfertigt ist, die
Einfuhrabgaben in einem bestimmten Fall zu erlassen,
erlässt
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten O. Czúcz, der Richterin I. Labucka (Berichterstatterin)
und des Richters D. Gratsias,
Kanzler: K. Andová, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. April
2013
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1
Über viele Jahre, u. a. im Zeitraum von Dezember 2004 bis Dezember 2006, bezog die
Klägerin, die Wünsche Handelsgesellschaft International mbH & Co. KG, Konserven von
Pilzen der Gattung Agaricus mit Ursprung in China.
2
Bei der Ankunft der Pilzkonserven in Deutschland meldete die Klägerin die Pilze zum
Zolllagerverfahren an. Hierbei legte sie für die Pilze nichtpräferenzielle
Ursprungszeugnisse, sogenannte Agrarursprungszeugnisse, vor.
3
Nach der Gestellung der Pilze und der nachfolgenden Annahme der Anmeldungen
durch die zuständigen Zollbehörden überführte die Klägerin die Pilze ins
Zolllagerverfahren. Zum Zeitpunkt der Annahme der Anmeldungen waren die
vorgelegten Agrarursprungszeugnisse noch gültig.
4
In weiterer Folge beendete die Klägerin zu späteren Zeitpunkten das Zolllagerverfahren,
indem sie Teile der Pilzsendungen in den freien Verkehr überführte.
5
Anlässlich dieser Überführungen in den freien Verkehr beantragte die Klägerin die
Anwendung des gegenüber dem normalen Drittlandsatz günstigeren Kontingentsatzes
aufgrund des Kontingents nach der Verordnung (EG) Nr. 2125/95 der Kommission vom
6. September 1995 zur Eröffnung und Verwaltung von Zollkontingenten für Konserven
von Pilzen der Gattung Agaricus (ABl. L 212, S. 16) bzw., ab dem 1. Januar 2005,
innerhalb des Kontingents nach der Verordnung (EG) Nr. 1864/2004 der Kommission
vom 26. Oktober 2004 zur Eröffnung und Verwaltung von Zollkontingenten für aus
Drittländern eingeführte Pilzkonserven (ABl. L 325, S. 30). Die zollrechtliche
Abgabenbelastung für die entnommenen Teile der Pilzsendungen wurde sodann nach
dem Kontingentsatz festgesetzt.
6
Mit Wirkung vom 1. Januar 2007 wurde die Verordnung Nr. 1864/2004 durch die
Verordnung (EG) Nr. 1979/2006 der Kommission vom 22. Dezember 2006 zur Eröffnung
und Verwaltung von Zollkontingenten für aus Drittländern eingeführte Pilzkonserven
(ABl. L 368, S. 91) aufgehoben. Wie die Vorgängerverordnungen verlangte diese
Verordnung die Vorlage eines gültigen Agrarursprungszeugnisses zur Geltendmachung
des Kontingentsatzes bei der Abfertigung von Pilzkonserven mit Ursprung in China.
Nacherhebungsverfahren der deutschen Zollbehörden
7
Im Rahmen eines Nacherhebungsverfahrens gegenüber der Klägerin erließ das
Hauptzollamt Hamburg-Stadt am 1. und 2. Februar 2007 Einfuhrabgabenbescheide für
die im Zeitraum von Dezember 2004 bis Dezember 2006 vorgenommenen
Überführungen in den freien Verkehr von jenen Teilen der Pilzsendungen, bei denen die
vorgelegten Agrarursprungszeugnisse zum Zeitpunkt der Annahme der Anmeldung zur
Überführung in den freien Verkehr nicht mehr gültig waren.
8
Die in den Einfuhrabgabenbescheiden vorgeschriebenen Beträge entsprechen der
Differenz zwischen dem zunächst bei Überführungen in den freien Verkehr erhobenen
Kontingentsatz und dem normalen Drittlandzollsatz. Als Begründung wurde in den
Bescheiden angeführt, dass die Gültigkeit der entsprechenden Agrarursprungszeugnisse
zum Zeitpunkt der Überführungen in den freien Verkehr eine Voraussetzung für die
zum Zeitpunkt der Überführungen in den freien Verkehr eine Voraussetzung für die
Inanspruchnahme des Kontingentsatzes gewesen sei. Aufgrund des Ablaufs der
Gültigkeit dieser Zeugnisse vor dem Zeitpunkt der Überführungen in den freien Verkehr
sei der Kontingentsatz zu Unrecht gewährt worden.
9
Die Klägerin erhob zunächst, am 15. Februar 2007, Einspruch gegen die Bescheide
und dann, am 15. Oktober 2007, beim Finanzgericht Hamburg Klage gegen den
Einfuhrabgabenbescheid, für den der Einspruch bereits zurückgewiesen worden war. Im
Einspruch und in der Klage machte die Klägerin im Wesentlichen geltend, wie sich aus
dem anwendbaren Unionsrecht ergebe, sei es zur Erlangung des Kontingentsatzes
ausreichend, wenn das entsprechende Agrarursprungszeugnis noch im Moment der
Überführung von Pilzen in das Zolllagerverfahren gültig gewesen sei; die Vorlage eines
weiterhin gültigen Agrarursprungszeugnisses zum Zeitpunkt der Überführung aus dem
Zolllager in den freien Verkehr stehe dagegen der Gewährung des Kontingentsatzes
nicht entgegen.
10
Mit der Verordnung (EG) Nr. 113/2008 der Kommission vom 6. Februar 2008 zur
Änderung der Verordnung Nr. 1979/2006 (ABl. L 33, S. 5) wurde die Bestimmung über
die Pflicht zur Vorlage eines gültigen Agrarursprungszeugnisses zur Geltendmachung
des Kontingentsatzes bei Abfertigung von Pilzkonserven mit Ursprung in China mit
Wirkung vom 10. Februar 2008 gestrichen.
11
Mit Schreiben vom 3. September 2008 erkundigte sich das Bundesministerium der
Finanzen bei der Kommission, ob es zur Anwendung des Kontingentsatzes auf
Einfuhren
von
Pilzen
ausreichend
sei,
dass
die
entsprechenden
Agrarursprungszeugnisse zum Zeitpunkt der Überführung in das Zolllagerverfahren
gültig seien, oder ob es auf die Gültigkeit der Zeugnisse zum Zeitpunkt der Überführung
in den freien Verkehr ankomme.
12
Mit Schreiben vom 6. März 2009 antwortete die Kommission, dass ein
Agrarursprungszeugnis zum Zeitpunkt der Überführung in den freien Verkehr vorzulegen
und seine Gültigkeit zu diesem Zeitpunkt festzustellen sei.
Verwaltungsverfahren vor der Kommission
13
Am 17. September 2009 übermittelte das Bundesministerium der Finanzen der
Kommission einen Antrag auf Erlass der Abgaben gemäß Art. 239 der Verordnung
(EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der
Gemeinschaften (ABl. L 302, S. 1, im Folgenden: Zollkodex).
14
Die Kommission eröffnete daraufhin am 22. Februar 2010 das Verfahren in der Sache
REM 02/09 und verlangte weitere Auskünfte vom Bundesministerium der Finanzen.
15
Mit Schreiben vom 12. Januar 2011 erteilte das Bundesministerium der Finanzen der
Kommission diese Auskünfte. Zuvor hatte es mit Schreiben vom 9. November 2010 eine
Stellungnahme der Klägerin eingeholt. Die Klägerin nahm mit Schreiben vom 30.
Dezember 2010 Stellung.
16
Nach Beurteilung dieser Auskünfte gab die Kommission der Klägerin mit Schreiben
vom 9. Juni 2011 Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit Schreiben vom 11. Juli 2011
vom 9. Juni 2011 Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit Schreiben vom 11. Juli 2011
äußerte sich diese umfassend zu der von der Kommission beabsichtigten Entscheidung.
Beschluss der Kommission
17
Am 16. September 2011 nahm die Kommission den Beschluss K(2011) 6393 an, mit
dem festgestellt wird, dass es nicht gerechtfertigt ist, die Einfuhrabgaben in einem
bestimmten Fall zu erlassen (im Folgenden: angefochtener Beschluss). Sie kam im
Wesentlichen zu dem Ergebnis, dass es nicht gerechtfertigt sei, die Einfuhrabgaben in
dem die Klägerin betreffenden Fall REM 02/09 zu erlassen. In den Randnrn. 4 und 5 des
angefochtenen Beschlusses heißt es, dass ein gültiges Agrarursprungszeugnis zum
Zeitpunkt der Überführung in den freien Verkehr vorzulegen sei.
18
In den Randnrn. 18 und 19 des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission
geprüft, ob der Erlass der nachzuerhebenden Einfuhrabgaben nach Art. 220 Abs. 2
Buchst. b des Zollkodex gerechtfertigt ist; dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass die
zuständigen Zollbehörden einen Irrtum begangen hätten. In den Randnrn. 22 und 33 des
angefochtenen Beschlusses hat die Kommission ausgeführt, dass die Klägerin nicht mit
der gebotenen Sorgfalt vorgegangen sei, da sie den Irrtum der zuständigen Zollbehörden
hätte erkennen können.
19
In Randnr. 34 des angefochtenen Beschlusses heißt es:
„Die Kommission hat alle … gemäß Artikel 220 Absatz 2 Buchstabe b [des Zollkodex]
angeführten Argumente geprüft und keine anderen Hinweise darauf gefunden, dass eine
Prüfung des Falls gemäß Artikel 239 [des Zollkodex] gerechtfertigt wäre. Davon
abgesehen gelten für die Feststellung, ob der Irrtum für einen in gutem Glauben
handelnden Wirtschaftsbeteiligten erkennbar war, dieselben Kriterien wie für die
Feststellung, ob [dieser Wirtschaftsbeteiligte] offensichtlich fahrlässig im Sinne von
Artikel 239 [des Zollkodex] gehandelt hat, weshalb es nicht erforderlich ist, den Fall
gemäß Artikel 239 [des Zollkodex] weiter zu prüfen.“
20
Am 27. Januar 2012 teilte das Hauptzollamt Hamburg-Stadt der Klägerin den
angefochtenen Beschluss mit.
Anträge der Parteien
21
Mit Klageschrift, die am 30. März 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat
die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
22
Die Klägerin beantragt,
– den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;
– der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
23
Die Kommission beantragt,
– die Klage als unbegründet abzuweisen;
– der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
24
Zunächst ist die Tragweite der vorliegenden Klage zu bestimmen. Die Kommission
äußert sich im angefochtenen Beschluss nur zu einem Ersuchen der Bundesrepublik
Deutschland. Sie beschränkt sich dabei auf die Feststellung, dass die von der Klägerin
geschuldeten Einfuhrabgaben nachzuerheben seien und ein Erlass dieser Abgaben
nicht gerechtfertigt sei. Dagegen ordnet sie im angefochtenen Beschluss nicht
unmittelbar an, dass die Klägerin 523 733,51 Euro zu zahlen habe. Im Rahmen der durch
den Zollkodex und die Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993
mit Durchführungsvorschriften zum Zollkodex (ABl. L 253, S. 1, im Folgenden:
Durchführungsverordnung) eingeführten Regelung fällt die Anwendung des materiellen
Zollrechts der Union, einschließlich der Entscheidungen über die Nacherhebung nicht
erhobener Zölle, nämlich in die ausschließliche Zuständigkeit der nationalen
Zollbehörden, deren Entscheidungen vor den nationalen Gerichten angefochten werden
können (Urteil des Gerichts vom 11. Juli 2002, Hyper/Kommission, T‑205/99, Slg. 2002,
II‑3141, Randnr. 98, und Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 25. Mai 2009,
Biofrescos/Kommission, T‑159/09 R, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht,
Randnr. 29; vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 16. Juli 1998, Kia Motors und
Broekman Motorships/Kommission, T‑195/97, Slg. 1998, II‑2907, Randnr. 36).
25
Sollte die Klägerin das Bestehen der Zollschuld in Zweifel ziehen wollen, ist daher
darauf hinzuweisen, dass eine solche Frage nach Art. 236 des Zollkodex in die
ausschließliche Zuständigkeit der nationalen Zollbehörden fällt, deren Entscheidungen
nach Art. 243 des Zollkodex vor den nationalen Gerichten angefochten werden können,
die ihrerseits den Gerichtshof anrufen können (vgl. in diesem Sinne Urteil Kia Motors und
Broekman Motorships/Kommission, oben in Randnr. 24 angeführt, Randnr. 36).
26
Folglich ist die Prüfung auf die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses zu
beschränken, und zwar im Hinblick auf die drei von der Klägerin im Wesentlichen
geltend gemachten Klagegründe: Verstoß gegen Art. 220 Abs. 2 Buchst. b des
Zollkodex, Verstoß gegen Art. 239 Abs. 1 des Zollkodex und Verstoß gegen allgemeine
Rechtsgrundsätze.
Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 220 Abs. 2 Buchst. b des Zollkodex
27
Die Klägerin vertritt die Auffassung, sie habe nach Art. 220 Abs. 2 Buchst. b des
Zollkodex Anspruch darauf, dass hinsichtlich der Differenz zwischen dem Kontingentsatz
und dem normalen Drittlandzollsatz von einer buchmäßigen Erfassung abgesehen
werde. Sie habe in gutem Glauben gehandelt und den vermeintlichen Irrtum der
deutschen Zollbehörden nicht erkennen können.
28
Hierzu ist festzustellen, dass die Zollbehörden nach Art. 220 Abs. 2 Buchst. b des
Zollkodex nur dann von der nachträglichen buchmäßigen Erfassung der Einfuhrabgaben
absehen, wenn drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Voraussetzung ist zunächst,
dass die Abgaben wegen eines Irrtums der zuständigen Behörden nicht erhoben worden
sind, sodann, dass deren Irrtum von einem gutgläubigen Abgabenschuldner nicht
sind, sodann, dass deren Irrtum von einem gutgläubigen Abgabenschuldner nicht
erkannt werden konnte, und schließlich, dass dieser alle für seine Zollerklärung
geltenden Bestimmungen beachtet hat. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, hat der
Abgabenschuldner Anspruch darauf, dass von einer Nacherhebung abgesehen wird
(vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 18. Oktober 2007, Agrover, C‑173/06, Slg. 2007, I‑8783,
Randnr. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29
Im Rahmen des ersten Klagegrundes, der aus drei Teilen besteht, ist somit zu prüfen,
ob die in Randnr. 28 des vorliegenden Urteils genannten kumulativen Voraussetzungen
erfüllt sind.
Zum ersten Teil des Klagegrundes: Einhaltung der geltenden Vorschriften über die
Zollanmeldung
30
Die Klägerin macht geltend, sie habe alle geltenden Vorschriften über die
Zollanmeldung eingehalten. Insbesondere sei ihr kein Betrug vorzuwerfen.
31
Nach der Rechtsprechung impliziert die dritte Voraussetzung von Art. 220 Abs. 2
Buchst. b des Zollkodex (Einhaltung aller geltenden Vorschriften über die
Zollanmeldung), dass der Zollanmelder den Zollbehörden alle Angaben gemacht hat, die
nach den Gemeinschaftsvorschriften und den nationalen Regeln, die diese Vorschriften
gegebenenfalls ergänzen oder umsetzen, für die beantragte Zollbehandlung erforderlich
sind. Diese Verpflichtung kann indessen nicht über die Angabe der Daten hinausgehen,
die der Abgabenschuldner vernünftigerweise kennen und sich beschaffen kann, so dass
es genügt, wenn diese Angaben, auch wenn sie unrichtig sind, in gutem Glauben
gemacht wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 14. Mai 1996, Faroe
Seafood u. a., C‑153/94 und C‑204/94, Slg. 1996, I‑2465, Randnrn. 108 ff. und die dort
angeführte Rechtsprechung).
32
Die Kommission vertritt die Auffassung, die Klägerin habe die geltenden Vorschriften
über die Zollanmeldung eingehalten, abgesehen von der Vorlage eines gültigen
Agrarursprungszeugnisses bei Überführung der Waren in den freien Verkehr zur
Geltendmachung des Kontingentsatzes. Sie habe das Agrarursprungszeugnis aber
deshalb nicht vorgelegt, weil dies in der Praxis einiger deutscher Zollbehörden nicht
verlangt worden sei. Aufgrund dieser Praxis dürfe der Klägerin die unterlassene Vorlage
des Agrarursprungszeugnisses für die Zwecke der Prüfung des möglichen Absehens
von der Erfassung nicht vorgeworfen werden.
33
Der Kommission ist beizupflichten, dass die Klägerin alle geltenden Vorschriften über
die Zollanmeldung eingehalten hat und somit die dritte Voraussetzung von Art. 220
Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 1 des Zollkodex erfüllt ist.
Zum zweiten Teil des Klagegrundes: Irrtum der deutschen Zollbehörden
34
Die Klägerin vertritt die Auffassung, die deutsche Praxis der Prüfung der Gültigkeit der
Agrarursprungszeugnisse für Waren bei Einlagerung ins Zolllager statt bei deren
Auslagerung und Überführung in den freien Verkehr sei rechtlich nicht zu beanstanden.
35
Die Kommission macht geltend, die Klägerin verschweige einerseits, dass nach Ansicht
der deutschen Zollbehörden im vorliegenden Fall eine Zollschuld bestehe, und verkenne
der deutschen Zollbehörden im vorliegenden Fall eine Zollschuld bestehe, und verkenne
andererseits die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und der
Kommission für Zweifelsfälle betreffend die Zollschuld. Die Frage nach der durch die
Abgabenbescheide festgestellten Zollschuld sei Gegenstand des parallelen nationalen
Einspruchs- und Gerichtsverfahrens vor dem Finanzgericht Hamburg.
36
Sie habe gleichwohl ermittelt, ob ein Irrtum der Zollbehörden vorliege. Sie sei davon
ausgegangen, dass einige deutsche Zollbehörden in der Praxis eine falsche
Rechtsanwendung vorgenommen hätten (vgl. Randnrn. 18 und 19 des angefochtenen
Beschlusses).
37
Hierzu ist festzustellen, dass die erste in Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 1 des
Zollkodex aufgestellte Voraussetzung für das Absehen von einer nachträglichen
buchmäßigen Erfassung der Einfuhrabgaben darin besteht, dass der gesetzlich
geschuldete Abgabenbetrag aufgrund eines Irrtums der Zollbehörden nicht buchmäßig
erfasst worden ist.
38
Erstens ist darauf hinzuweisen, dass das Hauptzollamt Hamburg-Stadt am 1. und 2.
Februar 2007 im Rahmen eines Nacherhebungsverfahrens gegenüber der Klägerin
Einfuhrabgabenbescheide für die im Zeitraum von Dezember 2004 bis Dezember 2006
vorgenommenen Überführungen in den freien Verkehr von jenen Teilen der
Pilzsendungen erließ, für die die vorgelegten Agrarursprungszeugnisse zum Zeitpunkt
der Annahme der Anmeldung zur Überführung in den freien Verkehr nicht mehr gültig
waren.
39
Die in den Einfuhrabgabenbescheiden vorgeschriebenen Beträge entsprechen der
Differenz zwischen dem zunächst bei Überführungen in den freien Verkehr erhobenen
Kontingentsatz und dem normalen Drittlandzollsatz. Als Begründung wurde in den
Bescheiden angeführt, dass die Gültigkeit der entsprechenden Agrarursprungszeugnisse
zum Zeitpunkt der Überführungen in den freien Verkehr eine Voraussetzung für die
Inanspruchnahme des Kontingentsatzes gewesen sei. Aufgrund des Ablaufs der
Gültigkeit der entsprechenden Agrarursprungszeugnisse vor dem Zeitpunkt der
Überführungen in den freien Verkehr sei der Kontingentsatz zu Unrecht gewährt worden.
40
Die Frage nach der durch die Abgabenbescheide festgestellten Zollschuld ist also nicht
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens über die Ablehnung des Erlasses der
Abgaben, sondern fällt in die ausschließliche Zuständigkeit der nationalen Zollbehörden.
Die von diesen erlassenen Entscheidungen, einschließlich der Entscheidungen über die
Nacherhebung nicht gezahlter Zölle, können nach Art. 243 des Zollkodex vor den
nationalen Gerichten angefochten werden, die ihrerseits den Gerichtshof aufgrund von
Art. 267 AEUV anrufen können (vgl. in diesem Sinne Urteil Kia Motors und Broekman
Motorships/Kommission, oben in Randnr. 24 angeführt, Randnr. 36). Die Einleitung
dieser parallelen nationalen Verfahren hat jedoch keine aufschiebende Wirkung.
41
Zweitens hat die Kommission in den Randnrn. 18 und 19 des angefochtenen
Beschlusses gleichwohl festgestellt, dass die deutschen Behörden einen Irrtum
begangen hätten. Sie hätten die Gültigkeit der Agrarursprungszeugnisse bei der
Auslagerung der Waren und deren Überführung in den freien Verkehr prüfen müssen.
Diese falsche Rechtsanwendung stelle einen Irrtum der Zollbehörden dar.
Diese falsche Rechtsanwendung stelle einen Irrtum der Zollbehörden dar.
42
Die erste Voraussetzung von Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 1 des Zollkodex
(Vorliegen eines Irrtums der Zollbehörden) ist demnach erfüllt.
Dritter Teil des Klagegrundes: Keine Erkennbarkeit des Irrtums für einen gutgläubig
handelnden Steuerschuldner
43
Die Klägerin gibt an, ihre Gutgläubigkeit sei nie bezweifelt worden; außerdem habe sie
den Irrtum der zuständigen Zollbehörden bei der Anwendung der Vorschriften zur
Gewährung des Kontingentsatzes bei der Auslagerung von Waren und deren
Überführung in den freien Verkehr vernünftigerweise nicht erkennen können.
44
Nach ständiger Rechtsprechung ist die Erkennbarkeit eines Irrtums der zuständigen
Zollbehörden unter Berücksichtigung seiner Art, der fachlichen Erfahrung der betroffenen
Wirtschaftsteilnehmer und der von ihnen aufgewandten Sorgfalt zu beurteilen (Urteile
des Gerichtshofs Faroe Seafood u. a., oben in Randnr. 31 angeführt, Randnr. 99, und
vom 14. November 2002, Ilumitrónica, C‑251/00, Slg. 2002, I‑10433, Randnr. 54).
– Zur Erfahrung der Klägerin
45
Nach ständiger Rechtsprechung ist hinsichtlich der fachlichen Erfahrung des
Wirtschaftsteilnehmers zu prüfen, ob dieser im Wesentlichen im Einfuhr- und
Ausfuhrgeschäft tätig ist und ob er bereits eine gewisse Erfahrung mit diesen Geschäften
hat (Urteile des Gerichtshofs vom 11. November 1999, Söhl & Söhlke, C‑48/98,
Slg. 1999, I‑7877, Randnr. 57, und vom 20. November 2008, Heuschen & Schrouff
Oriëntal Foods Trading/Kommission, C‑38/07 P, Slg. 2008, I‑8599, Randnr. 50).
46
Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass es sich bei der Klägerin um eine erfahrene
Wirtschaftsteilnehmerin handelt.
– Zur Art des Irrtums
47
Die Klägerin beruft sich zum einen auf die Komplexität der einschlägigen Vorschriften
und zum anderen auf Dauer und Umfang der Praxis der deutschen Zollbehörden.
48
Bei der Beurteilung der Art des Irrtums der deutschen Zollbehörden kommt es nach
ständiger Rechtsprechung darauf an, ob die in Rede stehende Regelung verwickelt oder
im Gegenteil einfach ist (Urteile des Gerichtshofs vom 16. Juli 1992, Belovo, C‑187/91,
Slg. 1992, I‑4937, Randnr. 18, und Faroe Seafood u. a., oben in Randnr. 31 angeführt,
Randnr. 100) und wie lang der Zeitraum war, in dem die Behörden in ihrem Irrtum
verharrten (Urteile des Gerichtshofs vom 12. Dezember 1996, Foods Import, C‑38/95,
Slg. 1996, I‑6543, Randnr. 30, und Ilumitrónica, oben in Randnr. 44 angeführt,
Randnr. 56).
49
Zur geltend gemachten Komplexität der in Rede stehenden Regelung ist erstens
festzustellen, dass die Klägerin vorträgt, Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2125/95 und
Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1864/2004 hätten Anlass zu
Auslegungsschwierigkeiten hinsichtlich des Zeitpunkts gegeben, zu dem die
Agrarursprungszeugnisse gültig sein müssten.
50
Folglich ist der Inhalt der einschlägigen Vorschriften zu prüfen.
51
In dem für den Sachverhalt maßgeblichen Zeitraum galt für Pilze der Gattung Agaricus
bis zum 31. Dezember 2004 die Kontingentregelung der Verordnung Nr. 2125/95.
52
Mit der Verordnung Nr. 1864/2004 wurden ab 1. Januar 2005 neue
Kontingentregelungen eingeführt und die Verordnung Nr. 2125/95 aufgehoben.
53
Allgemein enthielten Art. 2 der Verordnung Nr. 2125/95 und Art. 4 der Verordnung
Nr. 1864/2004 das gleichlautende Erfordernis der Vorlage einer Einfuhrlizenz.
54
Anhang I der Verordnung Nr. 2125/95 und Anhang I der Verordnung Nr. 1864/2004
enthielten jeweils eine Tabelle mit einer Aufstellung der Lieferländer und dem
zugehörigen Umfang der Kontingente sowie deren Geltungszeitraum. Unter den
Lieferländern war auch China aufgeführt.
55
Betreffend Einfuhren aus China besagt Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung
Nr. 2125/95:
„Die Abfertigung von Pilzen mit Ursprung in China zum freien Verkehr unterliegt den
Bestimmungen der Artikel 55 bis 65 der [Durchführungsverordnung].“
56
Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1864/2004 bestimmt mit Wirkung vom 1. Januar 2005
bis zum 31. Dezember 2006:
„Die Verbringung von Pilzkonserven mit Ursprung in China und ihre Abfertigung zum
freien Verkehr in der Gemeinschaft unterlieg[en] den Bestimmungen der Artikel 55 bis 65
der [Durchführungsverordnung].“
57
Sowohl Anhang II der Verordnung Nr. 2125/95 als auch Anhang III der Verordnung
Nr. 1864/2004 enthalten eine Liste der chinesischen Behörden, die für die Ausstellung
der benötigten Agrarursprungszeugnisse zuständig waren.
58
Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2125/95 und Art. 14 Abs. 2 der Verordnung
Nr. 1864/2004 verweisen u. a. auf den die Agrarursprungszeugnisse betreffenden Art. 56
der Durchführungsverordnung. Dessen Abs. 4 lautet:
„Unbeschadet besonderer Bestimmungen für die in Artikel 55 genannten besonderen
Einfuhrregelungen beträgt die Gültigkeit des Ursprungszeugnisses zehn Monate ab dem
Datum der Ausstellung durch die Ausstellungsbehörden.“
59
Die Verordnung Nr. 1864/2004 wurde durch die Verordnung Nr. 1979/2006, die im
vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, mit Wirkung vom 1. Januar 2007 aufgehoben.
60
Wie die Vorgängerverordnungen verlangte auch die Verordnung Nr. 1979/2006 die
Vorlage eines gültigen Agrarursprungszeugnisses zur Geltendmachung des
Kontingentsatzes bei der Abfertigung von Pilzkonserven mit Ursprung in China zum
freien Verkehr.
61
Bereits aufgrund des Wortlauts der einschlägigen Vorschriften, nämlich der Verordnung
61
Bereits aufgrund des Wortlauts der einschlägigen Vorschriften, nämlich der Verordnung
Nr. 2125/95 in der durch die Verordnung Nr. 1864/2004 geänderten Fassung und der
Verordnung Nr. 1979/2006 über die Eröffnung und Verwaltung von Zollkontingenten für
aus China eingeführte Pilzkonserven, die Durchführungsbestimmungen enthält, lässt
sich das Argument zurückzuweisen, diese Vorschriften seien komplex. Aus ihnen geht
klar hervor, dass die Regeln für den Rückgriff auf die genannten Kontingente festgelegt
waren und dass jede Überführung in den freien Verkehr von Pilzkonserven mit Ursprung
aus China die Vorlage eins gültigen Agrarursprungszeugnisses erforderte.
62
Die Klägerin kann auch mit ihrem Vorbringen keinen Erfolg haben, aus der Änderung
des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung lasse sich der vertretbare Schluss ziehen,
dass bereits die Vorlage im Rahmen des Zolllagerverfahrens ausreichend gewesen sei,
um die Frist des Art. 56 Abs. 4 der Durchführungsverordnung zu wahren, und dass die
Rechtslage auch schon unter der Verordnung Nr. 2125/95 ebenso habe ausgelegt
werden können.
63
Zweitens ergibt sich die Komplexität der in Rede stehenden Regelung nach Ansicht der
Klägerin aus dem Briefwechsel zwischen dem Bundesministerium der Finanzen und der
Kommission in den Jahren 2008 und 2009. Hierzu ist festzustellen, dass dieser
Briefwechsel keine solche Komplexität belegt.
64
Der Kommission ist darin zu folgen, dass sich aus dem in Rede stehenden Briefwechsel
ergibt, dass auf die Gültigkeit der Agrarursprungszeugnisse bei der Überführung in den
freien Verkehr abzustellen war.
65
Schon im ersten Absatz seines Schreibens vom 3. September 2008 hatte das
Bundesministerium der Finanzen nämlich klargestellt, dass es in Deutschland deshalb
zu Fehlinterpretationen gekommen sei, weil die Einfuhrlizenzen eine Gültigkeitsdauer
von zwölf Monaten, die Agrarursprungszeugnisse hingegen nur eine Gültigkeitsdauer
von zehn Monaten gehabt hätten. Im zweiten Absatz dieses Schreibens bestätigte das
Ministerium seine Ansicht, dass Agrarursprungszeugnisse nicht anerkannt werden
könnten, wenn sie zum Zeitpunkt der Auslagerung der Waren aus dem Zolllager und
ihrer Überführung in den freien Verkehr nicht mehr gültig seien. Ab dem dritten Absatz
des Schreibens scheint das Ministerium die Kommission zu bitten, eine Position
einzunehmen, mit der die Praxis einiger deutscher Zollbehörden, die Gültigkeit der
Agrarursprungszeugnisse für Waren bei Einlagerung in das Zolllager zu prüfen, doch
noch gerechtfertigt werden könnte. In ihrem Antwortschreiben vom 6. März 2009 stellt die
Kommission aber klar, dass auf die Gültigkeit der Agrarursprungszeugnisse bei der
Überführung in den freien Verkehr abzustellen ist.
66
Zum Vorbringen der Klägerin, aus dem in Rede stehenden Briefwechsel ergebe sich,
dass die Voraussetzung der Vorlage eines Agrarursprungszeugnisses aus China
problematisch gewesen und deshalb abgeschafft worden sei, hat die Kommission
erläutert, dass die genannten Agrarursprungszeugnisse ihren Zweck, eine gerechte
Aufteilung der Kontingente auf die verschiedenen Länder sicherzustellen, aufgrund des
Beitritts der anderen vom Kontingent betroffenen Länder zur Union verloren hätten. Die
Klägerin hat die Erläuterungen der Kommission also missverstanden.
67
Was das Vorbringen der Klägerin angeht, im Antwortschreiben der Kommission vom 6.
67
Was das Vorbringen der Klägerin angeht, im Antwortschreiben der Kommission vom 6.
März 2009 werde zugesagt, von den nachzuerhebenden Einfuhrabgaben aufgrund der
Komplexität der Rechtslage abzusehen, geht aus dem letzten Absatz dieses Schreibens
hervor, dass ein derartiger Erlass nur möglich wäre, wenn die entsprechenden
Voraussetzungen erfüllt sind.
68
Drittens weist die Klägerin darauf hin, dass zwischen dem Schreiben des
Bundesministeriums der Finanzen und dem Antwortschreiben der Kommission über
sechs Monate vergangen seien; dies beweise, dass die Rechtsfrage komplex sei. Dass
zwischen den beiden Schreiben sechs Monate und drei Tage liegen, ist aber für eine
öffentliche Verwaltung eine angemessene Zeit. Im Übrigen besagt diese Dauer nichts
über die Komplexität der einschlägigen Regelung.
69
Die für die streitigen Einfuhren geltenden Vorschriften, wegen deren Nichteinhaltung die
Steuerschuld entstanden ist, sind mithin nicht komplex; die Argumente der Klägerin sind
nicht geeignet, diese Schlussfolgerung in Frage zu stellen.
70
Was sodann die Dauer und den Umfang der Praxis der deutschen Zollbehörden angeht,
macht die Klägerin geltend, in Deutschland bestehe eine allgemeine Praxis dahin
gehend,
dass
die
deutschen
Zollbehörden
die
erste
Vorlage
von
Agrarursprungszeugnissen – sei es bei der Einlagerung von Einfuhrpartien in Zolllager,
sei es bei ersten Abfertigungen zum freien Verkehr von Teilpartien aus Einfuhrpartien –
ausreichen ließen, die Vorlagefrist für die Gesamtpartie zu wahren, auf die sich das
jeweilige Ursprungszeugnis bezogen habe. Diese Praxis sei im Übrigen allen
Mitgliedern des Fachverbands Waren-Verein der Hamburger Börse e. V., eines
Verbands, der die Interessen des Außen- und Großhandels mit Konserven,
Tiefkühlprodukten, Trockenfrüchten, Schalenobst, Trockengemüse, Gewürzen, Honig,
Bio-Produkten und verwandten Waren vertrete, bekannt. Die Klägerin beruft sich
insoweit auf das Urteil des Gerichtshofs vom 1. April 1993, Hewlett Packard France
(C‑250/91, Slg. 1993, I‑1819, Randnr. 27).
71
Die Kommission bestreitet, dass es eine solche allgemeine Praxis gab; sie stützt sich
dabei im Wesentlichen auf das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom
12. Januar 2011 und das Schreiben der Klägerin vom 11. Juli 2011. Außerdem habe die
Klägerin eingeräumt, dass sie eine solche Praxis nur bei drei Hauptzollämtern belegen
könne, nämlich Hamburg-Stadt, Hamburg-Hafen und Duisburg (Deutschland).
72
Hierzu ist erstens festzustellen, dass aus Abschnitt 2 Buchst. a und Abschnitt 4 Abs. 1
des Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen vom 12. Januar 2011 hervorgeht,
dass weder die deutschen Zollbehörden, die die genannte Praxis übten, noch die ihnen
übergeordneten deutschen Behörden die irrige Rechtsauffassung, auf der die Praxis bei
den Agrarursprungszeugnissen fußte, jemals bestätigt hätten.
73
Abschnitt 2 Buchst. a des Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen vom 12.
Januar 2011 lautet:
„Es kann nicht festgestellt werden, dass in Deutschland eine allgemeine, bundesweite
Praxis bestand, derzufolge die erste Vorlage von Agrarursprungszeugnissen – sei es bei
der Einlagerung von Einfuhrpartien in Zolllager, sei es bei ersten Abfertigungen zum
zollrechtlich freien Verkehr von Teilpartien aus Einfuhrpartien – zur Wahrung der 10-
monatigen Vorlagefrist für die Gesamtpartie als ausreichend angesehen wurde. Eine
Anweisung für die Zollverwaltung mit einem solchen Inhalt bestand zu keinem Zeitpunkt.
Auch ist eine derartige Auslegung der Vorschriften den Wirtschaftsbeteiligten nicht
schriftlich mitgeteilt worden.“
74
Abschnitt 4 Abs. 1 des Schreibens des Ministeriums der Finanzen vom 12. Januar 2011
lautet:
„Auch die betroffenen Hauptzollämter haben ihre irrige Rechtsauffassung der
[Antragstellerin] niemals ausdrücklich schriftlich mitgeteilt.“
75
Zweitens wird dies bestätigt durch den ersten Satz von Abschnitt 3.2 des Schreibens
der Klägerin vom 11. Juli 2011, in dem sie einräumt, dass „die deutsche Zollverwaltung
diese Auslegung den beteiligten Importeuren nicht gesondert schriftlich mitgeteilt [hat]“.
76
Drittens hat die Kommission zutreffend festgestellt, dass die Klägerin in der Klageschrift
ausführt, sie könne „nicht belegen, dass weitere deutsche Zollstellen außer den von ihr
genannten drei Hauptzollämtern diese Abfertigungspraxis angewandt haben“.
77
Viertens ist zur Behauptung der Klägerin, die Praxis sei in durchaus erheblicher Weise
gehandhabt worden, festzustellen, dass den zehn Zollanmeldungen, die Überführungen
von Waren aus dem Zolllager in den freien Verkehr außerhalb der Gültigkeitsdauer der
Agrarursprungszeugnisse darstellen, mehrere Zollanmeldungen gegenüberstehen,
welche die Überführungen von Waren aus dem Zolllager in den freien Verkehr innerhalb
der Gültigkeitsdauer betreffen (vgl. die Rückseiten der von der Klägerin vorgelegten
Agrarursprungszeugnisse). Daher ist nicht erwiesen, dass die Praxis in erheblicher
Weise gehandhabt worden wäre.
78
Fünftens macht die Klägerin auch geltend, sie habe sich in der Rechtmäßigkeit der
irrigen Praxis der betroffenen deutschen Zollbehörden betreffend das Zolllagerverfahren
dadurch bestätigt gefühlt, dass dieselben Zollbehörden Freihafen- bzw. Freizonenfälle
unterschiedlich gehandhabt hätten. Hierzu ist festzustellen, dass die Tatsache, dass die
betroffenen deutschen Zollbehörden bei dieser Gestellung zur Überführung in den freien
Verkehr bei Freizonen ein gültiges Agrarursprungszeugnis verlangten, bei Zolllagern
hingegen nicht, die Klägerin selbst bei ihrer fälschlichen Annahme betreffend die
Gestellung dazu hätte verleiten müssen, die Richtigkeit dieser Praxis zu bezweifeln, wie
die Kommission zu Recht geltend macht.
79
Sechstens ist zur Anwendbarkeit des Urteils Hewlett Packard France (oben in
Randnr. 70 angeführt) festzustellen, dass sich der vorliegende Sachverhalt von dem der
Rechtssache unterscheidet, in der dieses Urteil ergangen ist. Im vorliegenden Fall wurde
weder dem Waren-Verein der Hamburger Börse noch einem seiner Mitglieder eine
verbindliche Zollauskunft erteilt, und die Praxis betrifft nur bestimmte deutsche
Zollbehörden (siehe oben, Randnrn. 73 und 74). Die bloße Kenntnis einer von manchen
Zollbehörden geübten Praxis kann in ihrer Qualität nicht an eine verbindliche
Zollauskunft heranreichen. Im Übrigen kann sich die Klägerin nicht darauf stützen, dass
der Waren-Verein der Hamburger Börse als eine Unternehmensgruppe im Sinne einer
wirtschaftlichen Einheit anzusehen sei; es handelt sich nämlich um einen Fachverband,
wirtschaftlichen Einheit anzusehen sei; es handelt sich nämlich um einen Fachverband,
der die Interessen eines ganzen Wirtschaftszweigs vertritt.
80
Entgegen dem Vorbringen der Klägerin ist somit festzustellen, dass in Deutschland
weder eine allgemeine Praxis noch eine Praxis in großem Umfang existiert.
– Zur anzuwendenden Sorgfalt
81
Die Klägerin gibt an, ihre Gutgläubigkeit sei nie bezweifelt worden, und sie habe ihre
Sorgfaltspflicht erfüllt. Zwar obliege es grundsätzlich den Wirtschaftsbeteiligten, die für
ihre Geschäfte geltenden Vorschriften ausfindig zu machen; angesichts der komplexen
Rechtslage und der langjährigen Praxis der deutschen Zollbehörden könne sie aber
schutzwürdiges Vertrauen beanspruchen.
82
Nach Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 4 des Zollkodex kann der Abgabenschuldner
Gutgläubigkeit geltend machen, wenn er darlegen kann, dass er sich während der Zeit
des betreffenden Handelsgeschäfts mit gebotener Sorgfalt vergewissert hat, dass alle
Voraussetzungen für eine Präferenzbehandlung erfüllt worden sind.
83
Ein Wirtschaftsteilnehmer muss sich, sobald er Zweifel an der richtigen Anwendung der
Vorschriften hat, deren Nichterfüllung eine Abgabenschuld begründen kann, nach
Kräften informieren, um die jeweiligen Vorschriften nicht zu verletzen (Urteile des
Gerichtshofs Söhl & Söhlke, oben in Randnr. 45 angeführt, Randnr. 58, und vom 13.
September 2007, Common Market Fertilizers/Kommission, C‑443/05 P, Slg. 2007,
I‑7209, Randnr. 191).
84
Sowohl wegen der Erfahrung der Klägerin (siehe oben, Randnr. 46) als auch wegen der
Art des Irrtums der deutschen Zollbehörden (siehe oben, Randnrn. 69 und 80) hätte die
Klägerin Zweifel an der richtigen Anwendung der im vorliegenden Fall einschlägigen
Vorschriften haben müssen.
85
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Praxis bestimmter deutscher Zollbehörden,
die Gültigkeit der Ursprungszeugnisse für Waren bei der Einlagerung ins Zolllager,
jedoch nicht mehr bei der Auslagerung und Überführung in den freien Verkehr zu prüfen,
anerkanntermaßen dem Interesse der Wirtschaftsbeteiligten entsprach, denn sie
erwarben damit mehr Zeit, um über ihre Waren im Zolllager zu disponieren. Sie waren
nicht mehr durch die zeitliche Begrenzung der Gültigkeit der Ursprungszeugnisse
beschränkt, wenn sie ihre Waren unter Ausnutzung der handelspolitischen Vorteile aus
dem Zolllager in den freien Verkehr überführen wollten. Unter solchen Umständen hätte
sich ein sorgfältiger Wirtschaftsbeteiligter jedoch nicht darauf beschränken dürfen, seine
Waren weiter außerhalb der Gültigkeitsdauer des Agrarursprungszeugnisses in den
freien Verkehr unter Inanspruchnahme des Kontingentsatzes zu überführen, nur weil
diese Praxis von einigen Zollbehörden akzeptiert wurde. Eine solche Fahrlässigkeit
zuzulassen, liefe, wie die Kommission zu Recht geltend macht, darauf hinaus, die
Wirtschaftsbeteiligten zu ermutigen, Irrtümer ihrer Zollbehörden auszunutzen (vgl. in
diesem Sinne Urteil Heuschen & Schrouff Oriëntal Foods Trading/Kommission, oben in
Randnr. 45 angeführt, Randnr. 64).
86
Die Klägerin ist mithin nicht mit der gebotenen Sorgfalt vorgegangen, da sie sich damit
begnügt hat, bei der Auslagerung ihrer Waren zur Überführung in den freien Verkehr eine
Reaktion der betreffenden deutschen Zollbehörden abzuwarten. Wie die Kommission zu
Recht geltend macht, konnte der Umstand, dass die deutschen Zollbehörden sich nicht –
oder erst zu einem späteren Zeitpunkt – informiert haben, die Klägerin nicht von eigenen
Anstrengungen entlasten.
87
Folglich ist das zweite Tatbestandsmerkmal von Art. 220 Abs. 2 Buchst. b des Zollkodex
nicht erfüllt.
88
Der erste Klagegrund ist demnach insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 239 des Zollkodex
89
Art. 239 Abs. 1 des Zollkodex lautet:
„(1) Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben können in anderen als den in den Artikeln 236, 237
und 238 genannten Fällen erstattet oder erlassen werden; diese Fälle
– werden nach dem Ausschussverfahren festgelegt;
– ergeben sich aus Umständen, die nicht auf betrügerische Absicht oder
offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten zurückzuführen sind. Nach dem
Ausschussverfahren wird festgelegt, in welchen Fällen diese Bestimmung
angewandt werden kann und welche Verfahrensvorschriften dabei zu beachten
sind. Die Erstattung oder der Erlass kann von besonderen Voraussetzungen
abhängig gemacht werden.“
90
Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, die Kommission habe einen Rechtsfehler
begangen, indem sie von einer eigenständigen Prüfung von Art. 239 des Zollkodex
Abstand genommen und den Erlass nach dieser Regelung versagt habe, da die Irrtümer
der deutschen Zollbehörden im Sinne von Art. 220 Abs. 2 Buchst. b des Zollkodex
allgemein als „besondere Umstände“ im Sinne von Art. 239 des Zollkodex anerkannt
würden und der Irrtum für die in gutem Glauben und mit der gebotenen Sorgfalt
handelnde Klägerin im Sinne von Art. 220 Abs. 2 Buchst. b des Zollkodex nicht
erkennbar gewesen sei.
91
Die Kommission führt aus, es könne Umstände geben, unter denen ein Absehen von
der Zollschuld nach Art. 220 Abs. 2 Buchst. b des Zollkodex nicht gerechtfertigt, aber ein
Erlass der Zollschuld nach Art. 239 des Zollkodex vorzunehmen sei. Sie fügt hinzu,
entgegen den Behauptungen der Klägerin habe sie im Verfahren REM 02/09 das
Vorliegen der Voraussetzungen nach Art. 239 des Zollkodex eigenständig geprüft.
92
Hierzu ist zunächst festzustellen, dass die Verfahren gemäß den Art. 220 und 239 des
Zollkodex das gleiche Ziel verfolgen, nämlich die Nachzahlung von Eingangs- oder
Ausfuhrabgaben auf Fälle zu beschränken, in denen eine solche Zahlung gerechtfertigt
und mit einem so wesentlichen Grundsatz wie dem des Vertrauensschutzes vereinbar ist
(Urteile Hewlett Packard France, oben in Randnr. 70 angeführt, Randnr. 46, und Söhl &
Söhlke, oben in Randnr. 45 angeführt, Randnr. 54).
93
Daraus folgt, dass die Tatbestände dieser Artikel – u. a. bei Art. 239 Abs. 1 zweiter
93
Daraus folgt, dass die Tatbestände dieser Artikel – u. a. bei Art. 239 Abs. 1 zweiter
Gedankenstrich des Zollkodex das Fehlen der offensichtlichen Fahrlässigkeit des
Beteiligten und bei Art. 220 des Zollkodex das Fehlen eines Irrtums der Zollbehörden,
der vom Abgabenschuldner vernünftigerweise erkannt werden konnte – in gleicher
Weise ausgelegt werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil Söhl & Söhlke, oben in
Randnr. 45 angeführt, Randnr. 54).
94
Bei der Beurteilung, ob einem Wirtschaftsteilnehmer „offensichtliche Fahrlässigkeit“ im
Sinne von Art. 239 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Zollkodex vorzuwerfen ist, sind
daher die im Rahmen von Art. 220 des Zollkodex für die Prüfung, ob der Irrtum der
Zollbehörden für einen Wirtschaftsteilnehmer erkennbar war, herangezogenen Kriterien
entsprechend anzuwenden (Urteile des Gerichtshofs Söhl & Söhlke, oben in Randnr. 45
angeführt, Randnrn. 55 und 56, und vom 13. März 2003, Niederlande/Kommission,
C‑156/00, Slg. 2003, I‑2527, Randnr. 92).
95
Das Vorbringen der Klägerin ist unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen
zu prüfen.
96
Die Frage, ob die Kommission im vorliegenden Fall die Anwendbarkeit von Art. 239 des
Zollkodex geprüft hat, ist anhand des angefochtenen Beschlusses zu klären.
97
In Randnr. 16 des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission ausgeführt, dass
der vorliegende Fall im Licht von Art. 236 in Verbindung mit Art. 220 Abs. 2 Buchst b und
sodann erforderlichenfalls gemäß Art. 239 des Zollkodex geprüft werden müsse, da sich
der Antrag auf Erstattung der Abgaben darauf stütze, dass den zuständigen deutschen
Behörden ein Irrtum im Sinne von Art. 220 Abs. 2 Buchst. b des Zollkodex unterlaufen
sei.
98
Erstens hat die Kommission in den Randnrn. 18 und 19 des angefochtenen
Beschlusses einen Irrtum der deutschen Zollbehörden im Sinne von Art. 220 Abs. 2
Buchst. b des Zollkodex festgestellt.
99
Zweitens hat die Kommission das Tatbestandsmerkmal der fehlenden Erkennbarkeit
dieses Irrtums durch den in gutem Glauben handelnden Abgabenschuldner geprüft
(Randnrn. 20 bis 32 des angefochtenen Beschlusses). Im Einklang mit der in den
Randnrn. 92 bis 94 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hat sie die
fachliche Erfahrung der Klägerin (vgl. Randnr. 24 des angefochtenen Beschlusses), die
Art des Irrtums (vgl. Randnrn. 25 bis 29 des angefochtenen Beschlusses) und die
Sorgfalt der Klägerin (vgl. Randnrn. 30 bis 32 des angefochtenen Beschlusses)
berücksichtigt. Aufgrund dieser Prüfung ist die Kommission zu der Auffassung gelangt,
dass die Klägerin nicht mit der gebotenen Sorgfalt vorgegangen sei und den Irrtum der
deutschen Zollbehörden hätte erkennen können (vgl. Randnr. 33 des angefochtenen
Beschlusses).
100
Drittens heißt es in Randnr. 34 des angefochtenen Beschlusses:
„Die Kommission hat alle vom Beteiligten gemäß Artikel 220 Absatz 2 Buchstabe b [des
Zollkodex] angeführten Argumente geprüft und keine anderen Hinweise darauf
gefunden, dass eine Prüfung des Falls gemäß Artikel 239 [des Zollkodex] gerechtfertigt
wäre. Davon abgesehen gelten für die Feststellung, ob der Irrtum für einen in gutem
wäre. Davon abgesehen gelten für die Feststellung, ob der Irrtum für einen in gutem
Glauben handelnden Wirtschaftsbeteiligten erkennbar war, dieselben Kriterien wie für
die Feststellung, ob [dieser Wirtschaftsbeteiligte] offensichtlich fahrlässig im Sinne von
Artikel 239 [des Zollkodex] gehandelt hat, weshalb es nicht erforderlich ist, den Fall
gemäß Artikel 239 [des Zollkodex] weiter zu prüfen.“
101
Das Gericht hat im Rahmen des ersten Klagegrundes bereits festgestellt, dass die
Kommission der Klägerin zu Recht vorgeworfen hat, nicht mit der gebotenen Sorgfalt
vorgegangen zu sein. Folglich hat die Klägerin auch offensichtlich fahrlässig gehandelt.
102
Zum Vorliegen besonderer Umstände ist festzustellen, dass der Abgabenpflichtige nach
Art. 239 des Zollkodex unter zwei Voraussetzungen Anspruch auf Erstattung oder Erlass
der Zollabgaben hat: Es müssen besondere Umstände vorliegen, und der
Abgabenpflichtige darf nicht offensichtlich fahrlässig oder in betrügerischer Absicht
gehandelt haben. Da das Fehlen offensichtlicher Fahrlässigkeit demnach eine
unabdingbare Voraussetzung der Erstattung oder des Erlasses von Einfuhr- oder
Ausfuhrabgaben ist (Urteile Söhl & Söhlke, oben in Randnr. 45 angeführt, Randnr. 52,
und Heuschen & Schrouff Oriëntal Foods Trading/Kommission, oben in Randnr. 45
angeführt, Randnr. 60) und zwischen den beiden genannten Voraussetzungen keine
Hierarchie besteht, so dass eine vorrangig zu prüfen wäre, konnte die Kommission sich
auf die Feststellung beschränken, dass diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, ohne vorher
die Voraussetzung des Vorliegens besonderer Umstände zu prüfen.
103
Da die zweite Voraussetzung im vorliegenden Fall nicht erfüllt war, war die Kommission
nicht verpflichtet, die erste Voraussetzung des Vorliegens besonderer Umstände zu
prüfen. Im Übrigen kann das Vorliegen besonderer Umstände den Wirtschaftsteilnehmer
grundsätzlich nicht von den Folgen seiner eigenen Fahrlässigkeit entbinden (Urteil
Heuschen & Schrouff Oriëntal Foods Trading/Kommission, oben in Randnr. 45
angeführt, Randnr. 65).
104
Die Kommission war daher berechtigt, die Anwendung von Art. 239 des Zollkodex
abzulehnen.
105
Folglich ist der zweite Klagegrund zurückzuweisen.
Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen allgemeine Rechtsgrundsätze
106
Die Klägerin wirft der Kommission vor, mit dem angefochtenen Beschluss gegen den
Grundsatz des Vertrauensschutzes, das Verhältnismäßigkeitsprinzip, den Grundsatz
ordnungsgemäßer Verwaltung und den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen zu
haben.
107
Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
Erster Teil des Klagegrundes: Grundsatz des Vertrauensschutzes
108
Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, in Verkennung des – ihr berechtigtes
Vertrauen begründenden – Verhaltens der deutschen Zollbehörden habe die
Kommission gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen.
109
Sie führt aus, die Zollbehörden hätten sie in einer Vielzahl von Fällen – schon in der
Zeit vor den hier in Rede stehenden Einfuhren – durch konkretes
vertrauensbegründendes Verhalten in ihrer Rechtsauffassung bestätigt, wonach die erste
Vorlage von Agrarursprungszeugnissen bei der Einfuhr von Pilzkonserven aus China
entweder bei der Einlagerung von Einfuhrpartien in Zolllager oder bei ersten
Abfertigungen von Teilpartien zum freien Verkehr ausgereicht habe, die Vorlagefrist für
die Gesamtpartie zu wahren, auf die sich das jeweilige Ursprungszeugnis bezogen
habe.
110
Nach der Rechtsprechung kann sich jeder auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes
berufen, der sich in einer Lage befindet, aus der hervorgeht, dass die Unionsverwaltung
bei ihm durch präzise Zusicherungen begründete Erwartungen geweckt hat (vgl. Urteil
des Gerichtshofs vom 24. März 2011, ISD Polska u. a./Kommission, C‑369/09 P,
Slg. 2011, I‑2011, Randnr. 123 und die dort angeführte Rechtsprechung). Hingegen kann
niemand eine Verletzung dieses Grundsatzes geltend machen, dem ein Unionsorgan
keine konkreten Zusicherungen gegeben hat (vgl. in diesem Sinne Urteil des
Gerichtshofs vom 7. April 2011, Griechenland/Kommission, C‑321/09 P, nicht in der
amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 45).
111
Im vorliegenden Fall macht die Klägerin aber kein Verhalten geltend, mit dem die
Kommission ihr präzise Zusicherungen gegeben hätte, sondern beruft sich lediglich auf
Verhaltensweisen der deutschen Zollbehörden.
112
Der erste Teil des Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen den Grundsatz des
Vertrauensschutzes gerügt wird, ist folglich zurückzuweisen.
Zweiter Teil des Klagegrundes: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
113
Die Klägerin macht geltend, wenn die Kommission in Randnr. 32 des angefochtenen
Beschlusses die Ansicht vertrete, dass eine gründliche Prüfung des dem Finanzgericht
Hamburg vorgelegten Falls und der Begründung für die Einleitung einer
Nacherhebungsmaßnahme durch die deutschen Behörden sie hätte veranlassen
müssen, die Ordnungsmäßigkeit des im vorliegenden Fall für die betreffenden Einfuhren
angewendeten Verfahrens in Frage zu stellen, so überziehe die Kommission damit die
an einen Wirtschaftsbeteiligten zu stellenden Sorgfaltsanforderungen. Sie fügt hinzu, die
Kommission bürde ihr „hierdurch unverhältnismäßige Sorgfaltspflichten auf und fordert
ihr mehr ab, als vorliegend die beteiligten Hauptzollämter und selbst das BMF zu leisten
imstande waren“.
114
Die Überspannung der Sorgfaltsanforderungen an die Wirtschaftsteilnehmer stelle
einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dar.
115
Es ist festzustellen, dass angesichts der langjährigen Erfahrung der Klägerin, ihrer
Kenntnis der einschlägigen Vorschriften und der Art des in Rede stehenden Irrtums der
Sorgfaltsmaßstab, den die Kommission angelegt hat, um die Wirtschaftsbeteiligten nicht
zu ermutigen, Irrtümer der zuständigen Zollbehörden auszunutzen, nicht überzogen.
116
Im Übrigen verstößt die Nacherhebung, wenn die Anwendungsvoraussetzungen von
Art. 220 Abs. 2 Buchst. b des Zollkodex nicht erfüllt sind, nicht gegen den Grundsatz der
Art. 220 Abs. 2 Buchst. b des Zollkodex nicht erfüllt sind, nicht gegen den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit (vgl. entsprechend Urteil des Gerichts vom 30. November 2006,
Heuschen & Schrouff Oriëntal Foods Trading/Kommission, T‑382/04, nicht in der
amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 111 und die dort angeführte
Rechtsprechung). Ebenso stellt auch die Ablehnung des Erlasses der streitigen
Abgaben, wenn die Anwendungsvoraussetzungen von Art. 239 des Zollkodex nicht
erfüllt sind, keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dar.
117
Der zweite Teil des Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit gerügt wird, ist folglich zurückzuweisen.
Dritter Teil des Klagegrundes: Grundsätze der ordnungsgemäßen Verwaltung und der
Gleichbehandlung
118
Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe mit dem angefochtenen Beschluss
gegen den Grundsatz ordnungsgemäßer Verwaltung und den Grundsatz der
Gleichbehandlung verstoßen, indem sie von ihrer eigenen Entscheidungspraxis in
vergleichbaren Fällen abgewichen sei.
119
Hierzu ist festzustellen, dass die Klägerin davon ausgeht, dass sich der Verstoß gegen
den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung aus dem Verstoß der Kommission
gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung ergibt. Folglich ist zunächst der gerügte
Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung und dann der Verstoß gegen den
Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung zu prüfen.
120
Zum gerügten Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung ist festzustellen,
dass ein Verstoß gegen diesen Grundsatz nach ständiger Rechtsprechung nur dann
vorliegt, wenn vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich oder unterschiedliche
Sachverhalte gleichbehandelt werden, es sei denn, dass eine solche Differenzierung
objektiv gerechtfertigt ist (Urteil des Gerichtshofs vom 13. Dezember 1984, Sermide,
106/83, Slg. 1984, 4209, Randnr. 28, und Urteil des Gerichts vom 14. Mai 1998, BPB de
Eendracht/Kommission, T‑311/94, Slg. 1998, II‑1129, Randnr. 309).
121
Die Klägerin kann nicht nachvollziehen, warum vorliegend in einem Fall, in dem die
nationalen Behörden ebenfalls über einen langen Zeitraum wiederholt denselben Fehler
gemacht hätten, kein Vertrauensschutz gewährt werden solle.
122
Die Kommission räumt ein, dass sie in bestimmten Fällen ein Absehen bzw. einen
Erlass von Zollschulden anerkannt habe, weil in diesen Fällen von den betroffenen
Wirtschaftsbeteiligten nicht zu erwarten gewesen sei, dass sie die wahre Rechtslage
hätten erkennen können. Die unterschiedliche Behandlung der Klägerin und der in
diesen Fällen betroffenen Wirtschaftsbeteiligten sei jedoch gerade darin begründet, dass
die Kommission bei Prüfung der Komplexität der Vorschriften, deren Nichterfüllung die
Zollschuld begründe, sowie der fachlichen Erfahrung und der Sorgfalt der jeweiligen
Wirtschaftsbeteiligten zu verschiedenen Ergebnissen gekommen sei. Außerdem habe
die Klägerin lediglich bekräftigt, dass die nationalen Zollbehörden in den genannten
Fällen wiederholt Fehler gemacht hätten, ohne Angaben dazu zu machen, wie sich die
anderen Wirtschaftsteilnehmer angesichts dieser Fehler verhalten hätten und inwieweit
deren Verhalten ihrem eigenen entspreche.
deren Verhalten ihrem eigenen entspreche.
123
Wie die Prüfung des ersten Klagegrundes ergeben hat, unterscheidet sich der
Sachverhalt der von der Klägerin angeführten Entscheidungen, wie die Kommission
geltend macht, deutlich von dem des vorliegenden Falls, so dass sich die Klägerin nicht
mit Erfolg auf diese Rechtssachen berufen kann, um einen Verstoß gegen den
Grundsatz der Gleichbehandlung darzutun.
124
Deshalb braucht über die Begründetheit des Vorwurfs eines Verstoßes gegen den
Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung, der darin bestehen soll, dass die
Kommission von ihrer früheren Entscheidungspraxis abgewichen sei, nicht entschieden
zu werden.
125
Der dritte Klagegrund ist somit als unbegründet zurückzuweisen.
126
Folglich ist die Klage insgesamt abzuweisen.
Kosten
127
Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf
Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr
gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2 . Die Wünsche Handelsgesellschaft International mbH & Co. KG trägt die
Kosten.
Czúcz
Labucka
Gratsias
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 12. November 2013.
Unterschriften
Verfahrenssprache: Deutsch.